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DIE DEUTSCHEN - EIN VOLK VON PSYCHOS?
Was treibt ein Volk, dessen Regierung die eigene Armee zur zweitstärksten konventionellen Streitmacht des Westens aufrüstet und auf eurostrategischer Parität mit der feindlichen Weltmacht besteht? Womit beschäftigen sich Bürger, die von ihrem Inneneminister unter ziemlich totale Erfassung und Überwachung gestellt werden? Welche Sorgen lassen "Arbeitnehmer" laut werden, die mit guten Aussichten auf das eine oder andere Jahr Arbeitslosigkeit ihren seit Jahren gesenkten Billiglohn verzehren? Wofür engagieren sich Studenten, die sich mit dem Einpauken verdrechselter Denkfehler noch nicht einmal solide Karriereaussichten eröffnen?
Solche Leute haben und pflegen "Beziehungsprobleme" und "Arbeitsschwierigkeiten". Genau genommen wollen sie Schwierigkeiten nur noch in bezug auf sich selbst und ihr Selbst samt seiner Verwirklichung zur Kenntnis nehmen, und mit dieser psychologischen Erzlüge wenden sie sich auch von den Erfolgen und Mißerfolgen ihrer Zeitgenossen zu. Dabei sind sie fest überzeugt, daß sie sich von niemanden Vorschriften machen lassen. Während sie sich einteilen, beurteilen sie Politiker, Kollegen bzw. Kommilitonen und sonstige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens danach, ob sie deren Selbstsicherheit für echt halten und sich selbst und ihr Tun und lassen danach, wie sie sich dabei gerade fühlen. Sie sind gegen Fußball-Rowdies und für disziplinierte Soldaten, gegen Umweltdreck und für die Heimat, gegen Gadafi und für Boris Becker.
Sie sind eben nicht die Subjekte, die "Macher" dessen, was mit ihnen praktisch angestellt wird. Wo sie sich als freie Persönlichkeiten betätigen, geht es logischerweise um die Freiheit zu verkehrten Deutungen - die sogar, soweit es geht, als Handlungsmaximen befolgt werden.
Die geläufigen Deutungen folgen relativ zeitlosen Prinzipien. Prinzipienreiterei ist ja ihr Sinn und Zweck; mit ihr macht ein selbstbewußter Mensch sich gerade frei von der Befassung mit den wirklichen Interessen, denen er bloß dient.
Wenn allerdings ein ganzes Volk sich mit seinen Befehlshabern nur noch unter dem Aspekt des Seelenlebens der Prominenz und der Garderobe der Gattinnen befaßt; wenn allmählich verarmte "Arbeitnehmer" überhaupt nur noch auf ihre Familie losgehen und gar keine politische Rolle spielen; wenn erklärte Rüstungsgegner um die Glaubwürdigkeit ihres Gewaltverzichts vor Polizeiknüppeln und um sonst gar nichts kämpfen und ungefähr dieselben Auffassungen vertreten wie die Feinde von Tierversuchen und Pelzmänteln; wenn die Massen mündiger Bürger sich bloß noch als Publikum aufführen und als solches zwischen Dr. Kohl und Dr. Brinkmann keinen großen Unterschied mehr wahrhaben wollen - dann haben sie es nötig. Das Abstraktions- und Übersetzungsvermögen freier Untertanen wächst offenkundig mit der Härte der Verhältnisse, die bedient und konstruktiv ertragen werden wollen. Zu einer Republik, die ihr Menschenmaterial für einen weltrekordverdächtigen Aufschwung verschleißt, gehört als demokratische Basis ein Volk von Psychos.
Daß ein ganzes Heer von freien Bürgern sich in seinen privaten Spleen verrennt, ist für nichts von dem, was mit ihm angestellt wird, der Grund. Aber genau so machen die Leute auch noch zu allem Überfluß sich selbst zur denkbar handlichsten Voraussetzung für alle Zwecke, denen die Staatsgewalt zur Herrschaft verhilft.
Von dem Standpunkt des "Bewältigens" und "innerlich Verarbeitens", der dabei zur Anwendung kommt, von seinen allgemeinen und seinen klassenspezifischen Techniken, vom Psychomarkt und seiner Kundschaft ist im folgenden die Rede.
"Probleme haben" - "Erfolg haben": Beliebte falsche Abstraktionen
"Persönlichkeits-Entfaltung
Sie können Dutzende von Seminaren besuchen - und fallen nach der ersten Begeisterung wieder in ihren Alltagstrott zurück. Sie können Hunderte von Büchern lesen - nur um hinterher noch verwirrter zu sein.
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Denn das Programm ist keine nur theoretische Abhandlung - das Programm ist praxisnah, lebendig, vertraut. Mit diesem Programm erfahren Sie alles, was Ihnen bislang verborgen blieb, weil es sorgsam behütet, ja: versteckt wurde. Dieses Programm ist aber auch Evolution. Denn dieses Programm ist die Entfaltung von Fähigkeiten, die der Mensch seit Jahrtausenden besitzt. Somit folgt das Programm den evolutionären Gesetzmäßigkeiten.
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Entfalten Sie Ihre wahren Fähigkeiten und nehmen Sie jenen Platz im Leben ein, der Ihnen gebührt!"
An Betreuungsangeboten fürs Individuum herrscht in der demokratisch marktwirtschaftlichen Gesellschaft unserer Tage kein Mangel. "Ihre Strategie ist falsch!" mahnen ganzseitige Anzeigen in seriösen Tageszeitungen: "Haben Sie Probleme?" erkundigen sich andere Annoncen. Und allen kann geholfen werden: "Lebenshilfe" wird versprochen, und daß "Erfolg keine Glückssache" sei, sondern "lernbar".
Eigentümliche Abstraktionen werden da angepriesen. Erfolg schlechthin wird in Aussicht gestellt - nicht etwa ein Erfolg beim Lernen von diesem oder jenem; da wäre der Hinweis, er sei erlernbar, doch etwas albern. Dabei ist Erfolg aber doch gar keine - allenfalls erlernbare - Tätigkeit, sondern bezeichnet das Verhältnis einer jeden beliebigen Tätigkeit zum damit verfolgten Zweck: Sie hat ihn erreicht. Wie sollte die Verwirklichung von Zwecken als solche Gegenstand und Ziel einer eigenen Tätigkeit sein, die sich sogar erlernen lassen könnte? Hilfe mag ebenfalls ratsam und willkommen sein, wo die Mittel eines Menschen nicht ausreichen für den Zweck, den er sich vorgenommen hat. Was für ein Zweck soll aber "Leben" sein und an welchen Mitteln könnte es dafür fehlen? An Rettung aus Lebensgefahr und ordinäre Lebensmittel ist ja durchaus nicht gedacht, wo einschlägige Beratungsinstitute in aller Ruhe ihr Publikum suchen.
Dasselbe gilt für 'Probleme', zu deren Bewältigung man gewisse Angebote nutzen soll. Schwierigkeiten gibt es zweifellos genug auf der Welt, bei der Verfolgung der meisten Zwecke stellen sie sich ein; nach deren Inhalt und dem jeweiligen Mangel an entsprechenden Mitteln richtet es sich, was einer für Probleme hat. Was aber soll daneben das "Problem-Haben" als solches sein? Worauf zielt die Erkundigung nach einem Gegensatz zwischen Ziel und Mittel, wenn von denen gar nicht die Rede sein soll?
'Strategie' schließlich bezeichnet wieder ein formelles Verhältnis zwischen Zweck und Mittel: den planmäßig geordneten Einsatz sachgerechter Mittel für ein Ziel; daß dieses gegen andere Zwecke durchgesetzt werden muß, der Plan also Abwehrmaßnahmen einschließen muß, mag bei 'Startegie' schon mitgedacht sein. Auf alle Fälle bestimmt eine Strategie sich nach dem Ziel und den dafür vorhandenen Hilfsmitteln und hat darin ihr Kriterium für "richtig" oder "verkehrt". Genau das wird aber glatt geleugnet, wenn eine 'Strategie' sich ganz grundsätzlich als "richtig" empfiehlt, so als käme es für den Plan und sein Gelingen auf den angestrebten Inhalt und die zweckdienlichen Mittel gar nicht weiter an; als wäre die methodische Ordnung eine Sache für sich, und zwar die Hauptsache, der besondere Zweck dagegen und die dafür aufzubietenden Instrumente nur beispielhaftes Material.
Die erwähnten wohlbekannten Betreuungsangebote sind alle derselben menschenfreundlichen Dummheit verpflichtet: Sie stellen Hilfe gegen "das Scheitern" in Aussicht jenseits all dessen, was da scheitern mag und woran. Eigentümlich idealistisch nehmen sie das formelle Ideal des Gelingens für die eigentliche Sache, mit deren immanenten Gesetzen sie die um Erfolge bemühte Menschheit vertraut machen wollen: die Zwecke, denen sich das Publikum mit so fragwürdigen, jedenfalls hilfsbedürftigem Erfolg widmet, rangieren als Anwendungsfälle der prinzipiellen Kunst, Erfolg überhaupt erringen zu können.
Im angesprochenen Publikum sind allerdings, das muß man zugeben, "Probleme" von so abstrakter Art sehr beliebt. Völlig an der Tagesordnung sind z.B. vom Vorschulkind bis zum Doktoranden "Lernschwierigkeiten", die gar nichts mit den Schwierigkeiten des zu lernenden "Stoffs" zu tun haben wollen, sondern im Bereich gewisser subjektiver Bedingungen der Möglichkeit des "Lernens überhaupt" zu Hause sein sollen. Von diesen (Un-)Möglichkeiten steht das eine auf alle Fälle fest: Um so banale Dinge wie den Willen, sich aufs Erlernen eines Wissens oder einer Fertigkeit zu konzentrieren, geht es nicht.
"Beziehungsprobleme" sind gleichfalls sehr verbreitet und eine Angelegenheit von überaus prinzipieller Natur: Es geht nicht um Unklarheiten darüber, was man von anderen Leuten will oder zu halten hat, schon gar nicht um deren Intrigen und sonstige Ekelhaftigkeiten, sondern um die fest vorgestellte und praktizierte Unmöglichkeit, sich "überhaupt" mit anderen Leuten näher zu befassen oder andere zu näherer Befassung mit einem selbst zu bewegen.
Auch an "Lebensangst" laborieren etliche Zeitgenossen; und das ist durchaus nicht mit einer Angst ums eigene Leben zu verwechseln, sondern meint die Befürchtung, mit überhaupt nichts zurechtkommen zu können. Dies ist von so prinzipieller Natur, daß sie über die Identifizierung von Feinden und Widrigkeiten, die es wirklich gibt oder geben mag, von vornherein erhaben ist. Wenn einem modernen Menschen seine "Probleme über den Kopf wachsen", dann fängt der eben nicht an, seine Zwecke und seine Mittel zu sortieren, sondern er vermißt ein Prinzip und sehnt sich nach einem Prinzip, dessen Anwendung ihm die Bewältigung von allem und jedem erlauben würde.
Das Angebot hat sich also längst seine Nachfrage geschaffen: Dem Idealismus einer preiswerten Methode des Erfolg-Habens schlechthin entspricht das verbreitete Bewußtsein, mit gar nichts Bestimmtem, sondern ganz methodisch mit dem Sich-Durchsetzen, dem Ziele-Erreichen, dem Probleme-Bewältigen als solchem - Probleme zu haben.
Die "Lösung" eines falschen Problems: Der Glaube ans Subjekt als sein eigenes (Miß-)Erfolgsgeheimnis
Die Lösungen, die geboten und gesucht werden, liegen für moderne Menschen nicht mehr - zumindest nicht unmittelbar - in den Sternen, der Alchemie oder der Fürsprache aller Heiligen. Die Menschheit hat sich dahin belehren lassen, auch dieses Problem, dem mit Wissenschaft und Technik nicht beizukommen ist, sehr wissenschaftlich und aus menschlicher Kraft zu bewältigen. Der Glaube, daß "Erfolg" ein "Geheimnis" hätte und dieses zu lösen sei, verlegt seinen Glaubensartikel mit Hilfe eines wissenschaftlichen Fehlschlusses in das Subjekt selbst, das sich so oft vergeblich abmüht. Der Fehlschluß geht so: "Weil" allemal das "Ich" a m Werk ist, "deswegen" wird es auch der Grund dafür sein, wie seine Werke ausfallen. Der Erfolg verrät den "Erfolgsmenschen", das Scheitern den "Versager", und im Unterschied zwischen beiden "Typen", die jeweils eine "Startegie" verkörpern, muß das Prinzip der "Erfolgstüchtigkeit" liegen. Diese unmögliche Wortzusammensetzung ist das passende deutsche Sprachdenkmal eines aufgeklärten Problembewußtseins.
Zu den Einsichten und Fertigkeiten, die sich ein Mensch mit Wille und Bewußtsein verständig und zweckmäßig angeeignet hat, gehört diese Tugend per definitionem nicht. Postuliert wird der Widerspruch eines Vermögens, das den Erfolg oder Mißerfolg aller verständigen und willentlichen Anstrengungen vorausentscheidet, also "irgendwie" determiniert. Die Fahndung nach diesem eigentümlichen Ding weist folglich allem Unwillkürlichen und Unverständigen, was ein Subjekt so zustandebringt, eine tiefere Bedeutung zu. Alle Aufmerksamkeit richtet sich auf Einbildungen und Stimmungen, also auf die Hervorbringung der Phantasie und des praktischen Gefühls, der unmittelbaren oder zur Gefühlsregung verfestigten Einschätzung einer gegebenen Umwelt nach dem einfältigen Kriterium, ob sie "mir paßt" oder "nicht behagt". Mit solchen Regungen nehmen die Unterscheidung von bloßen Launen, die Setzung praktischer Zwecke usw. überhaupt erst ihren Anfang; sie selbst sind keiner anderen Leistung mächtig als der spontanen kindlichen Unterscheidung zwischen Wohlbefinden und Unwohlsein. Ausgerechnet diese Empfindungen gelten nun als Auskunftsmittel über ein untergründiges "Gesetz" der Subjektivität, das gleich sämtliche praktischen Leistungen, die Interessen des Subjekts und sogar noch die von diesem unabhängigen Erfolgsbedingungen regieren soll.
Selbstverständlich hat dieser Fehlschluß auf (leider noch nicht kontrollierte) persönliche Eigenarten als die Offenbarung eines subjektiven (Miß-)Erfolgsprinzips seine Anhaltspunkte - auch wenn deren "Beweiskraft" allemal erst durch Verwechslung zustandekommt. Das wichtigste Indiz besteht in der vertrauten Erfahrung, daß Mißerfolge Ärger hervorrufen und Ärger bei der nächsten Unternehmung irritieren kann - sofern er die Einsatzfreude nicht ausgerechnet beflügelt; ebenso mögen Erfolge beschwingte Gefühle hinterlassen, die die Entfaltung anderer Fähigkeiten bei einem neuen Werk begünstigen - sofern sie nicht zu hinderlichen Fehleinschätzungen verleiten. So oder andersherum können ge- wie mißlungene Taten sich eben auf die Stimmung auswirken, in der ein Mensch an neue "Probleme" herangeht - sofern Ärger oder Freude nicht der Konzentration auf die andere Unternehmung zum Opfer fallen.
Irgendeine Lehre über einen Zusammenhang eines gefühlsmäßig registrierten (Miß-)Erfolgs mit den Erfolgschancen anderer Aktivitäten gibt die Erfahrung also gar nicht her - ganz abgesehen davon, daß eine Chance noch ganz etwas anderes ist als ein Erfolg. Es kommt immer noch darauf an, welche Schlüsse der Mensch aus seiner guten oder schlechten Laune zieht und ob überhaupt welche, ob also und in welchem Sinne er sich beeindrucken läßt. In eben dieser Frage geht das moderne Erziehungs- und Betreuungswesen aber mit der größten Selbstverständlichkeit von einer eindeutigen Antwort aus: Der Eindruck ist enorm, das Subjekt davon geradezu abhängig. Dies vorausgesetzt, können die Erfahrungen des einzelnen gar nicht umhin, den Glauben an eine innere Gesetzlichkeit zu bestätigen. Ganz gleich, ob ein "Erfolgserlebnis" zu neuen Taten aufgelegt macht oder zu Müßiggang verführt und ob das eine oder andere zur Zufriedenheit gelungen ist; egal, ob ein "Frust" lustlose Aktivitäten nach sich gezogen hat, deren Ergebnis wieder ärgerlich war, oder als Stachel für Anstrengungen gewirkt, die zufällig auch noch von Erfolg gekrönt waren: Allemal gilt die Stimmung des Individuums nicht als das, was sie bloß ist, sondern als Indiz für einen - irgendeinen - ursächlichen Zusammenhang. Die Auswirkungen eines Scheiterns oder Erfolgs auf die Laune avanciert zum hintergründigen Grund für erneutes Scheitern oder erneute Erfolge.
Daß diesem geglaubten Verursachungszusammenhang jede Eindeutigkeit fehlt, macht überhaupt nichts, sondern gibt der Selbstbespiegelung gerade ihren Reiz. Wie das vermutete "Gesetz" wirkt, welche Prognose einem gut- oder übelgelaunten Individuum zu stellen ist, das gilt ja eben als nicht verallgemeinerbares immanentes Lebensprinzip jedes einzelnen. Worauf es ankommt, ist nichts als der so oder so "bestätigte" Glaube an ein ziemlich determiniertes "Erfolgsgeheimnis" der jeweiligen Persönlichkeit, das in deren Stimmungen und Einfällen greifbar wird - wie auch immer.
Kinderei als Methode: Launen als Leitfaden zur "Selbstverwirklichung"
Längst hat sich im Reich der öffentlichen wie der privaten Meinung die Gewißheit durchgesetzt, daß, wo Leute "Probleme" haben, jedes quid pro quo erlaubt ist, weil im launischen Subjekt ja sowieso alles mit allem determinierend, irgendwie nämlich, zusammenhängt. Menschen, die sich einer Enttäuschung oder Traurigkeit hingeben, muß man "aufbauen"; und das hat weder mit Kritik an ihrer Trübsal zu tun noch erst recht mit einem Zweck, für den man sie gewinnt, sondern bedeutet Aufheiterung und die Beschaffung von "Erfolgserlebnissen" auf dem Gebiet der Selbsteinschätzung. Die Adressaten solcher Ermunterung kommen sich nicht veralbert vor, sondern verwechseln selber Launen und begründeten Kummer in beiden Richtungen. "Jemanden psychologisch kommen" ist gleichbedeutend damit, "Probleme" gerade nicht dadurch "anzusprechen", daß Zweck und Mittel zum Thema gemacht werden, sondern über allerlei Gefühlskram, der nur vermittels des Glaubens an ein determinierendes inneres Lebensprogramm damit zusammenhängt. In aller Öffentlichkeit werden fremde Menschen - Tennisspieler und Politiker, Verbrecher und Richter, Professoren und Fließbandarbeiter ... - danach gefragt, was sie vor, bei und nach ihrem Werk empfinden, ob sie sich gut fühlen, wenn sie gerade ein Gesetz verabschiedet oder eine Nachtschicht runtergerissen haben; und dieser Erkundigung wird ganz offensichtlich einige Bedeutung beigemessen - wenn auch im Grunde keine alte Sau anzugeben weiß welche. Eine eigens inszenierte Ablenkung von allem, was wirklich passiert und von praktischer Bedeutung ist, könnte nie so wirkungsvoll sein. Kindlichkeit wird da, sehr reflektiert und absichtsvoll, zum Prinzip gemacht; mit Methode werden die Leute echt kindisch.
So ist es in den fortgeschrittenen Kulturnationen zum Normalfall geworden, daß deren freie Menschen tatsächlich gar nicht mehr die Probleme haben, die sich bei der Verfolgung praktischer Zwecke aus einem Mangel an Mitteln oder aus deren unzweckmäßigem Einsatz ergeben. Es ist umgekehrt: Kultivierte Bürger achten auf ihr launisches Wohlbefinden, lauschen womöglich unter Einsatz ihres gesamten Verstandes in sich hinein, um herauszufinden, was sie sich überhaupt vornehmen können und sollen, damit ihre geglaubte 'Natur', vornehm: ihre individuelle 'Problemlösungskompetenz', angemessen zum Zuge kommt. Sich einen überlegten Zweck z u setzen, das gilt nicht nur als psychologische Unmöglichkeit, sondern geradezu als unanständig: als Verstoß gegen die Schranken wie gegen die Chancen, die das eigene Innere bereithält. Denen hat ein moderner Mensch zu entsprechen; an Problemen hat er sich die zu machen, in denen er sich "zu Hause fühlen" kann. Kein Verbot, die Finger von revolutionären Umtrieben aller Art zu lassen, könnte je so durchschlagend wirksam sein wie das Gebot, in allem Tun und Problematisieren "sich selbst gerecht" zu werden.
Es gehört zu den demokratischen Treppenwitzen, daß es für diese absurde Kombination der "Leistungen" des praktischen Gefühls mit dem leeren Postulat eines darin sich äußernden individuellen Lebensprinzips die philosophische Vokabel "Selbst" eingebürgert worden ist. Ausgerechnet den Empfindungen, in denen das Subjekt noch nicht aus seiner Hingegebenheit an Umstände und Lebensbedingungen heraustritt und am weitesten vom Bemühen um die Verwirklichung selbstgesetzter Zwecke entfernt ist, wird der maßgebliche Inhalt der individuellen "Persönlichkeit" zugeschrieben. Das "Selbst" ist der Auftrag, im Oberflächlichen, Unwillkürlichen danach zu suchen; ob die "Selbstfindung" geklappt hat, entscheidet sich daran, ob der Mensch fortan "Selbstbewußtsein" an den Tag legt. Gemeint ist damit weder die Trivialität, überhaupt als Subjekt zu agieren, also die eigenen Gedanken und Willensakte zu wissen; noch geht es um eine Rechenschaft darüber, welchen Zwecken sich einer verschrieben und wie weit er es mit denen gebracht hat - also über den Inhalt, den der Mensch wirklich seinem "Selbst" gegeben hat. "Selbstbewußtsein" ist für moderne Menschen ein Wert, so ziemlich der höchste sogar, läßt sich genausogut als "Glaube an sich selbst" oder als "Selbstvertrauen" bezeichnen und meint eben die durch positive Stimmungen verbürgte Gewißheit, sich mit seinem jeweiligen Tun und Lassen in tiefer Übereinstimmung mit einem innerlichen Erfolgsrezept zu befinden. Das methodische Ideal, an sich selbst ein unwiderstehliches Instrument für ein erfolgreiches Dasein zu besitzen, wird in jedem begriffslosen "Sich-gut-Fühlen" als erfüllt entdeckt. Wem es gelingt, sich bei unverwüstlich guter Gefühlslage zu halten, der hat's geschafft: Der geht "als Erfolgsmensch" und mit Selbstvertrauen" an seine "Lebensaufgaben" heran.
Worin auch immer die wirklich bestehen!
Der psychologische Standpunkt: Ein klassenübergreifendes, aber nicht klassenneutrales falsches Bewußtsein vom Leben im demokratischen Kapitalismus
Kein Geheimnis ist der durchschlagende Erfolg dieser Betrachtungsweise unter modernen Bürgern. Denen bietet sie eine Universalerklärung ihres Schicksals und eine Anleitung zum gehorsam allein aus dem Ideal bürgerlicher Freiheit:
Die Aussicht auf Erfolg ist die Abstraktion, in der sich sämtliche Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Staates für die dazugehörigen Leute zusammenfassen. Nichts Bestimmtes wird ihnen versprochen, geschweige denn garantiert. "Gewährt" wird die Möglichkeit, beliebige Zwecke in die Tat umzusetzen - mit der kleingedruckten Maßregel, sich dabei an die bürgerlichen Gesetze zu halten und sich der bürgerlichen Einrichtungen zu bedienen. Diese Maßregel, die die Rechte und Pflichten des Eigentums wie der Lohnarbeit enthält, will grundsätzlich nicht als Einschränkung verstanden sein, sondern als die Eröffnung einer wohlgeordneten Welt von Chancen für jedermanns private Vorhaben. "Es kommt ganz darauf an, was einer daraus macht!" - dieser Sinnspruch benennt das Prinzip, nach dem das Berufsleben und die politischen Institutionen, die gesetzlich behütete Privatsphäre samt Ehe- und Familienleben und das reichhaltige Warenangebot in einer kapitalistischen Demokratie aufgefaßt und bewältigt werden wollen; und die unterschiedlichen Ergebnisse, zu denen die vielen Individuen es bringen, gelten als Beweis für dessen Wahrheit. Daß die "Chancen ungleich verteilt" sein mögen, wird gar nicht geleugnet, eine ganze sozialliberale Ära lang sogar schon mal betont. Die Hauptsache bleibt gerade so bestehen: die Lüge, daß "Erfolgschance" der wahre und eigentliche Inhalt sämtlicher eingerichteten Verhältnisse wäre. Daran kann eine konservative "Wende" dann leicht und bruchlos anknüpfen, wenn sie mal wieder betont, die Individuen hätten genau das wohl verdient, wozu sie es jeweils bringen.
Was einer daraus macht - aus den als feste Daseinsbedingungen, als "Sachgesetze" existierenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen der bundesdeutschen "Mittelmacht" - liegt gemäß bürgerlicher Logik in doppeltem Sinn am Subjekt selbst: an dem, was es sich vornimmt, und an dem, was es zu leisten vermag. "Chance" heißt ja nicht, daß es den Leuten leicht gemacht wird, ihre Zwecke zu verfolgen. Ein bißchen "Lebenskampf" verlangen die Verhältnisse ihren "Nutznießern" schon ab. Für dessen Erfolg kommt es auf zwei Dinge an. Auf "Lebenstüchtigkeit", also auf die Tauglichkeit der eigenen Person als Instrument des erstrebten Erfolgs und "Waffe" im "Lebenskampf", aufs "human capital" und dessen Training. Und darauf, daß man sich die richtigen Ziele setzt, die nämlich, die zur "Ausstattung" der eigenen Persönlichkeit passen. In beiden Hinsichten kann man Fehler machen - und in wenigstens einer hat derjenige gefehlt, der mit den Resultaten seines Strebens unzufrieden ist, seine Vorhaben als gescheitert beurteilt. Damit bezeugt der Betreffende nämlich bloß, daß er seine "Leistungsfähigkeit" auf der einen, seine "Ansprüche ans Leben" auf der anderen Seite nicht zur Deckung gebracht hat. Für diesen Mißerfolg kann er sich nicht auf besonders "widrige Umstände" herausreden; denn der liegt ganz an ihm selbst. "Erfolg", wie die bürgerliche Gesellschaft und der Rechtsstaat ihn jedermann als sein höchstes Ziel konzedieren, ist eben eine Abstraktion, die keinen Minimalbestand an materiellen Lebensgenüssen enthält, sondern erbarmungslos das Ideal der Übereinstimmung von Wunsch und praktischem Ergebnis einfordert. Auf Kosten der Wünsche, Bedürfnisse und Interessen, wenn's sein muß; denn dann waren sie z u groß, der Mensch wollte "zu hoch hinaus".
Erfolg oder Unzufriedenheit eines bürgerlichen Individuums sind daher einerseits keine Klassenfrage; ihren klassenspezifischen Preis haben sie aber schon. Bei den einen beruht die Zufriedenheit, bei den wenigen anderen der Mißerfolg auf der Freiheit eines jeden, sein persönliches "Anspruchsniveau" zu definieren.
Für die lohnarbeitende - oder von der Lohnarbeit des "Familienoberhaupts" abhängige - Masse ist es eine kompensatorische Lüge, die Errrungenschaften der gewohnten Lebensführung als den Erfolg zu deklarieren, der der eigenen Leistungsfähigkeit angemessen wäre. Diese Lüge subjektiv wahrzumachen, erfordert eine methodische Verrohung der eigenen wie der Bedürfnisse des familiären Anhangs; den Verzicht auf Wünsche, deren Befriedigung in Warenform für jedermann zugänglich vorliegt und für die anderen Klassen zu den Selbstverständlichkeiten eines modernen Lebens zählt. Dabei macht jeder die Erfahrung, daß es mit dem Verzicht so schnell kein Ende hat. Die Resignation in Fragen eines auskömmlichen Lohns ruiniert das außerberufliche Privatleben bis in die intimsten Freuden, die ohne Geld auch nicht dauerhaft trösten. Das Abstandnehmen von jeder Einmischung in die Politik erspart keineswegs die Benutzung als Material nationaler Interessen, sondern eröffnet eine Karriere als nützlicher Idiot, der auch noch seine persönliche freie Meinung immer auf den neuesten Stand bringen muß. Die Kompromißbereitschaft beim beruflichen Gesundheitsverschleiß verdirbt den Genuß der dafür gezahlten Kompensation gleich mit; usw. Solange die Mitglieder dieser Klasse überhaupt noch an nennenswerten Interessen festhalten, haben sie Gründe zur Unzufriedenheit zu verbuchen - und sie stehen damit vor einer Alternative, die ziemlich viel entscheidet. Entweder sie schenken den wirklichen Gründen ihres eingeschränkten Daseins, der Tücke ihrer "Lebenschancen" ihre Aufmerksamkeit und werden zu Kritikern der Lohnarbeit, die sie zu Opfern macht. Von dieser Karriere rät die gesamte demokratische Öffentlichkeit einhellig ab, und die Zwangsmittel des Rechts bekräftigen den guten Ratschlag. Oder sie grübeln darüber nach, warum ausgerechnet sie es nicht schaffen, mit Lohnarbeit reich, mit Frau und Kind glücklich, mit politischer Anpassung zum Meister ihrer Lebenslage, mit Akkordarbeit immer gesünder zu werden. Mit dieser Fragestellung liegen sie goldrichtig; solches Räsonnieren wird von den besten Kräften der Gesellschaft betreut. Dem Menschen wird ein Ausweg nach dem anderen gewiesen: in die kleinen Freuden des Alltags, an denen er sich immer wieder "aufbauen" kann; in die Momente begriffsloser Selbstzufriedenheit, die ihm beweisen, daß er vielleicht doch kein "Versager" ist; in die Verwechslung unbefriedigter Interessen mit bloßen Launen, auf die es ihm nicht ankommen sollte; in ein paar Techniken des Humors, die ihren Meister im Berufs- wie Geschlechtsleben unwiderstehlich zu machen versprechen...
Dabei kann der proletarische Grübelmeister auf alle Fälle den Erfolg verbuchen, daß er sich zwar nicht im Grund, wohl aber in den Manieren der "Selbstsuche" mit sämtlichen Luxusgeschöpfen trifft, die mit ihrem Geld "auch nicht glücklich" geworden sind. Als Mensch steht er mit ihnen auf gleichem Fuß, kann sich in ihre "Selbstwertprobleme" hineinfühlen und sie sogar, wenn er mag, als die noch größeren "Versager" bedauern, also verachten. Denn immerhin sorgt die Klassenlage auch hier für Unterschiede: Den lohnabhängigen Psychos fehlt es in der Regel an Muße und Vertrautheit mit höherem Blödsinn, um ihre Unzufriedenheit mit sich und die Manöver der Selbst-Befriedigung zu einer solchen Kunst des Leidens a n sich selbst auszubilden, wie es heutzutage Mitmenschen mit gehobenerem "Anspruchsniveau" kultivieren.
Proletarische Lebenslügen: Die Techniken falscher Zufriedenheit
"Klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie
...Es ist das Ziel der Gesprächspsychotherapie, dem Individuum diese Klärung seiner Gefühle, Wünsche, Motive und Bedürfnisse zu ermöglichen. In diesem Klärungsprozeß können gleichzeitig neue gefühlsmäßige Handlungen entwickelt werden.
Die psychischen Beeinträchtigungen, mit denen Menschen zu einem Gesprächspsychotherapeuten kommen, sind u.a.: Soziale Ängste und Hemmungen, Probleme der Selbstverwirklichung und der sozialen Durchsetzung, der Zufriedenheit, depressive Verstimmungen, Entscheidungsschwierigkeiten, Probleme aus dem Berufs- und Familienleben, dann auch Angstzustände, Sprachstörungen und Tics, sexuelle Störungen und mit psychoszialen Bedingungen zusammenhängende körperliche Erkrankungen, Suchterkrankungen. Für viele Personen sind diese Probleme mit starken Ängsten verbunden, die ihr Verhalten und Lösungsmöglichkeiten erheblich einschränken. Oftmals sind die Ängste soweit generalisiert, daß jeglicher Veränderung erhebliche Widerstände entgegengebracht werden. Die schwierige innere Lage wird beibehalten, weil sie noch eine relative Sicherheit zu bieten scheint.
Obwohl es recht schwierig ist, aufgrund der unterschiedlichen Vorbedingungen der Klienten allgemeine Ziele der Therapie anzugeben, dürften folgende Gesichtspunkte häufiger als Ziele genannt werden: Akzeptierung der eigenen Person; Selbständigkeit, d.h. Freiheit von äußeren und selbst auferlegten Zwängen; Bereitschaft und Befähigung zu sozialen Beziehungen, sozialen Aktivitäten und sozialer Reflexion; Gefühle emotionaler Sicherheit und Angstfreiheit; Bereitschaft und Befähigung, eigene Gefühle und Bestrebungen wahrzunehmen."
In der modernen Klassengesellschaft ist die Mehrheit der Leute in einen Kampf u m einen glaubwürdigen Schein von Zufriedenheit verstrickt, dessen paar Grundregeln stereotyp befolgt werden, ohne daß irgendwer darin erst groß ausgebildet werden müßte.
Grundlegend für alles Weitere ist die Einbildung, nicht betrogen werden zu können, sondern mit den Heucheleien der Politiker und den Fallen der Werbung, mit dem zwischenmenschlichen Lug und Trug und allen falschen Hoffnungen auf die Verbesserbarkeit "der Welt" fertig zu sein. Der Wunsch, sein eigenes Leben im Griff zu haben und dessen Umstände zu meistern, ist damit auf die denkbar kümmerlichste Art und Weise wahr gemacht. Ganz methodisch wird eine theoretische Überlegenheit über alles, wovon man abhängt, behauptet; eine Überlegenheit, die nur in der leeren Gedankenbewegung besteht, alle noch so praktischen Ansprüche, mit denen man zu tun hat, als arglistige Täuschungsmanöver zu interpretieren und sich selbst eben damit als nicht hintergehbaren Durchblicker. Die Kritik wirklicher Ideologien, ein Begriff von den tatsächlich virulenten Täuschungen ist dafür überhaupt nicht vonnöten; und schon gar nichts hat diese Haltung mit Opposition gegen die "Sachzwänge" zu tun, denen die eigene Freiheit sich fügt, indem sie sich der gesellschaftlich vorgeschriebenen "Mittel" bedient. Die völlig abstrakte Zurückweisung jeder nur vorstellbaren Beeinflussung der eigenen Willkür durch andere erfüllt für moderne Staatsbürger den Tatbestand elementarer Selbstbestimmung. Es gehört und paßt zu diesem Freiheitswahn, daß er nur eine Form wirklicher Freiheitsberaubung kennt, nämlich - wirkliche Kritik, die eine als falsch erkannte Auffassung auch dann nicht gelten läßt, wenn ehrenwerte Zeitgenossen sich in ihr gefallen und sie dafür brauchen. Tatsächlich denunziert ja auch jede solche Kritik automatisch die Täuschung, das Abwinken wäre die bestmögliche Versicherung dagegen, fremden Interessen dienstbar gemacht zu werden.
Diese defensive Manier der theoretischen Selbstbehauptung läßt sich ohne Wechsel des Standpunkts ins Positive wenden und zu einem Gestus der erfüllten Freiheit ausbauen. Da loben viele die geniale Konstruktion und die Fahrtüchtigkeit ihres Kleinwagens, wo sie doch wissen, daß es viel bessere Autos gibt, die nur für sie zu teuer sind. Dasselbe gilt für Wohnungen und Eßgewohnheiten, das Familienleben und die Urlaubsreise. Hinsichtlich sämtlicher Lebensumstände möchten zahllose Leute wider besseren Wissens sich so sehen und so angesehen werden, als hätten sie sich die in aller Freiheit selbst herausgesucht, und zwar nur zu ihrem Genuß. Nicht bloß in bezug auf ihre auserwählten Freuden führen sie sich als Virtuosen einer gelungenen Lebensgestaltung auf, die es mit ihrer Skimarke mal wieder prächtig getroffen haben; sogar ihre Verzichtsleistungen haben sie klug und letztlich zu ihrem Vorteil gewählt. Wir machen Balkonferien; und wenn's regnet, lassen wir uns das Singen trotzdem nicht verbieten. Dieses eingebildete Lebenskünstlertum beschränkt sich noch nicht einmal auf die Teilhabe an der bunten Warenwelt und dem nationalen Geschlechtsleben, also die Sphäre der privaten Reproduktion. Die Arbeit begreift es kaltlächelnd mit ein. "Meine Firma!" behaupten treue Lohnarbeiter, sogar noch nach ihrer Entlassung, von dem Unternehmen, das sie zum Tariflohn plus ein paar ortsüblichen Prozenten ausgepowert hat. Den Unsinn politologischer Systemvergleichsideologien, so zu tun, als hätten die Völker und vor allem das eigene sich ihre Sorte Obrigkeit und Ausbeutung aus einem großen Angebot alternativer "Modelle" ausgesucht, beherrscht noch jeder Bürger zumindest in der rohen Form des "Geh doch nach drüben!" Im übrigen braucht der Mensch eine Heimat; und mit der, die er hat, ist er schon deswegen am besten bedient.
Der Gestus, selber der Arrangeur aller eigenen Existenzbedingungen und Abhängigkeiten zu sein, geht in allen diesen Fällen ganz von selbst über in den Glauben, selbst eben s o einer zu sein, zu dem all das paßt, was man als Lebensbedingung vorfindet. Irgendwie hat man selbst sich darin verwirklicht. Die wichtigste, nämlich politische Anwendung dieses Selbstbetrugs besteht in der Erhebung der Nationalität, unter die man subsumiert ist, zur persönlichen Identität und heißt Patriotismus. Der rassistische Gehalt dieser Tugend kommt spätestens dann zum Tragen, wenn das Vaterland "leidet", "Ausländerprobleme" hat und unbedingt einen Feind besiegen muß.
Im übrigen steht es in der modernen Gesellschaft jedem frei, die Identifizierung mit Lebensbedingungen, die gar nicht ins private Belieben gestellt sind, dadurch zu vollenden, daß man sich noch außerdem ohne jede Not und Nötigung in seinem eingebildeten Lebensglück vom Erfolg gewisser gesellschaftlicher Größen abhängig macht, so als wären sie zusätzliche Sachzwänge der eigenen Lebensführung. Die Begeisterung für Vorbilder, das Kopieren von Aussehen und Manieren wichtiger Persönlichkeiten, der öffentlich gebilligte Fanatismus für den "eigenen" Fußballverein oder eine Mode: das alles zeugt von der Intensität, mit der von dieser Freiheit, sich in einer tatsächlich frei gewählten "Heimat" einzuhausen, massenhaft Gebrauch gemacht wird.
Dabei ist nicht zu übersehen, daß keines dieser Manöver zur Erzeugung von Zufriedenheit seinen Lohn in sich trägt. Die zahlreichen Individuen, die sie durchexerzieren, übersehen das jedenfalls nicht. Das Hochhalten des "eigenen" Betriebs strahlt ja nicht gerade volle Zufriedenheit aus, sondern eher Militanz gegen nur allzu berechtigte Zweifel; der demonstrative Nachweis gelungener Konsumgewohnheiten ist ohnehin ein Widerspruch, der nichts als die Beweisnot verrät; und die Liebe zum Vaterland ist kein Vergnügen, sondern die kämpferische Illusion, die Nationalität, der man dient, wäre eine bedeutende Auszeichnung, ein Qualitätsmerkmal und ein Rechtstitel der eigenen Person gegen jedermann. Einen vorzeigbaren Gewinn werfen die brotlosen Künste derartiger "Selbstverwirklichung" nur darüber ab, daß man die eigene eingebildete Meisterschaft über das Leben und dessen Erfolg vergleichen kann mit minder bemittelten Zeitgenossen, denen der Schein, es prächtig getroffen zu haben und ein entsprechend prächtiger Mensch zu sein, weniger gut gelingt. Das Märchen von Erfolg und Zufriedenheit braucht die Konkurrenz, und das Konkurrieren braucht die Konkurrenten als neiderfülltes Publikum.
So gerät ganz normalen Leuten jede Plauderei zur Demonstration und jeder Auslandsbesuch zum nationalen Systemvergleich. Und das nur um so mehr, als das jeweilige Publikum keineswegs leicht zu beeindrucken ist, sondern mehr mit dem Schlechtmachen der vorgeführten Leistungen beschäftigt. Daß etwas einfach so gemeint wie gesagt ist, ist ganz unüblich und wird von gar niemanden erwartet. Es wird als Angeberei vorgetragen und gewertet. Der Eindruck, den moderne Menschen in ihrer Eigenschaft als Angeber machen wollen, liegt gar nicht darin, daß andere auf sie reinfallen; sie wollen Gleichgesinnte in der Kunst der Angeberei selbst ausstechen. In diesem Sportsgeist macht mancher sich die Ausbildung von Spezialitäten zum Lebenszweck, die gar nichts anderes als ihre Ausgefallenheit zum Inhalt und Zweck haben. Die Endprodukte werden von Thomas Gottschalk im ZDF einem Publikum vorgeführt, das sich inzwischen selbst imperialistische Kampfansagen wie die der USA an Libyen oder der NATO an die sowjetische Atommacht als eine Art weltpolitisches "Wetten, daß..." erläutern läßt.
"Gescheiterte Existenzen": Lebenskünstlertum mit umgekehrten Vorzeichen
Es ist eine Minderheit, die die gewohnheitsmäßige Angeberei ihrer Mitmenschen für bare Münze nimmt und sich davon beeindrucken läßt. Da äußert sich dann tatsächlich Unzufriedenheit - bloß überhaupt nicht eine mit den "Sachzwängen" und materiellen Existenzbedingungen, die den Massen in der Klassengesellschaft das Leben schwermachen. Einen modernen Proletarier schmerzt nichts so sehr wie die Beschädigung seines "Selbstwertgefühls", was ein verschönernder, deswegen durchgesetzter Ausdruck für Niederlagen in einer Konkurrenz der Angeber ist. Solche Erfahrungen führen zu "Depressionen" - will sagen: Sie verführen den beleidigten Menschen zu nicht-enden-wollender Grübelei über sich als so peinlich auffällig gewordenen "Versager".
Betrübte Selbstbetrachtungen dieser Art pflegen alle Lügen des gewöhnlichen Lebenskünstlertums unter negativem Vorzeichen zu reproduzieren. Wo ein "lebenstüchtiger" Mensch sich nie aufs Kreuz legen läßt, da ist sein "gescheiterter" Mitmensch immer nur betrogen worden und "der Dumme gewesen". Wo die einen sich ihre Lebensumstände "mit glücklicher Hand" zusammengestellt haben, da hat der "Versager" immer nur "Pech gehabt" und "alles falsch gemacht". Und wo der normale Angeber den Neid seines Publikums einkassieren will, da belämmert sein depressives Gegenstück die Umgebung mit dem Anspruch auf Rücksichtnahme - eine Sorte Applaus, die nicht den Erfolg belohnen, sondern den Erfolglosen einer dennoch ungebrochenen Wertschätzung versichern soll, was beinahe auf dasselbe hinausläuft.
Der Anspruch auf Mitleid und verwandte Gefühle schafft sich seine Rechtsgründe; um so schönere, je weniger er beachtet wird. Die zweckmäßige Begutachtung der eigenen Persönlichkeit und ihrer Lebensgeschichte gibt allemal erbauliche Bilder dafür her, daß im eigenen Fall Mensch und Schicksal vorn und hinten nicht aufeinander gepaßt haben. Da mag ein Ereignis das Leben aus seiner Erfolgsbahn geworfen haben, dort ein unbewältigter Charakterzug seinen Träger vom normalen Leben ausgeschlossen. Solche Einbildungen können ihrerseits sehr produktiv werden. Mindestens geben sie einen Standpunkt für unablässige Beschwerde her - über eigene Versäumnissse ebenso wie über Verfehlungen der Welt gegen die eigene Person. Die geglaubte Beschädigung der eigenen "Erfolgstüchtigkeit", sei es durch "Anlage" oder "Umwelt", läßt sich mit genügender Konzentration aber auch praktisch wahrmachen. Dann beweist sie sich in einem Gebrechen, das eine normale Lebensführung mit Beruf, Behördengängen und geregelter Privatsphäre am Ende wirklich ausschließt. Die Härte der Alternativen, vor die ein so konsequent depressiver Massenmensch in der Klassengesellschaft sofort gestellt ist: Verwahrlosung im Reproduktionsbereich, Verelendung durch Verlust der Einkommensquelle, Drangsalierung durch sozialstaatliche Kontrollorgane - das sondert hier die Spreu vom Weizen. Etwa zwei Drittel derer, die es mal mit einer manifesten Neurose versucht haben, ziehen es vor, wieder Mut zu fassen - diesen Prozentsatz jedenfalls, bei unbekannter Dunkelziffer, will die einschlägige empirische Forschung als die Durchschnittsrate von "Spontanheilungen ohne Therapeuteneinsatz" ermittelt haben.
Für die hartnäckigen Fälle bezahlt die AOK inzwischen eine "Verhaltenstherapie", die den Kunden ihre hinderlichen Marotten genauso begriffslos wieder abgewöhnt, wie die sie sich angewöhnt haben. Die "systematische Desensibilisierung", d.h. die schrittweise praktische Demonstration, daß durchaus geht, was die Klienten zu ihrer Unfähigkeit gemacht haben, verbunden mit gutem Zureden und Entspannungsübungen, tut wahre Wunder unter Leuten, die ihren Rechtsanspruch auf öffentliche Berücksichtigung da endlich einmal befriedigt sehen. Am Ende tun sie dem Therapeuten, der Krankenkasse und sich selbst den Gefallen und lassen auch einmal wieder ab von ihrem unhandlichen Spezialspleen.
Sofern sie es nicht vorziehen, sich vollends von jeder bürgerlichen Lebensnotwendigkeit zu verabschieden und in das selbstgeschaffene Refugium ihrer leidenden und verkannten Persönlichkeit überzusiedeln.
Die guten seelischen Manieren des Erfolgs: Selbstgenuß als Konkurrenzmittel
Der Schein von Freiheit und persönlicher Bedeutsamkeit, um den linientreuen Massen sich mit zweifelhaftem Erfolg abmühen, fällt einer kleinen Minderheit in den Schoß. Bei einigen Leuten steht es nämlich außer Frage, daß sie "etwas zu sagen haben" - sei es, weil sie etwas haben, womit sie Menschen und Verhältnisse in Bewegung setzen können, Eigentum nämlich, oder sei es, weil man ohnehin auf sie hört, weil Beruf bzw. Amt das so mit sich bringen. Die Doppeldeutigkeit des "etwas zu sagen haben" ist das Gemeinsame so unterschiedlicher Figuren wie wissenschaftlicher Autoritäten und Kapitalisten. Topmanager und Staatsmänner, hoher Funktionäre und Journalisten, populärer Schauspieler und prominenter Ärzte. Ihr gemeinsamer persönlicher Nenner ist nicht eine überlegene Einsicht, aber auch nicht einfach die Macht über andere Leute, der sie schmeicheln können; vielmehr die für sie alle gültige Lüge, eins hätte mit dem anderen ursächlich zu tun.
Daß diese Lüge gilt, hat einen soliden Grund. Kein demokratischer Untertan will sich nachsagen lassen, daß er gehorcht, wenn er die herrschenden Interessen bedient, und gewissen Meinungsmachern nach dem Mund redet, wenn er sich die gerade aktuellen öffentlichen Sorgen macht. Wo die Macht kein Argument gelten, sich durch keine Vernunftgründe verunsichern läßt - wo im Gegenteil Argumente nur genau soweit zählen, wie sie durch die öffentliche Gewalt zur Anerkennung gebracht werden -, ausgerechnet da kommt die Illusion zu Ehren, der einfache Mensch bräuchte sich von den höheren Exemplaren seiner Gattung nichts bzw. nur soviel sagen, nämlich vorschreiben zu lassen, wie diese aufgrund persönlicher Überzeugungskraft zu sagen, nämlich an Weisheiten mitzuteilen hätten. Das ist andererseits keine Einschränkung für das, was einer sich praktisch vorschreiben läßt, sondern umgekehrt die Grundlage der Loyalität, mit der freie Bürger ihrer Obrigkeit und allen, die sie dieser zurechnen, begegnen. Der beliebte Vorwurf an Machthaber und Prominente, sie seien eher dämlich, beseitigt diese Illusion nicht, sondern lebt von ihr und ergänzt sie nur um ein "eigentlich", die unverwüstliche Bastion aller Ideale. Gerade solche "Kritik" bekräftigt ja den Anspruch, die Autorität, die einer Person zukommt, hätte durch sie begründet zu sein.
Wie auch immer sie gewendet und angewandt wird: Die Vorstellung, wer etwas zu sagen hat, müßte auch etwas zu sagen haben, ist ein Vorschuß auf die Angeberei der "wichtigen Persönlichkeiten", von dem ein "kleiner" Massenmensch nur träumen kann.
Für demokratische Politiker ist dieser Bonus überhaupt der Artikel und die Waffe ihrer Konkurrenzgeschäfte. Sie werben für sich geradezu mit ihrer Zufriedenheit mit sich selbst und ihrer Wichtigkeit, die sie ohne jede falsche Bescheidenheit an den Tag legen. Dabei nutzen sie die Zweideutigkeit des "etwas zu sagen haben" methodisch aus: Den Interessen, denen sie zur Durchsetzung verhelfen, und den Machtmitteln mit denen sie das tun, geben sie den Anspruch tiefempfundener Überzeugungen; ihre "Überzeugungen" wiederum tragen sie in der Gewißheit vor, daß sie sich keine Überprüfung, gar auf Richtigkeit, gefallen lassen müssen, weil ihre Macht für sie einsteht. Um es mit den unvergeßlichen Worten des Bundesinnenministers zu sagen: "Die kritisieren und demonstrieren - wir regieren!" Damit ist klar in der Demokratie, wer recht hat. So präsentieren demokratische Politiker dem Publikum lauter methodische Fiktionen einer bruchlosen Deckungsgleichheit von Macht und Persönlichkeit: ihren "Machtinstinkt", ihre "Macher-Qualitäten", ihre "Respektsperson" usw. Und längst beherrschen sie den berechnenden Einsatz der Absurdität, das Regieren als ihre geglückte Selbstverwirklichung darzustellen: Jedes Stück Biographie, Frau und Kind, vor allem aber der eigene Genuß an der Macht bürgen dafür, daß da im Geschäft der Herrschaft ein individuelles Lebensgesetz seine geglückte Äußerung gefunden hat - keine Frage, daß solchen Menschen die Macht zusteht. In den anderen bürgerlichen Berufen der besseren Art ist das Konkurrenzmittel der Angeberei mit den jeweils errungenen Erfolgen mehr oder weniger durch sachfremde Gesichtspunkte des Wissens, der Fertigkeit z.B. im Verfassen von Leitartikeln, der Beherrschung einer Kunst und dergleichen verunreinigt; und das um so stärker, je weiter eine Karriere noch am Anfang steht. Allemal ist aber das Bewußtsein von der Bedeutung des "Selbst", das ein gehobener Mensch "verwirklicht", mehr als ein zusätzlicher Genuß ohne Anstrengung und Reue. In allen Karrieren, die diesen Namen verdienen, ist die überzeugende Darstellung dieses Bewußtseins ein unentbehrliches Konkurrenzmittel - ganz anders als bei der Mehrheit, die kaum je eine Chance hat, mit erfolgreicher Angeberei irgendeinem wirklichen, materiellen Erfolg näherzukommen.
Gebildete Seelchen: Angeberei mit kultivierten Selbstzweifeln
Insbesondere der Umgang mit den unausbleiblichen Niederlagen in dieser Konkurrenz gehört zu den raffinierten Kulturleistungen, mit denen die gebildeten Stände, und zwar gerade ihre - noch - erfolglosen oder gescheiterten Karrieristen, die bürgerliche Gesellschaft bereichert haben.
So beherrschen bereits junge Studenten ohne spezielle Schulung die Dialektik der Bescheidenheit und des Selbstvorwurfs. Das Bekenntnis zu einer eingebildeten Unfähigkeit, etwa ein paar Weisheiten zu Papier zu bringen oder vor anderen frei zu reden, kommt da sehr fordernd einher; es will etwa erhobene Ansprüche ebenso ins Unrecht setzen wie vor allem die konkurrierenden Kommilitonen, die sich ohne jedes Verdienst leichter tun. Wer die verlangte Rücksichtnahme verweigert, ist mindestens unsensibel und hat alle nachfolgenden Mißerfolge des bekennenden "Versagers" mit auf dem Gewissen. Die stellen sich auch leicht ein; denn fortan mißt der unverstandene Mensch keine seiner Äußerungen mehr an dem - meist sehr banalen - Konkurrenzzweck, dem er genügen soll, sondern an einem recht umfassenden "Problem", das er sich auferlegt hat. Alles gerät ihm zur Erprobung einer fiktiven Super-Fähigkeit, gewissermaßen der Tüchtigkeit all seiner Vermögen, nämlich seiner "Durchsetzungsfähigkeit". Mißerfolge bei der Bewältigung dieses eingebildeten prinzipiellen Tests setzen ihn in den eigenen Augen entscheidend herab, lädieren nichts geringeres als sein "Selbstwertgefühl"; und daraus, viel mehr als aus Häßlichkeiten seiner konkurrierenden Mitmenschen, erwächst ihm der Zweifel, ob man ihn überhaupt mögen kann: ein fundamentales "Anerkennungsproblem".
Nur gut, daß diese fürchterlich prinzipiellen Probleme meist genauso leicht zu heilen sind, wie der gebeutelte Karrierist sie sich zusammenfindet. Eine lächerliche Aufmunterung oder eine gute Note können ihm, wenn er es so sehen will, die Wertschätzung der Welt für seine Person sichern, sein Selbstwertgefühl entsprechend heben und die Illusion enormer Durchsetzungsfähigkeit vermitteln. Was von solchen "seelischen Tiefs" und "Höhenflügen" nach ein paar Konjunkturzyklen in der Regel bleibt, ist die Übung, damit zu kokettieren oder auch gleichgesinnte Mitmenschen zu drangsalieren. Selbst solche Leute, die es längst nicht mehr nötig haben, schicken ihren Einlassungen gerne den Hinweis voraus, sie seien "gar nicht in Form"; so wollen sie sich für ihre Beiträge, die sie ganz selbstverständlich als eine Selbstdarstellung vor kritischem Publikum verstehen und inszenieren des wohlwollenden Vorurteils versichern, ihr "Selbst" sei auf alle Fälle weit besser als dessen anfechtbare "Darstellung". Die anderen, die "es nötig haben", sind neben ihren paar sonstigen Tätigkeiten sehr damit beschäftigt, den Rest der Welt und möglichst auch sich selbst von der Existenz und Tragweite eines solchen vorteilhaften Unterschieds zwischen ihrem "eigentlichen" Ich und dessen als Leistungsbeweis gemeinten Werken zu überzeugen.
Die Gewohnheit dieser subtilen Form der Angeberei geht kaum ohne schlechtes Gewissen ab, das sich mit dem Zweifel an der Echtheit der eigenen Selbstdarstellung zu Wort meldet; einem Verdacht, der gegen alle anderen natürlich erst recht am Platz ist. Das Problematisieren, wie ernst man es - ganz tief innerlich - mit seinen Gefühlen und Überzeugungen meint, findet da unvergleichlich größeres Interesse als der Gegenstand der fraglichen Gefühle und als die Argumente, die für oder gegen eine Überzeugung sprechen. In gebildeten Diskussionen zählen Begründungen sowieso nur als Material für die Demonstration von "Selbstsicherheit", dem fiktiven Gütesiegel der erstrebten Echtheit; umgekehrt ist die Waffe der "Verunsicherung" längst an die Stelle von Kritik getreten. Nach demselben Muster werden Gefühle, eigene wie fremde, auf einen dauernden Echtheitsbeweis verpflichtet; zum Schluß, wenn sie an die Techniken ihrer Erzeugung bzw. Vorspiegelung schon ziemlich zugrundegegangen sind, werden sie mit der tiefsinnigen Aufforderung zu "mehr Spontaneität!" endgültig erledigt. So machen Leute, die in praktischer Hinsicht ganz andere als proletarische Existenzsorgen haben, in kultivierter Weise sich selbst und einander das Leben schwer; und Depressionen stellen sich ein, wo von materiellen Mißerfolgen und Niederlagen gar nicht groß die Rede sein kann.
Der interessante "Fall" und seine Betreuung: Kindisch-Werden mit Anspruch und Methode
Den Übergang in den Fanatismus betrübter Selbstverurteilungen bewerkstelligen Mitglieder der gebildeten Stände und gehobenen Gesellschaftsklassen auf gehobene und gebildete Weise, nämlich mit Methode und nie ohne bewußte Heuchelei. Man weiß sich selbst als Fall, wenn die Zweifel an der eigenen Persönlichkeit und ihrer "Echtheit" überhand nehmen; man wird nicht einfach ein solcher. Und dieses Bewußtsein ist von einem Interesse ganz eigener Art inspiriert: Ein interessanter Fall möchte man schon wenigstens sein. Auch da läßt sich noch munter konkurrieren. Marotten, die die erlittenen Niederlagen als das Ergebnis einer unausweichlichen Lebensuntüchtigkeit entschuldigen, werden nicht blindlings eingeübt, sondern gleich zu sämtlichen anerkannten Bedürfnissen und Pflichten eines gehobenen Daseins in Beziehung gesetzt und zu einer Selbstdeutung ausgebaut, die durch "systematische Desensibilisierung" und ähnlich unsensibles Zeug nicht zu erschüttern ist. Gebildete Neurosen, die auf Bewunderung Anspruch erheben, geben einen ganz anderen Markt für psychologische Betreuung her, und das keineswegs bloß, weil da die Zahlungsfähigkeit höhere Ansprüche gestattet.
Neurotiker aus der besseren Gesellschaft haben es bei ihren weltlichen Seelsorgern mit lauter Gleichgesinnten zu tun, die ihre "Fälle" mindestens genauso interessant finden wie diese sich selbst - oder das wenigstens heucheln müssen; sonst kriegen sie erst gar keine Kundschaft. Die wird mit dem Angebot gefangen, in intimen Gesprächen das so raffiniert verkorkste "Selbst" mit all seinen Abgründen und Untiefen auszuloten. Die Selbstdeutung wird zur professionellen Selbstbespiegelung vollendet; die unverbrüchliche Treue des Therapeuten zum Patienten hilft diesem ein neues sympathischeres Selbstbild zu malen, das frischen "Lebensmut" gibt. Dabei steht noch sehr dahin, ob ein solcher Abschluß des therapeutischen Bemühens überhaupt in der Absicht einer der beiden Seiten liegt. Der Gesprächstherapeut verkauft mit seinen Sitzungen den Glauben an einen "echten Kern" sowohl der vorgetragenen "Probleme" wie der Persönlichkeit, die daran zu leiden behauptet; den Glauben, den der Klient sonst nirgends findet, noch nicht einmal bei sich selbst. Damit können sich gutbürgerliche Geister glänzend auf die Dauer einrichten - die christliche Beichte ist ja auch nicht mit einem Mal vorbei, sondern soll das gläubige Schaf durchs Leben begleiten. Material für das seelsorgerische Gespräch liefert der Klient mit den - im Laufe einer geglückten Therapie immer zweckmäßigeren - Produkten seines Sentiments und seiner Phantasie, nämlich mit seinen Launen und Assoziationen. Der Therapeut erzieht zur Aufmerksamkeit auf dieselben und bringt Methode und Sinn hinein, indem er beides mit Bedeutung befrachtet - wobei es ziemlich egal ist, mit welcher. Die Sex-Symbolik des alten Freud steht noch immer am höchsten im Kurs, zumindest bei der Kundschaft, weil sie gleich die Sphäre zum Hauptthema macht, in der das Problematisieren der eigenen Selbstdarstellungskünste die ersten und deutlichsten praktischen Wirkungen zeitigt. Mit dem Rückmarsch in die schulmäßig zurechtinterpretierte Kindheit wird zugleich die Methode des ganzen Unterfangens, die Hinlenkung von Verstand und Wille auf und ihre Bindung an das Unverständige und Unwillkürliche, zum vorrangigen Inhalt des hintergründigen Selbstbilds gemacht, in dem das "gestörte" Individuum sich "wiederfinden" soll. Selbst bei gebildeten und vorgebildeten Klienten braucht es natürlich seine Zeit, bis die ihre Assoziationen und Selbstempfindungen gründlich genug in den Dienst der Deutungen gestellt haben, die ihr Therapeut auf Lager hat, und sich wie Beispiele für Freuds Menschenbild aufzuführen verstehen. Aber dafür dauert eine komplette Psychoanalyse mit allem Drum und Dran ja auch ihre Monate und Jahre.
Zu den neueren Errungenschaften auf dem Therapiemarkt zählen einige Radikalisierungen des methodisch geheuchelten Kindisch-Werdens, und zwar in theoretischer wie praktischer Hinsicht. Ganz friedliche Gesprächstherapeuten gehen mittlerweile bei der Fahndung nach den "Kräften", die das Selbst und den "eigentlichen Problemkern" ihrer Fälle ausmachen, über so lebensnahe Vorstellungsbilder wie Trieb, Verbot und ein dazwischen eingeklemmtes Ich entschlossen hinaus und "entdecken" eine Determination durch pränatale "Biorhythmen". Die bestimmen übrigens auch das Geburtsdatum und stellen damit eine glückliche und seriöse Beziehung zum Reich der Astrologie her, die die gewöhnlicheren Leute schon immer als Auskunftsquelle über ihr inneres Erfolgs- und Mißerfolgsgeheimnis genutzt haben. Ernsthaft in der Diskussion sind ebenso alle Spekulationen über ein "früheres Leben" des Individuums, das für das jetzige die Weichen gestellt habe. Entschieden wird über solche "Theorien" mit dem einzigen psychologisch schlagkräftigen "Argument", ob nämlich ein Therapeut seine Klienten dazu bringen kann, sich mit einer derartigen Deutung ihres Lebenskampfes wohlverstanden und "gut" z u fühlen. Und weil das heutzutage allemal gelingt, sind auch sämtliche Albernheiten des Seelenwanderungsglaubens bereits drin im Repertoire psychologischer Aufklärung. Andere Schule radikalisieren mehr die praktische Erziehung zum Kindischen und wollen ihren Kunden als höchsten Erfolg eine Wiederholung des "Urschreis" entlocken, mit dem sie einst nach dem Abnabeln ins eigenständige Dasein eingetreten sind - denn leidet ein Mensch, der "mit seinen Problemen nicht fertig" wird, nicht im Grunde an einer noch nicht durchtrennten Nabelschnur? Dümmer als der "Ödipuskomplex", den gebildete Menschen schon glatt für eine Tatsache halten, ist dieser Einfall auch nicht. Und der schulmäßigen Psychoanalyse hat er eine gewisse Geschäftstüchtigkeit voraus: Urschreien läßt sich in kürzester Zeit und größeren Gruppen "lernen".
Selbstsuche "unpolitisch" und politisiert": Der letzte Sieg der demokratischen Seelsorge über Kritik und den Willen zum Eingreifen
Mit ihrem reichlichen Therapieangebot hat die Psychologenzunft zumindest den einen Publikumserfolg errungen: Jeder aufgeklärte Zeitgenosse - den sein Erfolg nicht, wenigstens zeitweilig, auf angenehmere Gedanken bringt - versteht sich im Prinzip als Fall, auch wenn er zu dessen Abwicklung keinen Therapeuten braucht. Selbst wenn er deren Angebote verachtet oder ironisiert, glaubt er zumindest an die Möglichkeit einer Methode, ein im eigenen Inneren beschlossenes "Geheimnis" aufzudecken und den Problemfall des eigenen Selbst zu lösen. So allgemein verbreitet und fest verankert ist dieses Vorurteil, daß die professionelle Psychologie es schon längst nicht mehr nötig hat, für sich und ihre Allzuständigkeit zu werben. Eher kommt sie mit Warnungen vor allzu großem und naivem Vertrauen auf ihre Leistungsfähigkeit daher; sie läßt es sich nicht mehr nehmen, selber daran zu erinnern, daß "Psychologie nicht alles" ist und daß es für die Lebensgestaltung letztlich nicht auf irgendwelche Rezepte, sondern den "Willen des einzelnen" ankomme.
Mit diesem gelegentlichen Gestus der Bescheidenheit nimmt die etablierte Psychologie nichts zurück, weder von ihrem Standpunkt der totalen Zuständigkeit für die individuelle Lebensführung noch von ihren entsprechenden Betreuungsansprüchen und Hilfsangeboten. Die letzteren immunisiert sie auf diese Weise gegen die unausbleiblichen Enttäuschungen: Im Zweifelsfall hat das Individuum sich nicht genügend angestrengt. Bequem will es eben auch die wissenschaftliche Seelsorge ihren Klienten nicht machen. Und wenn Psychologen sich zu ihrer Unzuständigkeit in Fragen der "realen Verhältnisse" bekennen, dann ist das überhaupt nicht als die Aufforderung mißzuverstehen, um die sollte man sich ohne psychologische Anleitung kümmern. Die Logik ihres Bekenntnisses läuft auf einen ganz anderen Imperativ hinaus: Wo schon die Psychologie mit ihrer Hilfe fürs Individuum nicht hinreicht, da reicht das psychologisch betreuungsbedürftige Individuum schon gleich nicht hin. So formuliert die Psychologenzunft mit ihrer Bescheidenheit geradezu methodisch den Dienst, den sie den Verhältnissen leistet, für die sie sich inkompetent erklärt. Sie entläßt ihre Leute mit einer "geheilten" Einstellung z u den "Aufgaben" und "Umständen" ihres Lebens; mit der, und nicht etwa mit anderen "realen Verhältnissen" - soweit sie nicht selber eine Einstellungsfrage sind -, sollen sie fortan also auch zurechtkommen, und zwar zu ihrer Zufriedenheit. So immunisiert die Psychologie die Welt der Interessen und der Herrschaft, in die sie erklärtermaßen nicht eingreifen will, gegen die Unzufriedenheit der Subjekte, die sie durchaus zu ihrer Sache erklärt. Dieser Befund gilt nicht bloß für solche Schulen der psychologischen Menschenführung, die sich von ihrer "linken" Konkurrenz den Vorwurf des Apolitischen, der "Ausblendung des Gesellschaftlichen" u.ä. eingefangen haben. Die politisierenden Varianten, die mit dem Wahlspruch: "Es gibt kein richtiges Leben im Falschen!" angetreten sind, landen mit ihren unzweifelhaften Erfolgen logischer- und konsequenterweise bei genau demselben Ergebnis.
"Linke" Psychologen haben die Aufforderung in die Welt gesetzt, den Standpunkt der Selbstempfindung und den gar nicht naiven und spontanen Wunsch, sich "ganz einfach" gut zu fühlen "unheimlich gut", wenn's geht - nicht bloß privat zu pflegen, sondern der politischen Welt als Anspruch und idealen Maßstab vorzuhalten. Tatsächlich haben unzufriedene Intellektuelle ein paar Jahre lang in diesem Sinne herumgetan. Als "Spontis" haben sie z.B. das Kriterium des höchstpersönlichen Spaßes auf Universitäten und Politiker angewandt und vieles blamiert - allerdings eben nur vor diesem Maßstab. Die Hoffnung, die blamierten Verhältnisse würden damit auch schon durcheinanderpurzeln, ging nicht in Erfüllung. So blieb eine sehr selbstgenügsame schlechte Meinung über sie übrig: unrettbar "kalt" und "frustrierend" sei die etablierte Gesellschaft, dem Gefühl und jeder Spontaneität feindlich - sogar "unfähig zu trauern". Die praktische Anwendung dieser "Kritik" macht deutlich, wie unpraktisch sie ist und wie fern von jedem Willen, das Kritisierte aus der Welt zu schaffen.
Die "Spontaneität" hat ihren "Sieg", wenn sie die "leblose" Betonwand mit einer Sprühparole verziert oder einen "seelenlosen" Bürokraten vorgeführt hat. Das "Macht kaputt, was euch kaputt macht!" ist am Ziel, wenn die Angesprochenen sich nach wirklichen oder symbolischen Zerstörungstaten "befreit" und einfach "besser fühlen". Die vorsichtigere und entsprechend populärere, schulmeisterliche Aufforderung, "Konflikte auszutragen", ist erfolgreich erfüllt, wenn einer "sich mal was traut" - ganz gleich, was daraus wird.
Die staatliche Reaktion hat tatendurstige Spontis inzwischen noch weit bescheidener gemacht. Der psychologische Aufstand beschränkt sich heute auf die Beschwerde, man könne "sich" in irgendeinen "Zusammenhang" - eine Diskussion, ein Seminar vielleicht gar ein Arbeitsplatz - nicht oder nicht "voll einbringen". Wenn man schon das nicht kann - sehen wir einmal davon ab, warum man das überhaupt wollen soll! -, wie könnte man dann erst ins Geschehen eingreifen? Die Beschwerde selbst attestiert sich ihre Aussichtslosigkeit in Sachen Veränderung; wenn's überhaupt praktisch gemeint war, dann sucht man sich bestenfalls angenehmere "Zusammenhänge".
Dasselbe folgerichtige Schicksal war der "Kriegsangst" beschieden, die viele enttäuschte "mündige Bürger" gegen Ende der sozialliberalen Regierungszeit anläßlich der NATO-"Nachrüstung" an sich entdeckt und von anderen geteilt haben wollten. Diese guten Menschen, die sich auf Kirchentagen und ein paar großen Demonstrationen zusammengefunden haben, brauchten kaum die sofort einsetzende Beratung durch H.E. Richter und gleichgesinnte politisierende Therapeuten, um den entscheidenden Fehlschluß zu begehen und ihre "Angstgefühle" weitaus interessanter zu finden als deren Gegenstand. Das eigene ungute Gefühl galt als Ausweis unwidersprechlicher Betroffenheit und sollte zu demokratischem Engagement in Abweichung von der offiziellen Politik der Nation berechtigen. In diesem Sinne wurden die einschlägigen Empfindungen gepflegt, mit Schreckensberichten über die Wirkungen von Atombomben genährt, gemeinsam besungen usw. Derartige methodische Veranstaltungen, sie dauerhaft zu machen, hält natürlich die beste Angst nicht aus. So schloß sich folgerichtig die Sorge um die Echtheit des Gefühls an, ohne das man sich zu keinem "Widerstand" berechtigt und in der Lage glaubte. Letzterer wurde umgekehrt als Echtheitsbeweis inszeniert, rein nach der methodichen Maßregel: "Man muß doch etwas tun!" - zu ergänzen: 'wenn man es wirklich ernst meint!' Dieses Anliegen, vor dem eigenen Gewissen zu bestehen - und das angesichts der Entdeckung, daß die Republik mit ihrer Rüstungspolitik auf Kriegskurs liegt! -, ist schon weltenfern von dem Willen, irgendetwas zu be- oder verhindern. Deswegen ist es auch nicht als gescheitert zu bezeichnen. Der Lohn , den sie überhaupt bloß verspricht, nämlich das Erlebnis eines gemeinschaftlichen Gefühlsausbruchs, in den man seine eigenen "Ängste" einmal "voll einbringen" konnte, diesen Lohn trägt die Bildung einer Menschenkette oder die Veranstaltung eines "Anti-Kriegs-Festival" allemal in sich. Aber darum geht's dann auch bloß. Die "Arbeitsteilung" mit den Politikern, die fürs Regieren zuständig sind, wird von Bürgern, die vor allem für ihre Treue zu sich selbst zuständig sein wollen, nicht gestört.