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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1985 erschienen.

Systematik

Bonner Charaktere: Johannes Rau
EIN KANZLERKANDIDAT WIRD GEBOREN

Seit dem 12. Mai hat die SPD einen neuen Kanzlerkandidaten. Der Grund: Er hat seine NRW-Wahl mit Abstand gewonnen. Nun, das soll vorkommen in einem Land, wo das Volk sein Führungspersonal alle paar Jahre wählen darf. Die beflissenen Fragen jedoch, was denn an diesem Mann eigentlich dran sei, daß er als der sozialdemo kratische "Hoffnungsträger " für 1987 gehandelt wird, seien gleich vorweg beantwortet: nichts.

Nichts außer dem Entscheidenden: daß es ihm eben gelungen ist, der politischen Konkurrenz eine empfindliche Schlappe zuzufügen. Gibt es einen besseren Grund? Rau hat die Spekulation aufs Kanzleramt vor der Wahl natürlich dementiert. Eins hat er dabei sehr genau berechnet: die Wahl in Nordrhein-Westfalen nicht nur als SPD-Landesfürst, sondern in erster Linie als Kandidat aller guten und selbstbewußten Deutschen zu bestreiten. Rau: Im deutschen Interesse.

Johannes Rau gilt als politisches "Phänomen". Regelmäßig vermerken dies Journalisten mit dem branchenüblichen Gemisch aus Bewunderung und demonstrativer Ratlosigkeit, wenn immer sie dem Geheimnis seines Aufstiegs zu dem heißen Eisen der SPD nachspüren. Er selbst kokettiert gern und ausgiebig damit. Die Bibel kenne er besser als Bebel, läßt er verbreiten; Sozialdemokrat sei er sozusagen auf natürliche Weise, als Mensch und Christ, so daß die Suche nach dem sogenannten 'sozialdemokratischen Element' am SPD-Spitzenmann Rau zur beliebten Stilübung geworden ist, seine öffentliche Selbstdarstellung als für bare Münze genommenes persönliches Charisma über den Sender zu bringen. Rau steht nicht für die SPD, sondern für sich selbst - und wirbt so für die SPD. Für die Verkörperung des Scheins aufgehobener Parteienkonkurrenz bringt er die besten Voraussetzungen mit: ein durch jahrzehntelange Unauffälligkeit erworbenes 'Profil'; das Geschick, als richtiger Mann immer an der richtigen Stelle gewesen zu sein. Das befähigt ihn, heute aufzutreten wie einer, der es nicht nötig hat, sich zu profilieren, und einen Landes-Wahlkampf mit dem bescheidenen Argument zu gewinnen: "Rau. Wer sonst?"

Blitzsaubere Karriere

- Im Jahr des Godesberger Programms von der Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns zur SPD rübergemacht. Die GVP war als Anti-Wiederbewaffnungspartei bei Wahlen gescheitert, die SPD hatte sich zur regierungsfähigen Alternative gemausert. Welche Perspektive lag für Rau also näher?! Aus den alten GVP-Tagen blieb der bieder-evangelische Heiligenschein des immer guten politischen Willens, den Rau durch die termingerechte Heirat einer Heinemann-Enkelin 1981 wieder aufgefrischt hat. Also gleich drei Fliegen mit einer Klappe: Zusätzlich nämlich war er damit den für höchste Aufgaben hinderlichen Ruf des ewigen Junggesellen los und konnte im NRW-Wahlkampf werbewirksame Plakate zusammen mit seinen kleinen Sprößlingen präsentieren. Daß die so kalkulierte späte Heirat ohne jeden Hintergedanken war, trägt er dermaßen überzeugend zu Markte, daß selbst "Spiegel"-Redakteure an ihrer professionellen Skepsis gegenüber Politikertricks irre werden.

- Oberbürgermeister in Wuppertal: Als Sohn eines Elberfelder Predigers bringt er den Taufschein fürs Amt in der politchristlich versippten bergischen Gemeinde mit.

- NRW-Wissenschaftsminister: Daß er es war, ohne selbst Abitur zu haben, gibt heute noch den Stoff ab für die Legende einer "Malocher-Karriere" in dem Land, wo bekanntlich Karriere macht, wer nur hart genug arbeitet. Er hatte das Glück des Tüchtigen, daß der Ausbau des Universitätswesens in seine Amtszeit fiel.

- NRW-Ministerpräsident: Geworden ist er es 1978, weil er als Kompromißkandidat von der Rivalität zwischen Posser und Farthmann um die Amtsnachfolge Heinz Kühns profitiert hat. Dann 1980 die absolute Mehrheit in NRW, weil FDP und Grüne aus dem Rennen waren. Eine politische Musterkarriere. Und weil im demokratischen Geschäft der errungene Erfolg in der Konkurrenz um die Macht das schlagende Argument für das Recht auf den nächsten Sieg ist, hat Rau den Besitz der Landes-Macht zum obersten Wahlkampfschlager des Jahres 1985 gemacht. Ich will weiterregieren, und zwar allein mit absoluter Mehrheit, darunter mache ich es nicht ("stehe nicht zur Verfügung") - selten ist ein Wahlkampf so auftrumpfend unverfroren mit dem Willen zur politischen Führung geführt und schließlich gewonnen worden. "Klare Verhältnisse..." hat Rau für sich gewollt und "... für NRW!" bekommen; die Grünen hat er mit dem schlichten Hinweis auf mangelnde Verläßlichkeit in Fragen der Technik des Herrschens abgefertigt: "Ich bin Koalitionen leid!" Den Wahlerfolg bucht er als "überragenden Vertrauensbeweis": Er hat doch nichts versprochen als im Fall seines Sieges weiter zu regieren. Den Blankoscheck des "obersten Souveräns" für dieses Geschäft hat er. Daß die Art und Weise, wie er ihn in NRW bekommen hat, daß das unverschämte Ummünzen eines Herrschaftsanspruchs in Wahlstimmen und die freche Berufung auf die Untertänigkeit des Stimmviehs in der ganzen Republik als beispielhaft gilt, dies läßt sich leicht am blanken und unverhohlenen Neid der unterlegenen Konkurrenz ablesen.

Führung, Heimat, Stolz

Die CDU, die mit Kohl und einer Kohl-Kopie angetreten war, beschwert sich, Rau habe den "Amtsbonus voll ausgespielt", die Grünen beklagen, er habe das "Wir-Gefühl", für das sie doch zuständig wären, für die SPD "mobilisieren" können. Nach diesen Maßstäben muß es in der Tat als ein gelungenes Kunststück gelten, eine Landtagswahl mit einem auf Landesformat zugeschnittenen Nationalismus zu entscheiden:

- Wirklich gelungen, das "Wir in Nordrhein-Westfalen" mit "unserem Ministerpräsidenten" in eine Gleichung zu bringen. Das "Wir" dieses Menschenschlags denkt bei diesem Personalpronomen nicht an sich selbst, sondem ans Land, an seine inneren und äußeren Feinde. Die inneren haben "wir" fest im Griff, siehe die zum Testfall für die Wahl erhobene polizeiliche Abwicklung des Weltwirtschaftsgipfels, in Bonn durch Innenminister Schnoor, einen von uns. Gegen die äußeren haben "wir" Rau! Denn:

- Wirklich gelungen, die Kandidaten der politischen Konkurrenz - und gar den an biederer Bodenständigkeit kaum mehr zu übertreffenden CDU-Gegenkandidaten als Handlanger ausländischer "Miesmacher" hinzustellen, die "unser" Land nur in den Schmutz ziehen wollen. Das lassen die Nordrhein-Westfalen sich nicht bieten, zuallerletzt von Pfälzern, Bayern und Schwaben. Da werden sie rebellisch und wählen SPD. "Unser" Land ist schließlich ein "schönes Land, in dem es sich zu leben lohnt" - ob das wirklich stimmt, - dieses Urteil steht allein "uns" zu, nicht dem feindlichen Ausland.

- Wirklich gelungen, gegen die so dingfest gemachten Täter den Stolz der Opfer zu mobilisieren - mit dem kleinen, aber entscheidenden Unterschied, daß die Schuldigen die anderen, die "Landesfremden" in Bonn sind, die angeblich die "Menschen an Rhein und Ruhr" nicht verstehen.

Nach diesem Rezept wird das Süppchen angerichtet, das Rau auf Arbeitslosigkeit und Armut kocht. Nicht, daß er irgend etwas gegen den Aufschwung des Kapitals hätte, den er nicht zuletzt in den letzten fünf Jahren in NRW tatkräftig unterstützt hat. Nicht, daß er nicht wüßte, daß Aufschwung ohne Arbeitslosigkeit und Armut nicht zu haben ist. Nicht, daß ihm nicht klar wäre, daß der Aufschwung, der nach SPD-Lesart ohne Schaffung von Arbeitsplätzen angeblich kein wahrer Aufschwung wäre, durch Verbilligung der Arbeiter, bisweilen durch Streichung von der Lohnliste, zustandekommt. Aber eins hat er den Betroffenen zu bieten, der gute Johannes: die berechnende Anerkennung, sich auch weiterhin für sie zuständig fühlen zu wollen, und die scheinheilige Zusicherung, daß eine sozialdemokratisch abgesegnete Rationalisierung etwa bei Kohle und Stahl eine unabwendbare, somit gute und arbeitsplatzsichemde Entlassung war. Keine Armut ohne einen feuchten sozialdemokratischen Händedruck - das ist Raus Versprechen und das gute "soziale Gewissen", mit dem er die Wahl gewonnen hat und das er in seiner Person der ganzen Republik anempfiehlt:

"Nordrhein-Westfalen muß das soziale

Gewissen Deutschlands bleiben!"

Lies: Deutschland muß ein einziges, sozialdemokratisch legitimiertes gutes Gewissen werden. So kann Johannes Rau tatsächlich ganz der "Mensch" sein, als der er sich als Person gewordene "Glaubwürdigkeit" präsentiert: deutscher Aufschwung mit Herz, eine zeitgemäße Kreuzung aus Helmut Schmidt und Willy Brandt.