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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1985 erschienen.

Systematik

Die Freiheit testet
WER IST EIN AFGHANE?

Die Afghanen sind ein gutes Völkchen. Das weiß man, seitdem die Russen nach ihren Worten "einer befreundeten Regierung zu Hilfe geeilt" sind, also nach gültiger Weltsicht "Afghanistan brutal überfallen haben". In dieser Sache kennt der Freie Westen sich aus, von Vietnam bis Nicaragua.

Seitdem es militärischen Widerstand gegen die Regierung in Kabul und die sowjetischen Truppen im Land gibt, kann der Heilige Krieg für Allah, dem sich Stammeskrieger verschworen haben, nicht verheimlichen, daß hier echte Freiheitskämpfer am Werk sind. Dennoch, Vorsicht: Es gibt solche und solche Afghanen!

Der beste Afghane

sitzt im Weißen Haus. Dieser Ober-Mudjaheddin sorgt für die Lebensmittel seines afghanischen Volkes, das die Russen Mann für Mann - "Völkermord" - ausrotten und aushungern wollen; so sind sie eben, die Russen! Damit dem Hunger nach Freiheit die Mittel nicht ausgehen, hat der US-Senat für das kommende Jahr 250 Mio. Dollar Waffenhilfe bewilligt. Dieses "größte derartige Programm seit dem Vietnamkrieg" setzt die Friedensbemühungen der letzten Jahre, mit denen die Flüchtlingslager in Pakistan in Waffenlager verwandelt wurden, entschieden fort. Darüber haben die moslemischen Glaubenskrieger viel von ihrer exotischen Borniertheit verloren. Als vorgeschobene Söldnertruppe des CIA im Feindesland, kann jeder in ihnen die guten Afghanen erkennen. So zu ihrem wirklichen Glauben bekehrt und mit den richtigen Waffen ausgestattet, ermorden die tapferen Widerstandskämpfer unter Führung ihrer Clanchefs mit Vorliebe Lehrer und Ärzte, Agrarexperten und Agitatoren, die das "Unrechtsregime" in Kabul aufs Land schickt, um die große Mehrzahl der in feudaler Abhängigkeit gehaltenen Dorfbewohner mit ein paar Errungenschaften der Zivilisation wie Medizin, Lesen und Schreiben bekannt zu machen. Über diese vom CIA angeleitete Leichenproduktion bleibt der Friedenswunsch dringlich: "Russen raus aus Afghanistan!"

Verläßliche Afghanen

sitzen in aller Welt. An Pakistans Zia der mit fester Hand Regimegegner köpfen und sein Volk hungern läßt, gibt es nichts auszusetzen. Er wünscht und bekommt immer mehr westliche Waffen in sein Land. Wenn er davon einiges für innere Befriedung abzweigt, ist das gut und nicht schlecht afghanisch gedacht. Er richtet seine Grenze zu einem Einfallstor und zu einer Aufmarschfront für den weltweiten afghanischen Freiheitswillen zu. Die Heuchelei der "Vasallenregierung" in Kabul, wenn sie sich über laufende Übergriffe Pakistans an der Grenze beschwert, wird dadurch nur um so deutlicher.

Die Ölscheichs haben endlich die richtige Verwendung ihrer "Ölwaffe" entdeckt. Mit über 100 Millionen Waffenhilfe sind sie am Freiheitskampf beteiligt. Daß sie ihren "islamischen Glaubensbrüdern" zur Seite stehen, soll man ihnen nicht verdenken. Hauptsache, die Waffen gehen in die richtige Richtung. Immer schon entschieden freiheitlich-afghanisch hat Israel gehandelt. Am Abschlachten der Bewohner in den Flüchtlingslagern Shabra und Shatila war es bekanntlich nicht beteiligt, die dort erbeuteten Waffen - und einiges mehr - kommen der Afghanistan-Hilfe zugute. So wissen die umgebrachten PLO-Anhänger nachträglich, daß sie nicht ganz umsonst gestorben sind.

Auch China weiß, was es seiner "Modernisierung" schuldig ist. So können den Afghanen vor Ort neben allen Friedenswerkzeugen westlicher Produktion auch Kalaschnikoffs und SAM-Raketen in die Hand gedrückt werden.

Selbst der schlechte Charakter eines Khomeini hat seine menschlichen Seiten. Wenn er seine Revolutionswächter nicht nur im Krieg gegen Irak, sondern auch in Afghanistan verheizt, ist das gut und nicht schlecht. Freilich sind alle diese Afghanen erklärtermaßen nur die Hilfstruppen eines afghanischen Freiheitsdrangs, der sich in Reagan verkörpert. Da stellt sich denn doch manchmal die Frage nach ihrer wirklichen Verläßlichkeit.

"In erster Linie wäre es wohl Sache der islamischen Länder, ihren muslimischen Glaubensbrüdern in Afghanistan wirksamer als bisher zu helfen. Doch diese ziehen es vor, sich gegenseitig zu zerfleischen... statt einem der Ihren Beistand zu leisten in einem Krieg, bei dem es nicht nur um Freiheit und Selbstbestimmung eines unterdrückten Volkes geht, sondern auch um seine islamische Religion und die damit verbundenen traditionellen Werte... Von einem massiven Einsatz der mächtigen Finanzquellen Saudi-Arabiens, der Golfstaaten und anderer islamischer Länder zugunsten der antisowjetischen Widerstandsbewegung kann indessen keine Rede sein, von Waffenlieferungen in nennenswerten Mengen zu schweigen." ( FAZ, 7.12.)

Wann endlich dürfen wir die ersten Freiwilligen aus der FAZ-Redaktion im Pandschirtal erwarten:

Vorbildliche Afghanen

kommen aus der Nachwuchsmannschaft der Bundesregierung. Die reisen, wie Todenhöfer, alljährlich einmal an die Front, legen ihren Anzug ab, werfen sich in ein malerisches Schafsfell und lassen sich im Kreis ihrer islamischen Freiheitsbrüder vor einem zerschossenen russischen Tank fotografieren. Diesen Kreuzrittern gegen das "Reich des Bösen" ist die mit Bomben und Granaten bewiesene Liebe zu Afghanistan zu lasch. Die smarten Maulhelden wittern hinter dem Krieg, den der Westen in Afghanistan führt, weil er nicht aufs letzte geht, gleich eine "wachsende Gleichgültigkeit der Öffentlichkeit gegenüber Afghanistan". So sehr ärgert sie das zur Zeit praktizierte Freiheitsprogramm, für die Russen die Kosten einer politischen und militärischen Unterstützung der Regierung in Kabul so in die Höhe zu treiben, daß die sich freiwillig aus diesem Land zurückziehen. Todenhöfer könnte "natürlich keinem Russen etwas zuleide tun", er ist ja bloß für die weltkriegsmäßige Ausgestaltung des afghanischen Schlachtfelds. Das ist schon wegen Todenhöfer notwendig, wie der begleitende "Bild"-Reporter in seiner Schlagzeile bemerkte: "Sowjets schossen auf Todenhöfer." Da stellt sich ja nur noch die Frage: Wann wird endlich richtig zurückgeschossen? So lange es noch nicht so weit ist, tut es gut, einen Afghanen zu haben, der den Feind aller in der NATO vereinigten Afghanen - bis hin zum letzten Dorfbewohner im Himalaya - kennt: "Systematische Ausrottung des afghanischen Volkes" betrieben die Sowjets; sie zerschießen "die gesamte Ernte"; mit ihren Hubschraubern vernichten sie Dörfer und Siedlungen; über "10.000 Kinder sind durch sowjetische Spielzeugminen verstümmelt worden". So grundlos böse führen sich Politiker zwar nirgendwo auf, aber Lügen haben eben den besten ideologischen Nährwert. Wenn der nicht dazu taugt, den Westen dazu zu bringen, letzte diplomatische Rücksichten fallenzulassen, so dient er zumindest der Parteikarriere eines Todenhöfer.

Gute Afghanen

die abwechselnd den Abschuß eines russischen Hubschraubers oder das Verbrennen eines Omnibusses mit Zivilisten als Erfolg feiern, haben einen Haken. Auf sie kommt es als Material eines vom Westen erklärten afghanischen Freiheitswillens an. So lange nichts Weitergehendes beschlossen ist, tragen sie die Beweislast für die Notwendigkeit eines unabhängigen Afghanistan, das fest zum Westen gehört, allein. Der beste Charakterzug, der sie zu wirklichen Afghanen macht, lautet:

"Die Afghanen bitten nur um Waffen"... "Die Flüchtlinge in den Lagern der pakistanisch-afghanischen Grenze erhalten manchen Besuch ausländischer Prominenz. Was man für sie tun könne, werden sie dann oft gefragt. Waffen, mehr Waffen, sagen sie." ("Frankfurter Allgemeine" in ihrer Weihnachtsnummer)

Sie machen sich zu dem Kanonenfutter, als das sie vom Westen ausgerüstet und in die Berge geschickt werden.

Leider läßt die Wirkung dieser Vaterlandsliebe, die wie ihre Waffen "made in USA" ist, zu wünschen übrig.

"Die Mudjaheddin verfügen heute über stärkere und weiterreichende Waffen als zuvor. Sie sind nicht nur mit neuen Boden-Boden-Raketen chinesischer und amerikanischer Herkunft ausgestattet. Sie setzen in wachsender Zahl auch tragbare, von der Schulter abgeschossene Boden-Luft-Raketen (SAM 7/8) ein, sowjetische Waffensysteme, die den Widerstandsgruppen gegen harte CIA-Dollars von China und Ägypten via Pakistan geliefert werden:"

"Die Mudjaheddin haben an Waffenkraft, aber nicht an Wirkungskraft gewonnen. Sie erwiesen sich 1984 einmal mehr als unfähig, strategisch bedeutsames Gelände zu erobern und zu halten." (Die Zeit, 28.12.)

"Die Freiheitskämpfer können nicht gewinnen" und sind selbst mit schuld daran, weiß die Presse heute. Es rächt sich eben, daß die Landesbewohner nicht ebenso bedingungslose Liebhaber Afghanistans sind wie westliche Politiker und eine Öffentlichkeit, der bei allen Großtaten westlicher Freiheitspolitik auf dem Globus allemal "Afghanistan!" einfällt. Das aufgeklärte Wissen, daß die Russen die "Teufel" sind, hat sich in den Köpfen der Paschtunen nur unvollkommen durchgesetzt. Die betrachten auch noch die Tadschiken als Teufel und lassen sich von keiner Stammesfehde bloß deswegen abbringen, weil die Liebe zu Afghanistan keinen anderen Inhalt hat als Feindschaft zur UdSSR.

"Anders als dem Vietkong oder dem algerischen SLM mangelt es den hinterwäldlerischen Afghan-Rebellen an unerläßlicher militärisch-politischer Aktionseinheit sowie an den nötigen Politkadern, um die Legitimität des Kabuler Regimes überzeugend anzufechten und eine glaubhafte Alternative zu bieten... Wie eh und je leidet der Widerstand an seiner Zersplitterung... Der traditionelle Gegensatz zwischen dem Herrenvolk der Paschtunen und der von ihnen verachteten Minderheit erwies sich stärker als alle gemeinsame Russenfeindschaft." ("Die Zeit", 18.12.)

Vom Westen mit eindeutigem Kampfauftrag an die Front geschickt - und keinen Erfolg zu haben: wie hinterwäldlerisch! Ob das so bleiben känn: daß die wirklich afghanisch gesinnte Menschheit sich so schlecht vertreten lassen känn von Leuten, die weder Army-Befehle verstehen noch zwischen Blutrache und der entscheidenden "Aufgabe der Menschheit" unterscheiden können?

Schlechte Afghanen

verlassen ihr Land, aber nicht, um postwendend, mit zusätzlichem Waffengepäck versehen, in ihre Heimat zurückzukehren. Ein deutscher Arzt hat sie entdeckt. Ihm geht Truppenbetreuung über alles; deshalb hat er "seine Praxis in Deutschland verkauft und sucht nun Mediziner, die, idealistisch wie er, ihn bei seinem humanitären Einsatz" - verwundete Freiheitskämpfer für den nächsten Einsatz zusammenzuflicken - "unterstützen wollen" (FAZ, 24.12.).

"Die meisten der geflüchteten afghanischen Ärzte, die Freigang als 'Wirtschaftsflüchtlinge' bezeichnet, lebten heute in Amerika oder in Europa und bezögen lieber Sozialhilfe, als ihren bedrängten Landsleuten in Afghanistan oder in den Flüchtlingslagern in Pakistan und Iran beizustehen." (FAZ, 9.1.)

Verständlich auch der Ärger eines Fernsehkorrespondenten, mit fünfzig in Bonn versammelten Demonstranten eine mahnende Anklage gegen fünf Jahre Terror-Regime der Russen in Afghanistan auf den Bildschirm zu bannen.

Keine Afghanen

sind die "Schützlinge Moskaus". Das erkennt man schon daran, daß sie sich heute als die besseren Patrioten geben und ihre islamische Seele herauskehren; ja, das Kabuler "Unrechtsregime" tut sogar noch etwas für seine Bevölkerung. So etwas steht nicht auf dem Programm eines freien Afghanistan, wie wir es uns alle ersehnen - daran merkt man schon den Pferdefuß des Feindes.

"Die 1978 in triefendes Rot umgefärbte Afghanistan-fahne hat ihre ursprüngliche schwarz-rote und islamisch-grüne Farbe zurückerhalten. Der Islam wird nicht mehr von Staats wegen verfolgt, sondern subventioniert... Die Reformvorhaben sind bestechend vernünftig. Die Privateigentum schaffende Landreform wird... von flankierenden Maßnahmen wie Kooperativen, Landwirtschaftsbank, Motoren- und Traktorenstationen eingerahmt." ("Die Zeit", 28.12.)

"Das Lebensmittelangebot auf den Basaren wirkt üppiger als noch vor zwei Jahren; es ist besonders, was Südfrüchte betrifft, gewiß reichhaltiger als in jeder osteuropäischen Hauptstadt. Auch dürften die Bürger Belgrads oder Bukarests in diesem Winter länger frierend im Dunkeln sitzen als die von Kabul.. die Preise für Grundnahrungsmittel wie Hammelfleisch, Zucker, Brot, Reis sowie für Brennholz blieben einigermaßen stabil."

"Hier bemüht sich ganz offensichtlich ein sowjetischer Satrap darum, zu einer Rolle mit mehr eigenständigem Profil zu finden." ("Süddeutsche Zeitung", 12.1.)

Trotz aller Versuche unserer Freiheitskämpfer, die von der Regierung in Kabul ins Land geschickten Ärzte, Lehrer und Landwirtschaftsberater als "gottlose Teufel" umzulegen, hat die "brutale Knechtung" des Freiheitswillens aller Afghanen, zumindest bei denen, die nur per Geburt Afghanen sind, leider auch Erfolge aufzuweisen: "Der Widerstand der Bevölkerung erlahmt." Deshalb gilt es verstärkt wie eh und je auf den Feind aller Afghanen hinzuweisen. Die sowjetischen "Eindringlinge" ermorden nicht nur afghanische Kinder mit Spielzeugminen, hinterher verschleppen sie sie auch noch nach Rußland, um sie mit kyrillischen Buchstaben und mit Krimsekt zu "russifizieren". Eindeutig: Kidnapping! Hier gilt einmal nicht, daß das Leben in Afghanistan für seine Bewohner "die Hölle" ist.

Im übrigen mögen die Greuelnachrichten über die von den Russen betriebene "Politik der verbrannten Erde" und über das Abschlachten wehrloser Zivilisten "von westlichen Agenturen" stammen, "die sich auf Tatarenmeldungen aus Afghanistan spezialisiert haben" (Süddeutsche, 12.1.), oder von den Widerstandskämpfern "erfundene Schauergeschichten" sein, die uns damit nur beweisen, daß die gerechte Sache Afghanistans diesen Maulhelden nicht überlassen bleiben darf. Uns Afghanen können die Russen mit ihren "Alphabetisierungskampagnen und Ausführungen über die Landreform" nichts vormachen. Das ist eine klare Vergewaltigung der

"historisch und kulturhistorisch andersgearteten Denkweise und Tradition des islamischen Nachbarvolks" und "zeigt mit aller wünschenswerten Deutlichkeit, wie klar die Sowjetisierung Afghanistans die Idealvorstellung und das Ziel Moskaus bleibt." ("Neue Zürcher Zeitung", 29.12.)

Eines wissen wir aber auch: Auch die Russen bewegt nichts so sehr wie der heimliche Wunsch, heim ins große Weltreich aller Afghanen kehren zu wollen. Daß sie das nicht offen zugeben wollen, sondern sich mit Händen und Füßen dagegen wehren, das macht sie so böse und aggressiv. Wenn sie ganz unbeobachtet sind - nur ein westlicher Korrespondent schaut ihnen auf die Finger -, dann radebrechen sie schon einmal die gemeinsame Sprache aller freiheitsliebenden Afghanen und lassen ihren Wodka für einen Scotch stehen.

"Unter den sowjetischen Experten, die in der Maschine von Kabul nach Moskau sitzen, gehen gleich nach dem Start Angst (vor Boden-Luft-Raketen) und Wodkaflaschen um. Sie sind mit schwerem Gepäck eingestiegen, mit berstend vollen Koffern, Afghan-Pelzen und Kartonkisten, deren Aufschriften die Kabuler Bazarbeute verraten: Made in Japan, Hongkong, Taiwan. 'Befinden wir uns schon über der Sowjetunion?' fragt der eine, dem Wodkaschweiß auf der Stirne steht... Zwanzig Minuten später wird der sowjetische Luftraum erreicht... Derselbe Russe, geplagt von Erinnerungen an 'schlimme Nächte' während der jüngsten Raketenattacken der Mudschaheddin auf Kabul, zeigt sich erleichtert: 'Now me very, very happy.' Und bei der afghanischen Stewardeß bestellt er jetzt einen Scotch." ("Die Zeit", 18.1.)

Dem Bedürfnis kann geholfen werden mit einer Befreiung Afghanistans, die mit einer Vorneverteidigung bis nach Moskau stattfindet.