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SOWJETUNION HEUTE - EIN REISEBERICHT
Als wir am Flughafen Moskau-Scheremetjewo ankamen, waren wir schon durch Reisepublikationen vor Unannehmlichkeiten bei der Einreise gewarnt. Zunächst konnten wir jedoch außer einem Haufen westeuropäischer Touristen nichts Besonderes ausmachen. Es herrschte ein Andrang auf die Zollabfertigung, der durchaus mit den begehrten Reisezielen des sonnigen Südens vergleichbar war. Allenfalls einige bundesrepublikanische Geschäftsreisende fielen durch vernehmliches Herummosern unangenehm auf; ihnen kam es als Zumutung vor, als Wartende ins touristische Massenpublikum eingeordnet zu sein. Ihnen gegenüber erwies sich der der Reiselektüre entnommene Rat, sich durch keinerlei Querelen zu Unfreundlichkeiten hinreißen zu lassen, schließlich doch noch als nützlich.
Die Businessmen schrieben es der unnatürlich massenfreundlichen sowjetischen Preisgestaltung zu, daß eine so große Menge von Normalverbrauchern ihrem Geschäftsverkehr bremsend entgegenstand: Nur die wenigsten der Wartenden könnten die Preise für Flug und Unterbringung aufbringen, die sie selbst bzw. ihre Firmen - zu zahlen haben. In der Tat kosten schon die im Pauschalarrangement enthaltenen Linienflüge auf dem freien IATA-Markt das 2 1/2-fache des Preises, den das sowjetische Tourismus-Monopol Intourist für die ganze Woche in Erstklass-Hotels bei voller Verpflegung und allen Veranstaltungen verlangt, so daß sich die SU dem kühlen Rechner aus dem Westen, wenn er sich einmal etwas Besonderes gönnen will, geradezu aufdrängt. Dafür muß er freilich bereit sein, eine gewisse Unfreiheit in Kauf zu nehmen: Wenn er die offerierten Leistungen in Anspruch nehmen will, muß er sich zum jeweils angekündigten Zeitpunkt am Bus einfinden. Der Drang des freiheitlich-westlichen Publikums, sich in der Sowjetunion 'frei zu bewegen', sollte sich in der Praxis jedoch ohnehin als ziemlich relativ erweisen: Sobald sie drin waren im großen Völkergefängnis, bevorzugten sie mehrheitlich eine passive Konsumentenhaltung und ließen so ziemlich alles mit sich machen, was das Intourist-Programm ihnen anbot.
Um sich als Konsument die Segnungen des freien Welthandels ausnahmsweise mal zum eigenen Vorteil gereichen zu lassen, muß sich der Westbürger eben ausgerechnet hinter den Eisernen Vorhang begeben. Hier erfährt die Schranke, die sein begrenztes Budget ausmacht, unverdientermaßen dadurch eine gewiise Lockerung, daß dieses sich in einer westlichen Währung beziffert - da verbunden mit dem Umstand, daß die SU durch ihre widernatürlichen Niedrigpreisangebote zu Devisen kommen will, um den Verpflichtungen nachzukommen, die der natürliche Gang des Ost-West-Handels ihr aufmacht. Das ist ihr offenbar so wichtig, daß sie einen erheblichen Betrag der so hereinkommenden Valuta gleich wieder in touristische Anlagen verausgabt: Mittlerweile ist man dazu übergegangen, die Hotellerie komplett aus dem Westen zu beziehen, um ja sicherzugehen, daß man gehobenem Standard gerecht wird. An den hervorragendsten Leistungsträgern des sowjetischen Beherbergungswesens - dem Moskauer 'Kosmos' und dem Leningrader ',Pribaltijskaja' ist außer Sand und Zement keinerlei Materie, die der realsozialistischen Planwirtschaft entstammt, geschweige denn die Planung selbst. So drängt sich denn dem Betrachter eine eklatante Differenz auf zwischen der Touristenunterkunft und den bescheidenen umliegenden Wohnstätten, die oft nicht einmal ihr drittes Jahrzehnt ohne deutliche Anzeichen von Hinfälligkeit erreichen. Zwar fällt diese Differenz in den meisten Reisezielen der freien Hemisphäre noch krasser aus, jedoch hilft das den Russen auch nichts.
Neben dem offiziellen bieten sich dem westlichen Lohn- und Gehaltsempfänger auch andere Wege, in der SU das Reich der Notwendigkeit hinter sich zu lassen: der Kleinhandel, insbesondere der mit Dollar und DM. Dieser ist zwar verboten, jedoch ist der Nachdruck, mit dem ein solches Verbot geltend gemacht wird, offenbar auch in der SU eine andere Sache. Die Schwarzhändler sind sich ihrer Sache jedenfalls offenbar bemerkenswert sicher: Einerseits wickeln sie bedenkenlos an belebtesten Stellen ihren Deal ab, andererseits fühlen sie sich oftmals gerade dann, wenn's ans Nachzählen geht, "beobachtet" und gezwungen, das Weite zu suchen. Der arglose Tourist ist hinterher manchmal um eine Enttäuschung reicher: daß man auch im Sozialismus beschissen werden kann. Wenn nicht, kann er durchaus das Vierfache des offiziellen Wechselkurses erzielen und sich so einige Güter gönnen, die auch hierzulande als Luxus gelten. Wer will, kann jeden Abend damit herumbringen, einen Tisch in einem Restaurant aufzutun, um gegen billige Rubel in Erfahrung zu bringen, ob Krimsekt und Kaviar glücklich machen.
Das offiziell vermittelte moderne Rußland präsentiert sich dagegen viel weniger als Land der Eß- als der höheren Kultur. Was das Erscheinungsbild der Städte anbelangt, so galt der meiste Aufwand der letzten Jahre dem Vorhaben, die von Mütterchen Rußland vermachten Baudenkmäler wieder aufzupäppeln. Die Zwiebeltürme wurden neu vergoldet, Trümmerhaufen wieder aufgerichtet, wenn sie vorher eine Kirche waren. Leningrad läßt sich seinen Ruf als 'Venedig des Nordens' einiges kosten und saniert unter strenger Wahrung der Architektur von Sankt Petersburg. Der dortige Heldenfriedhof, Massengrab der bei der faschistischen Belagerung angefallenen 1 Million Leichen, ist inzwischen ebenso aus dem Besichtigungsprogramm genommen worden wie Lenins Einzelgrab am Roten Platz. Dafür wartet die sowjetische Reiseführerin mit einer bemerkenswerten historisch-kulturellen Bildung auf und vermag die Geschichte der Romanows auf unterhaltsame Weise nahezubringen. War allerdings die Vergangenheit Spielball der Zufälligkeiten dynastischer Erbfolge und höfischen Intrigenspiels, so zeichnet sich die moderne Sowjetunion als geregeltes Gemeinwesen aus. Da gibt es einen Staatsgründer, alle möglichen Institutionen, Wahlen und Gewerkschaften, so daß der westliche Besucher eigentlich nichts zu vermissen hätte. Manch einer tut's trotzdem, will auf einmal nicht sicher sein, daß die Leute von Wahlen und Gewerkschaften - staatstreuen, versteht sich - viel haben, und verfällt darauf, es der Intourist-Führung als Verdachtsmoment auszulegen, daß sie ausgerechnet das erzähle, was er vermeintlich hören wolle. (Bei einigen besonders Aufgeweckten hatte bereits die Tatsache, daß die Moskauer Reiseführerin ebenso wie die in Leningrad sich als 'Irina' vorstellte, den Argwohn geweckt, hier könnte etwas dahinterstecken. Gleichschaltung?)
Gut, daß immer auch noch eine bundesdeutsche Begleitperson dabei ist, die bei jeder Gelegenheit mit heißen Informationen von hinter der Fassade einspringt. Erst von ihr erfuhren wir, daß die Russen ihre Hochzeiten zumeist im Restaurant feiern, da ihre Wohnungen für größere Gesellschaften zu klein sind, daß sich die Ordnungshüter in diesem Land oft so einiges herausnehmen, weshalb man sie fragen solle, welches Gesetz sie dazu ermächtige, und daß überhaupt oft irgendwas nicht klappt.
Die Innenstädte frappieren den Betrachter zuallererst durch das, was Stalin ehedem als die wichtigste Produktivkraft des Sozialismus bezeichnete: einen ungeheuren Reichtum an Menschen. Mo-Sa 9.00-21.00 (Ladenschluß!) herrscht ein Remmidemmi wie hierzulande allenfalls an verkaufsoffenen Samstagen, so daß sich unwillkürlich die Frage auftut, wie es um die sonstigen Verpflichtungen der Leute bestellt ist. Offenbar scheint es ihnen eine Art gleitender Arbeitszeit zu ermöglichen, sich auch tagsüber dem Shopping zu widmen. Dabei ist freilich zu bedenken, daß dieses im Realen Sozialismus einen ungleich höheren Aufwand an Privatinitiative erfordert als im Westen. Vor dem tatsächlichen Händelwechsel der sozialistischen Ware heißt es einerseits, weite Wege zu gehen, andererseits, einen gewissen Zeitaufwand in eine gesellschaftliche Aktivität zu investieren, die in Mitteleuropa unter der Bezeichnung 'Queuing' als spezifisch angelsächsiche Tugend firmiert. Ob die Warteschlangen in erster Linie durch eine Mangel an Versorgungsgütern verursacht sind, ist nicht ohne weiteres auszumachen. Immerhin steht fest, daß es die Dinge, um die die Leute anstehen, auch geben muß.
Ersichtlich ist ebenfalls, daß die Organisation der Distribution anderen Kriterien folgt als den hierzulande geltenden. Während die Konzentration des Warenhandlungskapitals den westlichen Kunden zunehmend mit dem Prinzip 'Alles unter einem Dach' beglückt hat, weisen die staatsmonopolistischen Konsumbetriebe einen erstaunlichen Spezialisierungsgrad auf. Da gibt es ihn noch, den echten Milchladen, dessen Verschwinden von westlichen Gemütsmenschen beklagt wird; umgekehrt haben Warenhäuser wie z.B. das 'Glavvnyj Universal'nyj Magazin (GUM) ihrem Titel zum Trotz auch nur einen Teil dessen im Sortiment, was das sozialistische Marktgeschehen hergibt. Was es nun eigentlich alles gibt, ist so für einen Außenstehenden nicht abschließend zu beurteilen. Auf jeden Fall wurden niemals zwei Leute angetroffen, die den gleichen Mantel trugen.
Eine umfassende Marktübersicht wird zudem durch die Käufer erschwert, die sich in großer Zahl um die Ladentheken versammeln. Die Warenausgabe erfolgt nämlich noch überwiegend von Mensch zu Mensch, da es sich bei weitem noch nicht durchgesetzt hat, mittels Selbstbedienung den Kundendurchsatz zu erhöhen und die Personalkosten zu senken. Überhaupt konnten sich im Reich der Gleichmacherei noch eine Reihe von Dienstleistungs-Trägern halten, die in unseren Breiten größtenteils hinausrationalisiert sind. Für Garderobe wird nicht 'selbst gehaftet', sondern diese wird am Restaurant-Eingang von zwei rüstigen Veteranen der Produktionsschlacht unentgeltlich in Verwahrung genommen; beim Verlassen des Lokals bekommt man nicht nur den Mantel wieder angezogen, sondern auch einen Klaps auf die Schulter. Hinter dem Hoteleingang sitzt ein anderer älterer Herr in einem wuchtigen Kunstleder-Fauteuil und strahlt den ganzen Tag Gelassenheit aus. Darauf angesprochen, daß der Schuhputz-Automat nicht funktioniert (am Rande bemerkt: ein westdeutsches Fabrikat), ist es ihm selbst 5 Kopeken wert, sich von diesem Mißstand zu überzeugen, woraufhin er sich mit den tröstenden Worten 'Wir werden's überleben' wieder auf seinen Sessel zurückzieht. Den Zimmerschlüssel gibt's nicht an der Rezeption, sondern bei der zuständigen Etagenfrau, der 'Dezurnaja', derer in jedem Stockwerk rund um die Uhr mehrere sitzen. Da sie nichts tut außer die Schlüssel zu verwalten - und durstigen Nachtschwärmern gegen ein Dankeschön einen Tee zu kochen -, hält sich in eingeweihten Kreisen hartnäckig das Gerücht, dieser Berufsstand sei zur Überwachung der Gäste eingerichtet. Davon unbeeindruckt verkürzt sich die Dame ihre Dienstzeit durch die Lektüre eines guten Buchs.
Besonderes Gewicht wird hierzulande der Frage beigemessen, ob man mit den Russen auch reden könne. (Bekanntlich gehört die Diskussion mit Einheimischen zu den bevorzugten Reisezwecken bundesdeutscher Urlauber.) Antwort: Ja, mit folgenden Einschränkungen:
Die Leute sprechen vorwiegend russisch.
Sie lassen in der Regel jegliche Neigung vermissen, sich über ihre Zugehörigkeit zum Sowjetvolk zu beschweren. Umgekehrt finden sie es aber auch gar nicht befremdlich, daß jemand einen westlichen Paß mit sich herumträgt. Sie halten es offenbar für gerecht, daß man den 'Patriotismus', den man selbst beansprucht, auch auf der Gegenseite akzeptiert. Ansonsten sind sie ganz normal und jedem Gespräch darüber zugänglich, wie man mit seinem Kram zurechtkommt und die Welt sieht.
Mit dem Westbürger, der zu diesen Vorleistungen bereit ist, würde manch Russe auch gern auf die Völkerfreundschaft anstoßen. Allerdings stellt der vom Generalsekretär verschriebene Alkoholentzug einen schweren Schlag gegen die in der sowjetischen Gastronomie ohnehin schwach entwickelte Gemütlichkeit dar. Den Touristen, der nichts weiter als kulturfreie Entspannung sucht, zwingt er unverdientermaßen zum Rückzug in die Devisenbar des Intourist-Hotels, wo er sich - als wär's von den Sowjets beabsichtigt - den Genuß holländischen Bieres durch die lautstarke Dominanz der atlantischen Bündnispartner vergällen lassen muß, deren Belästigungen das friedliche Zusammenleben der Völker auf eine harte Belastungsprobe stellen. Eine besoffene Ami-Schwuchtel gibt ihre freie Meinung zum Besten, daß sie Gott liebt, den Russen jedoch von deren Medien die Wahrheit vorenthalten werde.
Anderntags kaufen wir eine 'Pravda', um der Sache nachzugehen. Die Seiten 1-4 handeln von internen Angelegenheiten, deren Realitätsgehalt zu bezweifeln sich kein Anlaß bietet: Widergabe von Reden, Berichte aus Wirtschaft und Kultur, von nützlichen Initiativen und ehrenvollen Jubiläen. S. 5 ist zu entnehmen, daß die US-Army in Libyen zugeschlagen hat und vor der nicaraguanischen Grenze gelandet ist. Präsentiert werden diese Fakten allerdings unter dem Vorzeichen, daß sie durch weite Teile der fortschrittlichen Weltöffentlichkeit und der UNO bereits die gebührende Zurückweisung erfahren haben - so daß sich der Eindruck aufdrängt, hier solle etwas heruntergespielt werden. Sollte die US-Bürgerin das gemeint haben?
Das untere Drittel der Seite handelt vom Mailänder Dom. Dieser, ein besonders schönes Beispiel der Spätgotik, präsentiere sich nun, nach gründlicher Renovierung bis hinauf zur oben thronenden Madonna, in neuem Glanz. Es scheint, als würden die Sowjets noch anfangen, Gott zu lieben, wenn sie dafür vom Westen in Frieden gelassen würden.