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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1986 erschienen.

Systematik

Abtreibung, Retortenbabies, Sterbehilfe
RECHT UND MORAL VOR DEN LETZTEN FRAGEN

Die letzten Fragen geistern durch die Öffentlichkeit. Politiker, Richter, Ärzte, Bischöfe, Philosophen, Joumalisten ereifern sich über die "Grenzfragen", als gelte es, ein dringliches Menschheitsproblem zu lösen, damit endlich Sicherheit einkehre ins tägliche Leben und Sterben.

Ist die befruchtete menschliche Eizelle ein "himbeerähnliches Gebilde" und eine "wuchernde Substanz der ersten Stunde"? Oder "nach wissenschaftlichen Erkenntnissen volles menschliches Leben"? Was sind die "ethischen Dimensionen" der "in-vitro-Fertilisation"? Ist die "Zeugung von Leben in der Hand von Dritten" ethisch-vertretbar? Wenn ja, auch mit anonymen Samenspendern, bei alleinstehenden Frauen, mit Leihmutter? Haben "tote menschliche Embryonen und Föten" eine "unantastbare Menschenwürde"? Muß deshalb der Paragr. 168 StGB ("Störung der Totenruhe") um den "Schutz vor der unbefugten Wegnahme menschlicher Embryos und Föten" erweitert werden? Wo liegen die Grenzmarken bei der "juristischen Gratwanderung" zwischen straffreier "Beihilfe zum Selbstmord" und strafbarer "Tötung auf Verlangen"? Woher rühren eigentlich diese "Probleme" und wie sehen ihre "Lösungen" aus?

Die Sache mit dem Leben, Sterben, Kinderkriegen

einmal nicht gleich rechtsdogmatisch und moraltriefend betrachtet, ist keine so schwierige und vor allem so weltbewegende Angelegenheit. Was sich da im Mutterbauch regt, ist Leben, bloßes Leben in seiner ganzen Erbärmlichkeit, ein (Teil-)Organismus, bald mit etwas Empfindung und Motorik ausgestattet, aber alles andere als ein Mensch mit Willen und Bewußtsein. Der Bauch dagegen gehört zu einem menschlichen Wesen, das mit beiden Beinen schon länger im Leben steht, seinen Umständen entsprechend (nicht) auf seine Kosten kommt und sich seine eigenen Gedanken und Wünsche hält. Im umstrittenen, nur allzu häufigen Fall ziemlich kinderfeindliche Gedanken. Die potentielle Mutter will nämlich oft keine werden - ein nur allzu verständlicher Wunsch angesichts der eigenen Lebensaussichten mit Kind und der Aussichten fürs Kind. Viel verständlicher jedenfalls als die Sucht kinderloser Paare nach einem gemeinsamen, möglichst leibeigenen Familienkitt und Lebenssinn. Die Medizin bietet alle Möglichkeiten, sich vor der 'naturgegebenen' Folge unbedachten Lust- und Liebesspiels zu bewahren, das Wesen in der Gebärmutter weiß von allem nichts und verlangt nichts. Also alles klar.

Was den umgekehrten Fall, das Kinderkriegen angeht, läßt sich dagegen manches einwenden. Es kostet, es verpflichtet, es hält von vielem ab... Wenn zivilisierte Zeitgenossen, auch und gerade bei natürlichen Schwierigkeiten, um keinen Preis darauf verzichten wollen, sondern verrückt nach einem Kind sind, so ist das erstens psychologisch zu erklären, wenn auch nicht zu verstehen: Sie meinen, sie seien ohne weniger wert, ihnen fehlte Entscheidendes, sie müßten sich im Kind verewigen - denken also durch und durch familienkonform. Zweitens ist der dringliche Wunsch nach einem eigenen, leiblichen Nachkommen leider ziemlich gewöhnlich und staatsgenehm. Drittens nehmen es besagte Leute wegen ihrer Manie im Zweifelsfall mit dem 'leiblich' nicht so ganz genau und ersetzen ihre Defekte durch Samen oder Bauch Dritter oder einfach durch Medizinerhand - und machen sich dann womöglich hinterdrein ein Problem, ob ihr Kind auch echt 'ihres' ist. Für die Verwirklichung dieses blöden Lebensprogramms gibt sich die Medizin mit Begeisterung her und vervollkommnet ständig die Mittel. Im übrigen wäre es - wenn es schon ohne Kind nicht abgehen soll - natürlich einfacher und vernünftiger, eins zu adoptieren. Es gibt sowieso mehr als genug. Andererseits gibt es Schlimmeres als die privaten Verrücktheiten von fanatischen Eltern, die nach getaner Tat mit der bangen Frage, ob sich der Aufwand denn auch gelohnt habe, ihre Psychotour fortpflanzen.

Was endlich das freiwillige Sterben betrifft, so fällt da einer für sich das Urteil, daß sich das bloße Leben um seiner selbst willen nicht lohnt, daß es also schon darauf ankommt, was man davon hat - und entscheidet die Prüfung aus verständlichen Gründen negativ. Man mag zwar darüber streiten, ob nicht die Frage, warum man unter normalen Umständen so wenig vom Leben hat, wer die Bedürfnisse in Schranken weist und wie man sich dagegen wehrt, vernünftiger und früher am Platz gewesen wäre. Sicher geht es längst nicht mehr um Materialismus oder Idealismus, wenn man unter solchen Bedingungen den Tod wählt. Wenn's unheilbar und mit Schmerzen zuende geht, wenn also wirklich nichts mehr geht, dann sind solche Unterscheidungen ziemlich akademisch.

Was soll also eigentlich dabei sein, Ungeborene am Leben zu hindern; was eigentlich so problematisch daran, Hilflosen, die nicht mehr leiden wollen, aus dem Leben zu helfen? Schließlich beweisen doch beide Fälle gerade die Armseligkeit der Kategorie Leben an und für sich. Zudem handelt es sich von Haus aus um ziemlich abseitige Fälle, wenn nämlich das Leben noch gar nicht richtig angefangen hat oder schon so gut wie vorbei ist. Fraglich, strittig und bedenklich werden solche 'Grenzsituationen' jenseits und abseits der tagtäglichen Lebensbewältigung nur, wenn das Leben als Prinzip höher als der Wille und damit gegen den Willen dessen gestellt wird, der da gerade die Bedingungen und Umstände seines Lebens, also die Frage nach dem Wie seines Lebens ins Feld führt. Genau darum aber geht es in dem öffentlichen Streit. Diskutiert werden Ungeborene, nicht ganz normal Gezeugte und Sterbewillige nämlich als

Grenzfälle des Rechts auf Leben

Wenn sich Politik und Öffentlichkeit für das Leben stark machen, dann ist das von Haus aus eine Heuchelei, allerdings eine bezeichnende. Heuchelei, weil bekanntlich die höchsten Instanzen mit allgemeiner Zustimmung alles andere als zimperlich beim Verfügen über Leib und Leben sind. Bezeichnend schon deshalb, weil in diesem Fall der Streitgegenstand - das 'Leben' ausgerechnet, wenn es noch ganz willenlos ist oder wenn es nicht mehr gewollt wird - darauf beruht, daß die Wünsche der Lebenden gerade nicht zählen, und zwar auch dort nicht, wo sie in dieser Debatte zum Argument gemacht werden. Das hat das Rechtsgut 'Leben' so an sich.

Hierzulande hat man ein "Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit". Dieses Recht gewährt der Staat; und als Stifter der Regel behält er sich gleich die Ausnahme vor: "In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden." Damit steht erst einmal grundsätzlich fest, daß jede staatliche Gewalttat legal ist, wenn er sie sich erlaubt, daß aber umgekehrt für den privaten Wunsch nach Abkürzen des Sterbens oder Kinderverhindern der staatliche Gewaltvorbehalt gilt. Darüber, wann besagte Eingriffe in Ordnung gehen, entscheiden die Instanzen der Rechtspflege - und zwar achten sie dabei prinzipiell auf das staatliche Monopol im freien Umgang mit diesem Rechtsgut. Das ist im übrigen auch wenig umstritten, schon gar nicht, wen es um den Verteidigungsauftrag des Staates, bzw. des Bürgers für seinen Staat geht. Irgendwie zählt die Frage auf Leben und Tod hier seit jeher für entschieden, weil ja ohne die verteidigte Ordnung, und koste sie auch noch so viele Opfer, keiner mehr aufs Leben aufpassen könnte...

Wenn gegenwärtig unter Anleitung der christlichen Wende-Regierung ausgerechnet beim Abtreiben, beim alternativen Zeugen sowie beim vorzeitigen Abdanken eine muntere Definitionswut, das "Recht auf Leben" betreffend, in Gang gekommen ist, dann liegt das sicher nicht allein oder auch nur hauptsächlich an den Fortschritten der Medizin beim 'künstlichen Befruchten', an Hackethals manischer Öffentlichkeitssucht beim Sterbenhelfen oder gar daran, daß die Ärztementalität bei der Schwangerenberatung abtreibungsfreundlicher geworden wäre. Sicher, die Erfindungsgabe medizinischer Forschung beim Besamen, Embryogewebezüchten und -einpflanzen, hat ihren Teil dazu beigesteuert, daß wieder ein paar Gesetzeslücken geschlossen werden müssen. Sicher birgt das von Rechtsnatur aus manchen Zündstoff, zumal die Leihmutter aller Christen, Maria, die treue Magd, wenig zur Klärung im Paragraphendschungel beiträgt. So einfach ist es nämlich gar nicht, das Erlaubte immerzu vom Verbotenen zu scheiden, die Eigentumsverhältnisse zwischen Samenspender und gesetzlichem Vater, Leihmutter und Ziehmutter, erster, zweiter und dritter Hand am Reagenzglas zu klären, den Sach-, Personen- oder sonstigen Rechtsstatus von Embryonenmaterial frisch und tiefgekühlt zu definieren sowie den Schadenersatz bei vergeigten Retortenbabies und sonstige für einen Laien gar nicht auszudenkende Detailfragen zu regeln. Außerdem muß das neue Recht auch noch zum alten passen. Zivil- und strafrechtliche Kombinationsgabe ist da herausgefordert, weil ja nur "aufgrund eines Gesetzes eingegriffen" werden darf.

Bloß, all das wird freudig an die große öffentliche Glocke gehängt, gleich auch noch die längst geregelte Frage der Abtreibung aus Indikationsgründen wieder aufgeworfen und von Familien- und Justizministern ein ums andere Mal vom Detail ins Grundsätzliche und wieder rückwärts ins letzte Detail durchgekaut. Das ist nicht irgendeiner "Sache", einer praktischen Interessenkollision oder gar laufendem Verstoß oder Aufbegehren gegen staatliche Rechtsgewalt geschuldet, wenn Leute wie Geißler, Süßmuth, Engelhardt oder Schmude samt sachkundigem Publikum die Winkelzüge und Abgründe des "Rechts auf Leben" ausloten und rechtlichen "Handlungsbedarf" entdecken. Es ist genau umgekehrt. Allein die rechtstaatliche Regelungswut und die Absicht der Christenpolitiker, noch in den abseitigsten Bereichen privater und medizinischer Entscheidung die staatstragenden Grundsätze bezüglich des Rechts auf Leben ins öffentliche Bewußtsein zu rufen, sind der Ausgangspunkt der allgemeinen Aufregung über diese letzten Fragen. Die "Rechtssicherheit", die da angeblich immer erst noch unbedingt gestiftet werden muß, wird da erst einmal ausschließlich von oben vermißt, weil in den Chefetagen der politischen Gewalt die Ansprüche an eine anständige Einstellung der Bürger zum Leben-Schenken und Sterben gewachsen sind. Und weil in dieser Frage erstens die Grundsätze der Staatsmoral zur Debatte stehen und zweitens von Haus aus Raum für unterschiedliche Nutzenerwägungen bleibt, eben weil so recht kein praktisches Staatsanliegen auf dem Spiel steht, wird einerseits umso mehr um Prinzipien gestritten und die teilnehmende Menschheit für selbige agitiert. Andererseits paart sich damit prächtig die haarkleine Unterscheidungswut im Paragraphenwald, weil schließlich die Gültigkeit der Prinzipien und die staatliche Zuständigkeit bis ins letzte gesichert sein sollen. So verrückt die Debatte sich teilweise ausnimmt - das zeitgemäße Drängen der Politchristen und ihrer Opposition ist unübersehbar, am passenden Material das Volk aufzuklären und einzustellen auf

Ein paar allerletzte staatliche Lebensgrundsätze

Um gleich mit dem Letzten anzufangen. Die Frage nach einem "menschenwürdigen Leben" stellt sich als Frage nach dem Sterben, wenn es sich anerkanntermaßen wirklich nicht mehr normal leben läßt. Dann erst streiten sich die Freunde humanen Sterbens. Den Regierungschristen ist die Dialektik von Recht auf Leben und Pflicht, es für Höheres einzusetzen, besonders ans Herz gewachsen: Einerseits soll man nicht am Leben hängen, als sei es das höchste private Gut; dann aber, wenn man für sich keinen Sinn mehr darin sieht, soll die Pflicht gelten, es auch als Zumutung zu ertragen und nicht nach eigener Lust und Laune darüber zu verfügen. Die medizinischen und juristischen Sterbehilfefans denken da auch nicht anders. Bloß entdecken sie im Wunsch zum Sterben, wenn garantiert nichts mehr auf dem Spiel steht als der Durchhaltewille des Todkranken, ein ausnahmsweises Rechtsgut, das einen menschenfreundlichen Staat auszeichnet. Damit der letzte Hilfsdienst am Leben auch garantiert standes- und rechtsgemäß vonstatten geht, erfinden sie eigens einen Sittenkodex, wann und wie der Arzt ausschließlich tätig werden darf.

Was das Kinderkriegen angeht, zeigen sich die Väter der Wende nicht mehr zufrieden mit dem Grundsatz, daß im gesetzlichen Rahmen der "Indikations"lösung gegen das Kinderkriegen entschieden werden darf. Das war zwar noch nie ein Triumph des freien Willens, erscheint den staatlichen Nachwuchsplanern aber als ein Angriff auf die Gebärmoral. Ihnen fehlt es also an gesetzlichem Zwang und 'beratender' Agitation, auch möglichst auszutragen, was mehr oder weniger freiwillig in Gang gekommen ist. Zwar wollen sie nicht gleich das Gesetz ändern, aber wenigstens ihren neuen Geist des Gesetzes unters Volk bringen. Die fortschrittliche Süßmuth erinnert deswegen immer wieder daran, daß der Staat Abtreibung eigentlich mit Mord aus Anspruchsdenken gleichgesetzt und nur in bestimmten Fällen erlaubt hat. Grundsätzlich hält es das christlichsoziale Recht mit der "Gleichwertigkeit von geborenem und ungeborenem Leben", also mit der Verpflichtung der Frau, dem Nachwuchs zu dienen. Der Gedanke soll möglichst gar nicht erst aufkommen, der Staat erlaube die Abwägung, ob man ein Kind auch wolle. Er selber wägt die Abtreibungssitten seines Volkes und ihre sozialpolitische Regelung gegen sein Interesse an einer möglichst hohen Nachwuchsrate ab.

Das Äußerste, was sich dagegen an Kritik gemeldet hat, waren die Einwände des notorisch abtreibungsliberalen Verfassungsgerichtspräsidenten Zeidler, der schon immer die "Fristen"-Lösung gegenüber der "Indikations"-Lösung bevorzugt hat. Es steht jedenfalls viel zu gut um die Moral, wenn die Erlaubnis, sich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Abtreibung entschließen zu dürfen, als geradezu moral- und verfassungsgefährdende Sache gilt; wenn die Abwägung der Bereitschaft zum Kind durch offizielle Stellen als tendenzieller Anschlag auf die Gebärmoral angesehen wird; wenn die Verpflichtung der lebenden Menschheit gegenüber der unmögliihen Rechtskonstruktion eines personalen Lebewesens, das es noch gar nicht gibt, bei allen Alternativen der selbstverständlichste Ausgangspunkt ist.

Bei der Behandlung der medizinischen Methoden, dem Zeugen auf die Sprünge zu helfen, sind der Erfindungswahn von Rechtsproblemen und die Propagandawut von Grundwertepolitikern erst recht nicht mehr zu bremsen. Während sich Rechtskommissionen um die hinterletzten Abgrenzungen und juristischen Festlegungen kümmern und Mediziner unter ethischen Gesichtspunkten ihre Fortschritte machen und diskutieren und allenthalben munter über die furchtbaren Folgeprobleme moralisiert wird, sorgt die Christenmannschaft nach Kräften für die klaren und einfachen Grundsätze, die sie so liebt. So sehr die Kindermanie gefördert und geregelt gehört, die staatsgenehmen Familienprinzipien dürfen nicht über den Methoden der Familienplanung verloren gehen, die die Liebe zum Kind und zur Medizin gebiert. In der medizinischen Kunst wittern Regierungspolitiker, aber auch so fortschrittliche Oppositionsvertreter wie Lafontaine, "Künstlichkeit" und Gefahren für die "natürliche" Ethik, auf die die bürgerliche Familie gestellt sein soll. Deswegen gibt die Familienministerin immer wieder zu Protokoll, daß die Keimzelle des Staates auf das (Verantwortungs-)Gefühl gegründet ist und deshalb auch das fleißige eheliche Vögeln, Schwangerwerden und Vermehren die naturgemäße Weise ist, wie eine zivilisierte Gesellschaft sich fortpflanzt. Dagegen können Ärzte wiederum ganz zurecht darauf verweisen, daß sie sich ja nur für diesen hohen Zweck in das natürliche Befruchtungsgeschehen einmischen. Ein Dauerstreit; denn auf diesem Felde läßt sich nichts richtig oder falsch machen. Das ganze medizinische, rechtliche und ethische Brimborium ums Kind aus der Retorte muß nur so geregelt werden, wie es dem Staat unter Berücksichtigung aller Rechtsumstände am zweckmäßigsten und moralentsprechendsten erscheint.

Je mehr die Politik ihre Rechtsaufsicht über Leben und Sterben demonstriert, umso mehr blüht auf der anderen Seite auch

Die öffentliche Debatte zwischen lauter Anwälten des Lebens

Wenn erst einmal biologische Kenntnisse vom Leben, medizinisches Können in Sachen Keimzellen, staatliche Rechtsaufsicht über jede Zellansammlung und ethische Dogmen über den Grundwert Leben n eins gesetzt sind, dann debattiert es sich allenthalben prächtig über die Staatsanliegen mit dem Schein der Objektivität und Sachkunde. Ärzte wollen da z.B. medizinisch machbar, ethisch einwandfrei, gesellschaftlich nützlich und rechtlich eindeutig partout nicht richtig auseinanderhalten. Mit dem alten Faust-Problem "Dürfen wir machen, was wir können?" oder auch umgekehrt "Können wir mehr als wir dürfen?" verpflichten sie sich staatsverbunden auf ihre eingebildete Verantwortung. Das zählt genauso als sachlicher Beitrag wie ein öffentliches Bekenntnis, das Ideal des Helfens müsse auch fürs Sterben gelten, auch wenn der Gesetzgeber das nicht anerkennen wolle. Die mit lauter naturwissenschaftlichen (Vor-) Urteilen aufbereitete Frage nach dem Beginn des Lebens ist da ebenso unverzichtbar wie beliebig zu entscheiden, weil sie nur gestellt wird, um mit der Antwort 'objektiv' über ethische Implikationen entscheiden zu können. Zwischen null und drei Monaten werden alle Varianten samt den "Folgerungen" angeboten, je nachdem, ob man Zweifel am Abtreiben schüren will oder nicht: Umgekehrt läßt sich die verrückte Gleichung: 'Befruchtet = Zellteilung = Leben = werdende Person = zu schützendes Rechtssubjekt' auch in allen möglichen Filmvarianten zur staatsbürgerlichen Anschauung bringen und mit der irgendwie menschenähnlichen Gestalt und den Reaktionen so eines Gebildes im Mutterbauch 'beweisen' oder auch 'widerlegen'. Andere argumentieren weniger medizinisch als sozialhygienisch mit den Kosten oder Kostenersparnissen, die bei den Staatskassen durchs Abtreiben oder Sterbenlassen auf Intensivstationen anfallen. Das geht genauso als ernsthafte und ernstzunehmende Sorge um die Menschen durch wie das Totschlägerargument vom möglichen Mißbrauch gesetzlicher Bestimmungen. Die absurdesten Vorstellungen werden bemüht, um mit der Logik der Möglichkeit vor angeblichen Freiheiten zu warnen. Was, wenn ein Todkranker plötzlich doch wieder weitermachen will? Was, wenn Erben in einer schwachen Stunde den Opa zum Gift überreden? Was, wenn die verhinderte Mutter doch plötzlich das Kind hätte haben wollen und ihren Knacks weg hat?... So fühlt man sich je nach Absicht in die selbst- oder staatsverschuldeten denkbaren Sorgen und Nöte ein und läßt seiner Erfindungsgabe freien Lauf. Solche Warnungen beweisen nichts als das verbreitete Ideal, noch in diesen Privat- und Grenzbereichen der Rechtsdogmatik Verhaltenssicherheit herzustellen, also alles umstandslos der Staatsaufsicht zu unterstellen.

Wenn es schon mal um die Grundwerte geht, ist es kein Wunder, daß die moralische Phantasie je nach Berufsborniertheit mal mehr im ärztlichen, mal im richterlichen, mal im politischen Gewande geistiger Führung überschäumt und in den. feinen Unterscheidungen des öfteren wirklich keine staatsdienliche Notwendigkeit mehr zu entdecken ist. Dafür entdeckt die Kirche seelsorgerischen Handlungsbedarf und bringt die Logik des Lebens auf den nackten Begriff: Staatsdienst. SPD-Christen wie Schmude, seines Zeichens evangelischer Kirchenpräsident, posaunen da ins selbe Horn wie der Katholenvertreter Maier und sein geistlicher Kollege Höffner. Gemeinsam beten sie den elementaren Glaubenskatechismus als Beitrag zur Debatte vor: Leben = Gottesgeschenk = Mutterpflicht = Familienzusammenhalt = Persönlichkeitsentfaltung = Schöpfungsordnung und Staatszusammenhalt. Dafür haben sie so gute Gründe auf Lager wie die Zweieinigkeit von Moral und Natur, an der sich alles blamiert, was Kirche und Politik nicht in den Sittenkodex paßt: "Sittenwidrig und widernatürlich" ist ihnen prompt gegen die matten Angriffe Zeidlers eingefallen, der in der allzu wenig liberalen Definition der Pflicht zum Leben eine "Insel der Inhumanität" in unserer ansonsten so humanen rechtsstaatlichen Republik entdeckt haben wollte.

Wo das Verhältnis von Gewalt, Recht und Moral konsequent auf den Kopf gestellt ist und alle Welt von den Grundwerten rückwärts zur Verantwortung der Politik ihnen gegenüber diskutiert, da ist auch die Parade-Sinnwissenschaft, die Philosophie, nicht weit. Sie nimmt sich der Streitfragen begeistert an und betätigt an ihnen zeitgemäß und 'praxisnah' ihren Lieblingsunsinn: die Begründung moralischer Grundsätze aus den Grundsätzen der Moral.

Alle Streitigkeiten führen ohne große Umschweife auf ihren politischen Ausgangspunkt zurück:

Ein einziger Ruf nach Staatsentscheidung

Philosophen liefern die letzten Argumente, Mediziner die ersten Anlässe, Juristen die vielfältigsten Paragraphen, Journalisten die schönsten Fälle aus dem Leben für die einhellige Auffassung, daß mit den Grundsätzen des Lebens allemal eine Sache zu entscheiden ansteht, an der sich kein einzelner versuchen darf. Höhere, Recht setzende Instanzen sind gefragt, um die Sicherheit zu stiften, die bei einer solchen Grundsatzentscheidung nottut. Insofern ist die öffentliche Diskussion um das Leben, diesen Paradegegenstand für die Propaganda dienstbarer Volksgebote, schon ein Stück Erfüllung des politischen Interesses: Sie erhebt die Politik zunn Wächter über die Moral und verpflichtet sie auf ihre eigenen höchsten Grundsätze.

Deswegen kulminiert das öffentliche Getriebe in dem Streit, wer eigentlich letztendlich legitimerweise für diese politische Aufgabe der rechte geistige Berater ist: die Staatsdiener selber mit ihrer politischen Verantwortung oder die Kirche mit ihrer staatlich anerkannten Position im Staats- und Sittenleben. Die Pfaffen möchten am liebsten ihre geistige Oberhoheit über die regierenden Köpfe in Wertefragen kodifizieren lassen, so als ginge alles drunter und drüber, wenn nicht Höffner und Co mit Gottes Segen höchstpersönlich über Bauch und Sterbebett wachen. Damit, so heucheln sie Bescheidenheit, nehmen sie nur das Recht des gläubigen Bürgers auf seine freie Meinung wahr und wollen ihn vor der unerträglichen Bevormundung durch einen laizistischen Dogmatismus schützen. Dagegen pocht eine eigentümliche Koalition von lauter Anwälten des politischen Gewaltmonopols - Zeidler findet sich da von Christenpolitikern wie Geißler unterstützt - darauf, daß der Staat in aller Souveränität selber seiner Gesellschaft die Gebote eines staatsgefälligen Lebens vorzuschreiben hat. So streiten sie methodisch um das Recht auf geistige Führerschaft, wohl wissend, daß die Kirche eine Macht in diesem Staate ist und bleibt, und daß umgekehrt deren Moralgebote dem Staatswohl über alles verpflichtet sind.

We n sich der Verfassungspräsident, Kardinäle, Christenminister und Sozialdemokraten über ihre Zuständigkeiten für Recht und Moral streiten, dann hackt nicht nur eine Moralwachtel der anderen kein Auge aus. Dann ist der staatliche Anspruch auf das Leben seiner Bürger von der Wiege bis zur Bahre wirklich völlig unbestritten.

Rund um den Embryo

"Nach evangelischer Ansicht sollte es nicht nur darum gehen, die 'unbefugte Wegnahme' von Embryonen zu kriminalisieren, sondern einen 'angemessenen, würdigen Umgang mit toten menschlichen Wesen auch bei toten Embryonen' sicherzustellen... Beispielsweise gelte ein toter Embryo von weniger als 35 Zentimeter Länge in Niedersachsen nicht als Leiche. Für die katholische Kirche legte der Moraltheologe Professor Johannes Reiter (Mainz) den Schwerpunkt auf die 'unantastbare Menschenwürde', die nach der Rechtssprechung des Bundesverfassungsgerichts auch dem ungeborenen Lehen und dem Toten zukomme. Damit sei nicht vereinhar, daß tote menschliche Embryonen und Föten wie eine bloße Sache behandelt, wie eine Ware gehandelt und zu gewerblichen Zwecken verwendet werden.'" (Süddeutsche Zeitung, 17.1.)

"Bei solcher Rechtslage ist das Ei von der Befruchtung bis zur Einnistung völlig rechtlos, man kann es wegwerfen, damit experimentieren, auch zum Spaß großziehen..." (Reinhard Löw: Gentechnologie und Verantwortung, Frankfurter Allgemeine Zeitung)

"Ein menschlicher Embryo bedeutet nach wissenschaftlichen Erkenntnissen volles menschliches Leben. Als Konsequenz daraus ergibt sich, daß der Embryo nicht als Sache, als Objekt betrachtet werden kann..." (Rita Süßmuth, nach Süddeutscher Zeitung)

Gegen die Kosten der Freiheit

"Wenn wir das Leben eines Bewußtlosen um drei Monate, also neunzig Tage, verlängern, betragen die Kosten 180 Mark. Bei einem durchschnittlichen Netto-Monatseinkommen eines Facharbeiters von 1000 Mark müßte dieser für einen Tag, den er bewußtlos auf der Intensivstation verbringt, einen ganzen Monat arbeiten..." (Norbert Hoerster: Jeder hat ein Interesse am Überleben, Spiegel)

Solche und solche Mütter

"Wenn eine Schwangere sich in den Dienst eines anderen Lebens, des Lebens ihres Kindes stellt, das in ihr zu leben begonnen hat, dann erfüllt sie ihre menschliche Plicht... Sich aber für die Zeugung eines Lebens im Dienste anderer als Mittel zur Verfügung zu stellen, ist eine neue Form der Sklaverei." (Reinhard Löw: Leihmütter, Süddeutsche Zeitung)

Das Recht aut Wieder- und Wiedervereinigung...

"In der Frage der künstlichen Befruchtung gab die Ministerin (Süßmuth) zu bedenken, daß die Geschlechtervereinigung einen Akt der Ganzheit darstelle und somit etwas völlig anderes sei als eine technische Befruchtung. Der Liebesakt dürfe in seiner Bedeutung für die Weitergabe des Lebens nicht außer acht gelassen werden." (Süddeutsche Zeitung)

...und die dazugehörigen Pflichten

"Es dürfe nicht in Vergessenheit geraten, sagte die Ministerin, daß die Abtreibung strafbar sei und die Strafe nur unter bestimmten Bedingungen ausgesetzt werde. Die gesetzlich vorgeschriebene Beratung von Frauen, die ungewollt schwanger geworden seien, müsse dazu beitragen, daß das Kind zur Welt gebracht werde." ('Süßmuth will Paragr. 218 lassen', Frankfurter Rundschau, 11.1.)