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Erste, zweite und/oder dritte Strophe?
DAS DEUTSCHLANDLIED IST UNTEILBAR!
Unsere nationale Hymne ist wieder schwer ins Gerede gekommen. Nicht, weil sie unseren Politikern oder dem Volk nicht mehr gefiele. Letzteres ist für den nationalen Lobpreis gar nicht zuständig; ersteren aber, zumindest den Wendevertretern, gefällt er viel zu gut, als daß sie ihn nicht in Gänze wieder zum verpflichtenden Sangesgut machen möchten. Auf dem Feld der reinen nationalen Ehre entdecken sie in einer vorgeblichen nationalen Bescheidenheit, in der Beschränkung auf das Absingen der dritten Strophe, den Auftakt zu Verzichtspolitik - und die ist bekanntlich das Gegenteil von guter.
Da konnte Streit nicht ausbleiben:
"Streit in Stuttgart um die Nationalhymne
Der Stuttgarter Landtag hat einen Streit um die ersten beiden Strophen der Nationalhymne am Donnerstag in Schreiduellen und Tumulten ausgefochten. Das baden-württembergische Kultusministerium hatte angeordnet, daß Grundschüler des Landes alle drei Strophen auswendig lernen müssen. Der Streit begann mit einem Vergleich des Kultusministers Mayer-Vorfelder mit den Franzosen. 'Die Franzosen arbeiten ihre Geschichte auch auf, auch ihre Geschichte des Dritten Reiches, die in Frankreich gar nicht viel einfacher war als die Geschichte des Dritten Reiches bei uns', sagte Mayer-Vorfelder. Mayer-Vorfelder forderte: 'Wir müssen auch einmal nach außen verdeutlichen, daß das Deutschland von 1986 nichts mit dem Deutschen Reich von 1933/34 zu tun hat und daß es schlimm ist, die Generation, die nach dem Krieg in eine Demokratie hineingeboren worden ist, pausenlos mit dem Kainszeichen des Dritten Reiches zu versehen.'" (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 4.7.)
Wirklich eine zwingende Logik! Weil "wir" ein ganz neues Deutschland sind, müssen wir unbedingt die gute alte Nationalhymne haargenauso wie zu Adolfs Zeiten singen, damit wir ja nicht zu verwechseln sind.
Die notorisch besseren Deutschen im Lande, in demokratischen Stilfragen mindestens ebenso engagiert und bewandert, hat das schwer auf die Barrikaden gebracht, weil für sie die Grenze zwischen tönendem Nationalismus und wohlklingendem Nationalgefühl haargenau zwischen "...deutscher Wein und deutscher Sang!" und "Einigkeit und Recht und Freiheit..." verläuft:
"Der Minister reagierte erregt auf den Zwischenruf eines Abgeordneten der Grünen, die ersten beiden Strophen seien ein 'nationalistisches Sauflied'. Die Grünen und die SPD im Landtag werfen Mayer-Vorfelder vor, er habe mit seinen Äußerungen das französische Volk beleidigt." (FAZ, 4.7.)
Sollen vielleicht zur Abbitte alle Deutschen ab sofort nur noch stocknüchtern und gewaltfrei die dritte Strophe der Marseillaise absummen? So inter-national denken die oppositionellen Saubermänner natürlich auch wieder nicht!
Wie immer, wenn von oben nationale Belange zur Diskussion gestellt werden, ist auch schon die Bild-Zeitung aufklärerisch demokratisch zur Stelle, macht das Volk mit seinem Staatsschlager bekannt und fragt:
"Wollen Sie alle 3 Strophen singen?"
Um es dem Volk nicht zu schwer zu machen, läßt Bild den "Goethe-Preisträger Golo Mann" versichern, daß es sich bei diesem Lied um "zarteste Lyrik" handelt. Und wirklich, eine vorurteilslose Prüfung des Textes kann dieses Urteil nur bestätigen. Darüber hinaus handelt es sich, wie bei jedem Kunstwerk, um ein in sich geschlossenes Ganzes, bei dem jeder Teil auf eine Einheit verweist, bei dem in jedem Teil, zumal in der dritten abschließenden Strophe, aber auch das Ganze der Botschaft schon enthalten ist.
Die erste Strophe
Bereits die erste Zeile druckt die sprichwortliche deutsche Bescheidenheit und Gründlichkeit aus. Angesichts der Vielzahl von Neigungen und Bedürfnissen, denen man als Mensch nachgehen kann, könnte man sich die Entscheidung, was denn nun das allerwichtigste, höchste Interesse im Leben sein soll, auch unnötig schwer machen. Hier weist unsere Hymne einen klaren Weg: Was geht über alles? Logo: "Deutschland, Deutschland"! Hierbei handelt es sich übrigens nicht um jenen Sprachfehler, den man gemeinhin als Stottern bezeichnet, sondern um die reinste Dichtkunst. Die Entscheidung für Deutschland ist so enorm wichtig, daß man es gar nicht oft genug sagen kann. Die Könnerschaft des Dichters zeigt sich daran, daß er sich aus Rücksicht auf das Versmaß des Gesamtkunstwerks auf eine einmalige Wiederholung beschränkt hat.
Nachdem die Sache soweit klar ist, folgt jetzt die scharfsinnige Feststellung zweier Bedingungen, ohne die das "Modell Deutschland" - auch und gerade heute - nicht zu machen ist.
"Wenn es stets zu Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält..."
Zugegeben, die Herren Blüm und Wörner würden das etwas anders ausdrücken: "Der soziale Friede und unsere Fähigkeit zur Vorneverteidigung müssen erhalten bleiben" - oder so ähnlich. Aber das sind ja auch keine Dichter. Und ist es nicht viel ergreifender, statt von "der Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitern und Unternehmern" von uns Deutschen als Brüdern zu reden? Das Bild vom Bruder schließt ja den Streit nicht aus, fordert aber, daß er zum Wohle der Vaterlandsfamilie gefälligst zum Stillstand gebracht wird. Der Zusammenhalt der Volksgenossen ist nötig, nicht, weil man sich so gut versteht, sondern weil das Vaterland verteidigt werden will. Und auch an diesem Punkt zeigt sich die beeindruckende Zeitlosigkeit unserer Hymne. Nicht nur Schutz, auch Trutz ist geboten - das Vaterland hat schon immer mehr gefordert als kleinkariertes Einigeln hinter gerade aktuellen Grenzzäunen.
"Von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt..."
Ein umfangreiches Programm ist dem Dichter Deutschlands da bereits 1841 aus der Feder geMossen. Deshalb handelt es sich hier einerseits um einen sehr gelungenen Reim - macht er doch die Größe der noch zu bewältigenden nationalen Aufgabe in griffigen Bildern vorstellig. Andererseits liegt gerade hierin eine gewisse Schwäche dieser Zeilen. Gehen wir die vorgestellten zu verteidigenden Grenzposten durch:
Die Maas - ist eigentlich kein großes Problem. Belgien und Holland gehören zur EG. Und in der geht Deutschland längst über alles. Die Etsch - liegt neben der Brennerautobahn. Aber mal ehrlich, ist es wirklich die Eingemeindung von Südtirol, auf die die Freiheitsmission des deutschen Vaterlandes scharf ist?
Der Belt - reimt sich auf Welt und macht genau dadurch die Problematik sämtlicher allzu genau angegebenen Grenzlinien deutscher Ansprüche überdeutlich. Daß deutsche Arbeiter, Schüler und Hausfrauen sich schwertun, unseren Belt auf einer Landkarte zu finden, kann vernachlässigt werden. Schwerwiegender ist doch, daß sich Belt gegen Welt etwas läppisch ausnimmt. Aber "deutsches Kapital überall auf der Welt" wäre irgendwie auch ein hundsmiserabler Reim.
Die Memel - kommt der Sache schon näher. Man muß sich nur vor Augen führen, daß es sich hier nicht um Erdkundeunterricht, sondern um ein lyrisches Bild handelt. Wir müssen uns nicht den genauen Flußverlauf vorstellen (wer kennt den schon?), sondern nur daran festhalten, daß bislang noch eine entscheidende Himmelsrichtung gefehlt hat. Richtig - irgendwie gehört dieses Gewässer doch den Russen! Kurz: Die nationalen Aufgaben sind gewaltig und mit "Schlesien bleibt unser" noch lange nicht erledigt. Darauf dürfen wir jetzt noch einmal mit Inbrunst "Deutschland, Deutschland" schmettern.
Die zweite Strophe
stellt dar, was Deutschland der Welt zu bieten hat.
"Deutsche Frauen, deutsche Treue,
deutscher Wein und deutscher Sang..."
Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als wären hier ein paar wichtige Sachen vergessen worden. Aber die deutschen Männer wurden ja schon bei "Schutz und Trutze" berücksichtigt. Und: "Deutsche D-Mark, deutsche Leos..." - nein, das gäbe keine zarte Lyrik. Unterziehen wir die angepriesenen deutschen Schätze, auf die die Welt gerade noch gewartet hat, einer Prüfung: Deutsche Frauen - naja, auch nicht schlechter als Ami-Weiber; deutsche Treue - ebenfalls naja (oder sind hier mehr deutsche Dackel und Schäferhunde gemeint?); deutscher Wein - Zucker und/oder Glykol; deutscher Sang - Nicole! Aber gerade hier zeigt sich die Vollendung dieser zweiten Strophe. Der Dichter ist sich sicher, daß die Entscheidung für Deutschland keine weiteren Begründungen braucht. Ganz bewußt hat er deshalb auf die Ausmalung fadenscheiniger, leicht zu widerlegender Qualitätsmerkmale der nationalen Güterwelt verzichtet. Eine Nationalhymne ist schließlich kein Werbespot. Der Chianti-Wein, der Polin Reiz, die Mädchen von Paris, der Tequila und das Wolgalied sind bereits durch die erste Strophe ein für alle Mal richtig eingeordnet. Alles weist einen entscheidenden Mangel auf. Es fehlt das Qualitätsmerkmal "Deutsch" - genaugenommen handelt es sich sogar um lauter ausländisches Zeug. Wie wohltuend hebt sich doch diese gradlinige Botschaft von den albernen Liedchen eines Rudi Schurike ab, der ohne nähere Bezeichnung "Frauen und Wein" gefordert hat und ab und zu auch für "Florentinische Nächte" eingetreten ist. Diese herrliche zweite Strophe ist vielmehr durch den gleichen Optimismus geprägt wie das Lied der deutschen Landser im 2. Weltkrieg: "Weil du ein deutsches Mädel bist, hab' ich dich lieb...' Mit übertriebenem Nationalismus oder gar Rassismus kann die Botschaft nicht verwechselt werden. Die deutschen Inländer werden hier durch frohen Sang daran erinnert, daß "Deutschsein" nicht zum Nulltarif zu haben ist.
"Uns zu edler Tat begeistern
unser ganzes Leben lang..."
Und was macht man mit dem ganzen Tatendrang? Solange keine anderen nationalen Großtaten gefordert werden, kann man bis auf weiteres einfach weiter jeden Tag in die Fabrik gehen. Dann stimmt zumindest die 2. Zeile - es sei denn, man wird entlassen. Und was können wir uns dafür leisten? Na eben - "Deutsche Muttis, deutsche Dackels, deutsches Bier und deutsches Fernsehen".
Die dritte Strophe
erhebt sich aus den Niederungen der materiellen Genüsse. Es wird mit Nachdruck gefordert. "Einigkeit und Recht und Freiheit" heißt es. Da wird nicht etwa wie in modernen Schlagern ("Ein bißchen Frieden...", "Schenk mir doch ein kleines bißchen Liebe..." etc.) unter Aufbietung aller Bescheidenheit herumgebettelt und die erwünschte Sache gleich noch ganz unbestimmt in kleinen Dosen bestellt. Ja, hier wird etwas verlangt - drei gleichwertige, unverzichtbare Güter müssen her! Aber der Bittsteller will sie nicht für sich selbst.
"Für das deutsche Vaterland" erhebt er seine Stimme - und das macht seinen Gesang glaubwürdig. Denn jeder normale Sterbliche, der diese drei hohen Grundwerte für sich ganz persönlich einklagt, müßte sich die Frage gefallen lassen, ob er denn wirklich keine anderen Sorgen hat. Aber weil er nichts für sich fordert, sondern die wertvollen Gaben einzig und allein fürs Vaterland vorgesehen sind, kann er auch ohne jede falsche Scham alle anderen auffordern, sich für die Nöte des Vaterlands stark zu machen.
"Danach laßt uns alle streben
brüderlich mit Herz und Hand..."
Wunderschön wird auch in diesen Zeilen wieder das bereits bekannte Bild von den Brüdern verwendet, die wegen der höheren Interessen der Nation ihren Streit zu begraben haben. Ein Bild, das nur noch durch die Beschreibung "mit Herz und Hand" übertroffen wird. Das klingt doch wesentlich ergreifender als zum Beispiel "mit Haut und Haar", was sowohl vom Inhalt als auch von der Reimform her durchaus möglich gewesen wäre. Denn gemeint ist, daß der gesamte Mensch für die Sanierung des Vaterlands in Anspruch genommen gehört. Undeutsche Parolen - wie "der Bauch gehört mir" - sind so, ohne beim Namen genannt werden zu müssen, gleich mit kritisiert.
Und jetzt - nachdem wir alle wissen, daß Kneifen nicht gilt, wenn das Vaterland leidet - noch einmal, weil's so schön war, die Auflistung der offenen nationalen Rechnungen:
Einigkeit - jawoll, die fehlt heute mehr denn je.
"Wiedervereinigung" ließe sich saumäßig schlecht singen. Aber wer die Einheit der Nation (noch) verhindert, ist auch so klar.
Recht - da fallen uns doch gleich gewisse "Unrechtsstaaten" ein, die das arme Vaterland bis aufs Blut quälen.
Freiheit - die muß sowieso dem ganzen Ostblock gebracht werden.
Einfach genial, es reimt sich, es wurde schon vor mehr als hundert Jahren geschrieben und trotzdem kann man sich das antikommunistische Programm des NATO-Frontstaats BRD dazu denken. Warum das Ganze sein muß, wird sogar noch erklärt, was bei Gedichten selten ist:
"Einigkeit und Recht und Freiheit
sind des Glückes Unterpfand..."
Wir erfahren, daß nichts Geringeres als "das Glück" von der Erringung der besungenen Gründwerte abhängt. Selbstverständlich nicht das Glück irgendeines Dödels, sondern das des Vaterlandes. Das Vaterland ist also immer unglücklich, solange es seine Ansprüche nicht weltweit durchgesetzt hat. Das sollte uns allen ein Ansporn sein, nicht kleinlich an uns zu denken, sondern uns von den jeweiligen Machern des Vaterlands in die Pflicht nehmen zu lassen. Dann kann "Deutschland blühen". Dieses Bild aus der Gärtnersprache bildet den harmonischen Abschluß des Kunstwerks. Was sollte der Dichter auch sonst sagen: "Habe Erfolg, deutsches Vaterland" ? (nicht lyrisch); "Siege" oder "Vorwärts"? (schon besser, aber noch ziemlich plump). "Blühe"! - das ist schön, so zart, und doch weiß jeder, wie's gemeint ist.
Fazit:
Eine Strophe ist schöner als die andere. Und wenn einem bei der dritten nicht der Gesang im Halse stecken bleibt, dann gehören sich aber auch die beiden ersten geschmettert. Denn auch das Deutschlandlied ist letztlich unteilbar. Für privaten Singsang ist diese Sorte Liedgut allerdings nicht gemacht. Dafür braucht es schon einen Kanzler als Dirigenten und ein Volk, das mitträllert.