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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1986 erschienen.

9331 Tage Berliner Mauer
EINE BESTRITTENE GRENZE

1. Das unter dem Namen "die Mauer" bekanntgewordene Bauwerk steht zwischen Ostberlin, Hauptstadt der DDR, und Westberlin, Teil der BRD. Es handelt sich also dabei um nichts anderes als um eine Grenze. Kein Staat duldet ein von ihm nicht kontrollierbares Stück Übergang in einen anderen Staat. Dafür werden überall die erforderlichen baulichen Vorkehrungen getroffen, und in einer Stadt ist eine Mauer die technisch zweckmäßigste Lösung, um das Hin und Her zwischen zwei Souveränen unter die von ihnen beabsichtigte Aufsicht zu stellen.

2.

Diese Selbstverständlichkeit pflegen die Reden auf die Mauer grundsätzlich nicht zu erwähnen. Das Stück Grenze selbst kann dafür wenig - die Bundesrepublik, die völlig selbstverständlich und in aller Bescheidenheit einen Rechtsanspruch auf die ganze DDR vor sich her trägt, hat vielmehr die Mauer zum Inbegriff des Unrechts erklärt, daß dieses Programm bislang noch nicht in Erfüllung gegangen ist. Weil die Bundesrepublik dem sozialistischen Deutschland kein staatliches Existenzrecht zugestehen will, einzig deshalb ist die Mauer ein Skandal.

3.

Einzig deswegen gibt es sie andererseits überhaupt. Die Mauer ist die realsozialistische Antwort auf die vom Westen eröffnete Konkurrenz um die Benutzung auch des nach drüben abgeteilten Volkes. Dieser Anspruch, der paß- und rechtswirksam erhoben wurde und wird, hat jahrelang bei nicht wenigen DDR-Untertanen verfangen. Sie haben bisweilen daheim alles liegen und stehen lassen, auf den innigen Verkehr mit ihrer Verwandtschaft gepfiffen und sich dem "Wirtschaftswunder" zur Verfügung gestellt. Und von den Daheimgebliebenen haben sich viele nicht auf die DDR als dauerhaften Dienstherrn eingestellt. Dieser Abzug von Loyalität und Baufacharbeitern hat die Staatsgründer in Pankow nicht bloß geärgert, sondern ihrem Aufbauwerk schwer geschadet. Deswegen haben sie ihn durch den Mauerbau unterbunden. Gestorben war damit auch die Bequemlichkeit der westlichen Spionage- und Subversionsapparate, sich drüben zwanglos zu tummeln.

4.

Westdeutsche Politiker verkaufen ihre großdeutschen Pläne mit dem rührseligen Bild von dem großen Gefängnis, das die Mauer dicht gemacht haben soll. Was ihnen an anderen Grenzen und bei anderen Anlässen (Tamilen) als selbstverständliches Recht gilt, daß jeder Grenzübertritt ein staatlicher Hoheitsakt ist und sich vor dem Verfügungsrecht über die jeweiligen Untertanen auszuweisen, an dessen Ge- und Verboten auszurichten hat -, das erklären sie an der Mauer zum himmelschreienden Unrecht. Da fallen ihnen regelmäßig "die Menschen" ein, deren Herzensbedürfnissen diese Grenze zuwiderlaufen soll. Der deutsche Sonderimperialismus, die speziell deutsche Berechnung im Rahmen des NATO-Programms zur Beseitigung des Ostblocks, das verfassungsmäßige Wiedervereinigungsgebot, beliebt sich als Vollstreckung der elementarsten Bedürfnisse der Menschen darzustellen, die doch "bloß zueinander wollen". Ein Kriegsprogramm zum Zweck von Verwandtenbesuchen - diese Grund- und Hauptlüge deutscher Politik hat sich in der Mauer ihr Denkmal ausgesucht.

5.

Für die Glaubwürdigkeit dieser Konstruktion müssen gewohnheitsmäßig die Rübergemachten herhalten, also der Hinweis auf die Erfolge vor dem Mauerbau, der DDR die Kontrolle über ihr Staatsvolk streitig zu machen. Die trostlose Alternative, wem man sich lieber dienstverpflichten sollte, einem realen Sozialismus, dessen Gründungskosten die BRD damals nach besten Kräften hochgetrieben hat, oder einem wirtschaftswundermäßigen Kapitalismus, der damals gar nicht genug Arbeitergenerationen verschleißen konnte, hat die BRD damals den Deutschen auf dem Boden der DDR angetragen - dafür war das völkerrechtliche Unding einer offenen Grenze gut. Daß zahlreiche Bewohner der DDR die "Chance", an einer hemmungslos erfolgreichen Ausbeutung mitzuwirken, der Aussicht auf die mühseligen Erfolge einer immer besseren Beherrschung der ökonomischen Gesetze des Sozialismus vorgezogen haben, benützt die BRD für ihre triumphierende Beweisführung: "Bei uns kann man aus seinem Leben etwas machen!" Einer von damals ist zum Beispiel sogar ein Genscher geworden.

6.

Egal, wie sich die DDR-Bürger heute entscheiden würden, wie der Systemvergleich in Sachen "Chancen" und Wohlstand heute ausfällt, ob sich Duscharmaturen zwingend gegen eine in allen Hinsichten gesicherte Reproduktion aufrechnen - seit dem Mauerbau gilt das Dogma, daß DDR-Bürger kein anderes Bedürfnis haben, als überzusiedeln bzw. bei sich zu Hause bundesrepublikanische Verhältnisse eingerichtet zu bekommen. Und wenn sie es anders sehen, können sie einem gestandenen Bundesdeutschen nur leid tun. So gründlich ist es westdeutschen Staatsbürgerköpfen eingebimst worden, daß der offizielle Antikommunismus nur um der Brüder und Schwestern willen veranstaltet wird. Was das Programm "Frieden in Freiheit" ihnen jeweils abverlangt, unterliegt selbstverständlich keiner Prüfung.

7.

Die westdeutsche Politik hat also allen Grund, jedes Jahr die Mauer festlich zu begehen. Die 25 Jahre sind nun mit einem besonderen Einfall gekrönt worden: Der US-Präsident hat seinem europäischen Frontstaat die Ehre erwiesen und das Stichwort gegeben: Es war ein Fehler seines damaligen Vorgängers, den Mauerbau überhaupt zuzulassen.

Damals wird es dem amtierenden Präsidenten zwar um etwas anderes gegangen sein; es hat immerhin ein gemeinsames Interesse beider Großmächte gegeben, die Berlin-Frage zu regeln, um aus der Kalten-Kriegs-Konfrontation heraus und miteinander ins Geschäft zu kommen. Reagans historischer Schiedsspruch ist aber auch mehr zeitgemäß gedacht: Angst vor einem Krieg ist ein schlechter Ratgeber. Der Wille zur Durchsetzung ist das einzige, woran sich die Politik halten soll, und damit werden die fälligen Kriege dann auch schon gewonnen.

8.

Die Deutschlandpolitiker aller Fraktionen haben das Präsidentenwort mit Genugtuung entgegengenommen und ihren Erfolg gewürdigt, daß die "Gemeinsamkeit und Einigkeit im Bündnis", die damals angeblich gefehlt haben soll, heute voll hinter ihrem Programm steht. Aber sie haben auch der Historie Gerechtigkeit widerfahren lassen und ein Stichwort von der anderen Seite übernommen. Daß die Mauer "den Weg von der Konfrontation zur Entspannung" geebnet, eine "Bedingung für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa", also "den Frieden gesichert" hat, diese alljährliche Honecker-Rede auf die Mauer, die alljährlich als "menschenverachtender Zynismus gebrandmarkt" wird, wird heutzutage auch bestätigt. Ungerührt von den eigenen Hetzreden auf die Mauer geben sich die Deutschlandpolitiker auch verständnisvoll, gestehen der DDR zu, daß sie zwingende Gründe für den Mauerbau gehabt hat, daß damit überhaupt erst ihre staatliche Konsolidierung möglich wurde - und geben sich überaus zufrieden mit deren Resultaten.

Die Wiedervereinigungspolitiker wissen, welche Erfolge sie mit der Entspannungspolitik nach dem Mauerbau zustandegebracht haben, wie hervorragend sie das Bedürfnis der DDR-Oberen nach innen- und außenpolitischer Konsolidierung ausgenützt haben. Unmittelbar nachdem sie Honecker als Gefängnisaufseher tituliert haben, klopfen sie ihm anerkennend auf die Schulter - von wegen "gestiegenem Selbstbewußtsein der DDR": "Sie wurde berechenbarer."

Die DDR hat ein einmaliges Prinzip wahrgemacht: den Handel von Anerkennung gegen die Erlaubnis, in sie hineinzuregieren. Ein paar Zugeständnisse in Gestalt einer flauen Anerkennung mit lauter völkerrechtlichen Wenns und Abers und die Erpressung der DDR mit ihrem Interesse an Handel und Wandel haben genügt, um die Mauer für die praktisch bedeutsameren BRD-Anliegen so durchlässig zu machen wie gewünscht. Geschäftsinteressen des deutschen Kapitals werden durch keinerlei Grenzformalitäten behindert, Strauß, Kohl und Weizsäcker betreten DDR-Boden, sooft und wie es ihnen protokollarisch paßt. Und die sogenannte innerdeutsche Politik, eine einzige Einmischung der BRD in Regierungsangelegenheiten der DDR, legt regelmäßig ihre Erfolgsbilanzen vor.

9.

Der DDR-Nationalismus mag der Auffassung sein, daß auch er mit dem innerdeutschen Verkehr auf seine Kosten kommt. Daß damit aber auch "der Frieden immer sicherer" wird, diese ostblockübliche Übersetzung benötigt einen starken Glauben. Die Erfolge, die die bundesdeutsche Politik bei der friedlichen Vereinnahmung des anderen Deutschland zu verzeichnen hat, bringen das in der Mauer vergegenständlichte "Unrecht" nicht zum Verschwinden, im Gegenteil. Je zufriedener sich Strauß und andere deutschlandpolitische "Pioniere" über den aktuellen Stand der Beziehungen äußern, um so zuversichtlicher blicken sie in die Zukunft, die nach ihrer Einsicht, "geschichtlich gesehen", die DDR immer mehr zum Provisorium verurteilt hat.

10.

Insofern hat die Grußbotschaft von Ronald Reagan genau gepaßt, auch wenn er bei so vertrackten Fragen, warum Russen in Berlin herumfahren dürfen, sicher nicht ganz durchgestiegen ist, wie schon andere US-Präsidenten vor ihm. Was er "uns" sagen wollte: "Fehler" lassen sich korrigieren. Zum Vorgeschmack hat die Junge Union schon mal ein bißchen symbolisch auf dem Checkpoint Charlie herumrandalieren dürfen.