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Dieser Artikel ist in der MSZ 7-1986 erschienen.

Demonstrationsauftrieb in Hamburg
EIN RECHTSSTAATLICH-DEMOKRATISCHES CHILE

"SPIEGEL: Herr Senator Lange, Sie sind verantwortlich für einen Polizeieinsatz auf dem Hamburger Heiligengeistfeld, der in der Bundesrepublik beispiellos ist und Kritiker... an 'chilenische Verhältnisse' erinnert.

LANGE: Ich weise jeden Vergleich mit einem Unrechtsstaat wie Chile zurück." (Spiegel 25/1986)

600 Hamburger, die auch nach Wackersdorf und Brokdorf das Demonstrationsrecht dahingehend mißbrauchen wollten, daß mit ihm eine Erlaubnis zum Demonstrieren erteilt wäre, wurden von der Polizei eingekesselt, 12 Stunden lang belagert, einzeln sistiert, erkennungsdienstlich verprügelt und nach stundenlanger Haft irgendwo möglichst weit vom Wohnsitz ausgesetzt. Sie hatten übersehen, daß in der BRD seit geraumer Zeit in Sachen Protest alles verboten ist, was nicht ausdrücklich erlaubt wird.

Hier demonstriert nur einer - die Staatsgewalt!

Auf dem Heiligengeistfeld hatten sich Leute versammelt, denen es am 7. Juni nicht gelungen war, zur Kundgebung nach Brokdorf vorzudringen, weil eine komplette Polizeiarmada aus allen 3 Waffengattungen "weiträumig" absperrte, aus der Luft "observierte" und sogar mit Booten auf den Fleeten "operierte". Während die Demonstranten ihren Protest nachholen wollten, hatte der Senat der Freien und Hansestadt für sie einen Nachhilfeunterricht von der handfest-anschaulichen Art beschlossen: Als sollten jedem einzeln Illusionen über die Demokratie ausgeprügelt werden, der die Lektionen vom Vortag verpaßt hatte, stürmte die Polizei auf den Platz mit dem Vorwand, man müsse verhindern, daß von der Versammlung "Gewalttätigkeiten" ausgingen. Dafür inszenierten die Freunde und Helfer rings um den Platz selbst jede Menge Krawall, verprügelten Passanten, die den Eingekesselten Wasser bringen wollten, und zerdepperten einem Taxi-Konvoi die Windschutzscheiben, weil sie in ihm einen "Unterstützertrupp von außen" erkannten. 12 5tunden lang führte die rechtmäßige Gewalt vor, daß sie zu allem fähig ist, wovon man sonst immer nur liest in den Nachrichten aus "Polizeistaaten". In Hamburg wurde streng nach Vorschrift und Weisung der zuständigen Instanzen der Beschluß ausgeführt, an 600 Leuten ein Exempel zu statuieren: Sie sollten fertiggemacht werden. So gab es auf dem Heiligengeistfeld auch nichts zu verhandeln, was Abgeordnete der GAL versuchten. Nach Hause gehen, so lautete das "Angebot" der Einsatzleitung, durfte, wer sich mit seiner "vorläufigen Festnahme" und erkennungsdienstlichen Behandlung einverstanden erklärte. Bedingungslose Kapitulation also. Als der größte Teil der Anwesenden sich weigerte, ging nichts mehr, nicht einmal der Gang zur Toilette, und die Polizei zog zeitweise ihren Belagerungsring so eng, daß nicht einmal mehr Platz blieb zum Hinsetzen.

Die rechtsstaatlich-demokratischen Aufräumarbeiten

gingen los, kaum daß die letzten der Demonstranten abgeführt worden waren. Der zuständige Senator übernahm die Verantwortung:

"Die Polizei hat entschlossen und umsichtig gehandelt. Durch ihr rechtzeitiges Eingreifen ist es ihr gelungen, den geplanten gewalttätigen Zug durch die Stadt zu verhindern. Ich billige die Einsatzkonzeption und die polizeilichen Maßnahmen ganz ausdrücklich. Sie waren nach der Situation erforderlich und angemessen." (Innensenator Rolf Lange, 10. Juni)

Die öffentliche Kritik, die als "Sturm der Entrüstung" losbrach, galt von Anfang an und in voller Übereinstimmung bei allen Beteiligten der Berechtigung und der Angemessenheit einer Polizeimaßnahme. Daß gegen "Chaoten" zugeschlagen werden muß, auch mit (fast) allen Mitteln, darüber herrscht Grundkonsens unter Demokraten. Kritik kommt auf, wenn Leute mit "Chaoten" verwechselt werden, die nachweislich keine sind, sondern friedliche Bürger, die ihren Dissens mit bestimmten Maßnahmen des Staates ausdrücklich als Staatsbürger und im Rahmen des Erlaubten vortragen wollen. Auf dem Heiligengeistfeld hat es sich mehrheitlich um eben solche gehandelt. Jetzt waren sie behandelt worden wie Staatsfeinde. So meldeten sich Pastoren, Väter, Mütter, Lehrer, Beamte, Studenten, Schüler usw. bei den Zeitungsredaktionen und berichteten über ihr Schicksal. Die von der Politischen Führung beabsichtigte Demonstration, daß jeder eins auf die Schnauze kriegt, der zum falschen Zeitpunkt am unpassenden Ort rumsteht, war "übers Ziel hinausgeschossen", so daß jetzt sogar Journalisten und Honoratioren, die garantiert nie in ihrem Leben freiwillig zum Demonstrieren gehen würden, besorgt nachfragten, ob nicht mit Maßnahmen wie auf dem Heiligengeistfeld das Demonstrieren überhaupt zu einem Risiko für die körperliche Unversehrtheit gemacht würde.

Der Senat entschloß sich zu reagieren, zumal in seinen eigenen Reihen Meinungsverschiedenheiten aufkamen und öffentlich ausgetragen wurden. Die Senatoren Ehlers und Kuhbier hielten die Vorgehensweise des Kollegen Lange für unangemessen. Sie werden nämlich zum "linken Flügel" der Hamburger Sozialdemokratie gerechnet und haben als solcher eine wichtige Funktion beim Kampf um Wählerstimmen in Kreisen, die für die GAL anfällig sind. Dieses Jahr noch wird in Hamburg gewählt. Also waren sie ihrer Partei Bedenken schuldig.

Die politische Führung beschloß, die öffentliche Kritik am Polizeieinsatz als Diskussionsgegenstand innerhalb des Senats zu würdigen, damit aufzufangen und mit einer Senatserklärung hervorzutreten. Die bekräftigte die Berechtigung und Richtigkeit des polizeilichen Vorgehens gegen unerlaubten Protest, indem sie der Stilkritik Rechnung trug, daß dabei angemessen zu verfahren sei: Man gab sie extrem abgewogen.

"In dem Papier hält der Senat den Eindruck der Polizei für 'vertretbar', auf dem Heiligengeistfeld entstehe ein gefährliches Gewaltpotential. Die Polizei habe ihr Handlungskonzept bis kurz nach 12 Uhr offengehalten, etwa um 11.15 Uhr habe der Einsatzleiter die Entscheidung getroffen, 'daß ein solches Gewaltpotential nicht ohne großen Schaden für die Stadt am Ort zerstreut werden dürfte'." (Zitate aus der "Süddeutschen Zeitung" vom 14.6.)

Die Debatte um die "Angemessenheit der Mittel" darf selbstverständlich nicht dazu führen, der Polizei bestimmte Mittel überhaupt zu verbieten:

"'Der Senat hält Einschließungen in außergewöhnlichen Situationen für zulässig, wenn den rechtsstaatlichen Abwägungen Genüge getan wird'... Aus der Sicht der Polizei halte der Senat die Einschließung am vergangenen Sonntag 'prinzipiell für vertretbar'..."

Kesseltreiben und Massenverhaftungen als Methode, Protestierer aufzumischen, wurden damit ausdrücklich ins Repertoire polizeilicher Ruhe-und-Ordnungs-Stiftung aufgenommen. Erörtert wurden nur Zweckmäßigkcit und Art der Durchführung: War das Vorgehen erfolgsorientiert, war es zielführend und hat die Einsatzleitung auch abgewogen ans Recht gedacht. Im vorliegenden Fall stellte der Senat im nachhinein fest, daß nicht optimal verfahren wurde. Jetzt hält er nicht mehr für "vertretbar", was er aus politischen Erwägungen nicht mehr vertreten wollte:

"Die Dauer der 'Einschließung' der rund 800 Kernkraftgegner am vergangenen Sonntag auf dem Hamburger Heiligengeistfeld ist vom Senat der Hansestadt kritisiert worden. 'Von der Entscheidung zur Einschließung bis zur letzten Entlassung eingeschlossener Demonstranten vergingen über 15 Stunden'... Der Senat halte eine solche Frist auch unter Berücksichtigung besonderer Umstände für 'nicht vertretbar'."

Fazit: Die Polizei hat in Übereinstimmung mit Auftrag und Absicht der politischen Führung gehandelt. Bloß auf die Uhr hätte sie schauen sollen. Damit war das Thema Verhältnismäßigkeit der Mittel abgehakt.

Die personellen Konsequenzen

von denen wenig bis kaum etwas öffentlich bekanntwerden wird, liegen auf jeden Fall in den feststehenden polizeilichen Erfolgen: 600 Namen und Adressen mit den dazugehörigen Bildchen und Fingerabdrücken. Inzwischen längst registriert, katalogisiert, computerisiert. Die Staatsgewalt vergibt selten, dafür merkt sie sich jeden: auf jeden Fall und für alle Fälle. Die öffentliche Kritik, allen voran die hanseatischen Liberaljournalisten in "Spiegel", "Stern" und "Zeit", monieren so was nur, wenn's erstens einen garantiert "Unschuldigen" trifft und zweitens überhaupt bekannt wird. Sie fordern als "personelle Konsequenz" den Rücktritt des zuständigen Senators Lange. Dessen "Spiegel-Gespräch" läßt sich entnehmen, daß dieser Sozialdemokrat eine der traditionsreichsten Strömungen dieser Partei verkörpert, die von Gustav Noske bis Manfred Schreiber immer wieder der öffentlichen Gewalt wertvolles Personal zur Verfügung gestellt hat. Dagegen hat der "Spiegel" selbstverständlich nichts. Seine Befrager des Oberpolizisten Lange merken nicht einmal, daß ein demokratischer Senator aus der BRD nur deshalb über Pinochet die Nase rümpft, weil dort nicht unser Polizeiaufgabengesetz gilt:

"SPIEGEL: Wer dabei war, weiß, daß Männer und Frauen gezwungen waren, inmitten der Eingeschlossenen und unter obszönen Bemerkungen von Polizisten ihre Notdurft zu verrichten.

LANGE: Das bestreitet die Polizei ausdrücklich. Wenn es tatsächlich vorgekommen ist, halte ich das für bedenklich. Daß die Leute dort ihre Notdurft verrichtet haben, kann auch andere Gründe haben."

Vielleicht aus Angst in die Hosen geschissen? Daß ein Mann mit einer derart ausgeprägten KZ-Wärter-Mentalität im öffentlichen Dienst der BRD Karriere macht und deswegen nie und nimmer auffällig wird - das könnte wirklich zu denken geben. Was das Auswechseln solcher Personen allerdings für eine Konsequenz zeitigen soll, erschließt sich nur Demokraten, denen die "Innenausstattung der Macht" (ein schönes Wort von Peter Glotz für den Zusammenhang von Charaktermaske, Herrschaftstricks und schlichter Gewalt) über alles geht, weil sie in ihre Inhalte samt und sonders verliebt sind. Sicher, Lange hat den Auftrag zum "geplanten gewalttätigen Aufzug durch die Stadt" gegeben, den seine Polizeitruppen erfolgreich ahsolviert haben; r gibt die berechnenden Lügen vom "RAF-Umfeld" usw. heraus, mit denen man sich politische Einsatzplanung und polizeiliche Durchführung einleuchten lassen darf; r beherrscht den politischen Zynismus, sich nach der präventiven Generalfestnahme einer ganzen Demonstration "Dank und Anerkennung" auszustellen.

Der Mann ist verantwortlich - aber doch nicht für "Übergriffe"..., die rein persönlich motiviert wären, die jenseits demokratischer Politik und ihrer Zwecke lägen; doch nicht für ein Amt, das sich vorbildlich abheben würde von den politischen Leistungen, die der Amtsinhaber Lange so eindrucksvoll zustande bringt. Der Mann ist verantwortlicher Politiker. Als solcher kennt er kein anderes Maß für sein Tun als die Politik, die er und seinesgleichen ausschließen und dann unter Einsatz der dafür nötigen Mittel kompromißlos verantworten. Dazu ist er berechtigt. Durch das Recht, das er qua Amt besitzt. Das macht ihn gefährlich. Und das wird auch nicht anders, wenn das Personal der Macht ausgetauscht wird.

Der Sieger auf dem Heiligengeistfeld und anderswo

bleibt die lebendige Demokratie - mit oder ohne ihren Lange. Und zwar in ihren beiden Abteilungen, den Machern oben und den Eingemachten unten. Der Senat hat abräumen lassen - und jetzt läßt er prüfen, ob das beim nächsten Mal nicht zügiger zu machen geht. Die kritische Öffentlichkeit hält den "Vorgang" für "skandalös" und erwartet die Auswechslung der Verantwortlichen, sollte sich ihre Verantwortung herausstellen; ansonsten mindestens 1 Disziplinarverfahren gegen beteiligte Polizeibeamte wegen Übereifer im Dienst. Und die alternative Szene kann in der "taz" verfolgen, wie die Obrigkeit nachträglich ins Schwimmen geraten sein soll, weil ihre unteren Chargen notorische Tölpel sind, die ihre Vorgesetzten immer wieder in Verlegenheit bringen:

"Doch ähnlich wie die Polizeiketten auf dem Heiligengeistfeld lief dann im Senat alles aus dem Ruder... Ehlers und Kuhbier flippten aus und schrieben Briefe mit der Kerndrohung, daß, sollten die Kontroversen auch in der Bürgerschaftssitzung verschwiegen werden, sie selber in die Bütt gehen würden." (taz, 13.6.)

Die Polizei sei auf dem Heiligengeistfeld "aus dem Ruder gelaufen"! Welch kurzer Weg von dem Vorwurf "wie in Chile" zur Begutachtung der Polizeiaktion als quasi ungewollte Entgleisung, die durch persönliche Verantwortungsübernahme ausgebügelt werden muß! Nicht nur die Moral ist im alternativen Lager zu Hause, sondern auch der überlegene politische Überblick, so daß sich selbst SPD-Spitzenfunktionäre als Zeugen der eigenen Sache anführen lassen können.

Die Parteien berechnen den StimmenniedeJschlag, und die Szene registriert einen Stimmungsaufschwung. Das war's dann mal wieder.