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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1985 erschienen.

Systematik

Oskar Lafontaine, Der andere Fortschritt, Verantwortung statt Verweigerung, Hoffmann und Campe
EIN BILD POLITISCHER VERANTWORTUNG

Was ist los, wenn ein so titulierter "Linker" der zweitgrößten deutschen Volkspartei sich einen "Konservativen" schimpft? "Im guten Sinne des Wortes", versteht sich. Was hält er für so bewahrenswert an unserer deutschen demokratischen Republik, daß man dafür ihm und seiner Partei Verantwortung übertragen soll?

Politische Philosophie

Andere Politiker wälzen sich nachts vor Sorge um Deutschland in ihrem Messingbett; Lafontaine kann ebenfalls nicht schlafen und führt den Leser in die Welt der Apokalypse, die ihn bei all seinen Handlungen verfolgt.

"Die Industriegesellschaft ist an ihre Grenzen gestoßen. Massenarbeitslosigkeit und Armut, die überwunden schienen, sind zurückgekehrt. Zwar haben in den Industriestaaten Wirtschaft, Wissenschaft und Technik zu gewaltigen Errungenschaften geführt, doch wiegen diese bei weitem nicht auf, was an Zerstörung angerichtet und an existentieller Gefährdung aufgebaut wurde. Hungertod, Atomtod, Naturzerstörung und soziale Not sind Ergebnisse menschlichen Handelns, für dessen Folgen die Menschen einstehen müssen, zumindest für die Folgen, die sie voraussehen können. Es fällt uns schwer, unser Handeln als ursächlich für Tod und Elend überall in der Welt anzusehen. Wir können die Verantwortung dafür aber nicht verweigern, wir sind immer verantwortlich, auch - oder gerade - wenn unser Handeln aus Nichtstun oder Unterlassen besteht. An dieser Feststellung kommt man nur vorbei, wenn man dem Menschen die Fähigkeit zur freien Entscheidung abspricht." (11)

Das führt mitten hinein in die "Verantwortung", die "wir" heute haben, weil wiederum "wir" Not, Zerstörung und Tod über die Welt gebracht haben. Nun dürfte es selbst allen "wir" zusammen schwerfallen, dergleichen zu bewirken, es sei denn, sie sind Mitglieder eines politischen Gemeinwesens, von dem Lafontaine hier spricht, ohne Namen zu nennen. Den Namen für unsere kapitalistischen Weltwirtschaftsgipfelstaaten kennt er schon, aber darüber meint er verallgemeinemd hinwegsehen zu müssen. Außerdem ginge es im Osten genauso schlimm zu wie bei uns. Den Volksdemokratien alle die Schönheiten unserer Gesellschaftsordnung anzuhängen, geht allerdings etwas zu weit: Seit wann gibt es denn in diesen Ländern beständig "Hungertod" und "soziale Not"? Ob die "Naturzerstörung" für sie noch tragbar ist, sollen sie mal ruhig mit sich selbst abmachen. Und wenn "wir" nicht andauernd etwas gegen den Kommunismus/Bolschewismus hätten, wäre vielleicht auch der "Atomtod" überflüssig, um die 'unnatürliche Teilung Europas zu überwinden'. Kein Grund also, aufs vereinnahmende "Wir" zu verfallen.

Die Vereinnahmung paßt uns aber auch deswegen nicht, weil wir das letzte Mal nicht zur Wahl gegangen sind. So haben wir zwar das Recht verwirkt, mitzureden, müssen uns aber auch nicht an die Brust klopfen. Nicht wir sind es schließlich, die durch ihre Entscheidungen Armut verursachen und Kriege planen und ausführen. So entdecken wir überhaupt keinen politischen "Handlungsbedarf", wo alle ohnehin schon in "bester Absicht ein Ziel verfolgen und nicht bedenken, welche ungewollten Wirkungen dabei auftreten können." (12)

Die Wirkungen seiner politischen Handlungen kennt nicht nur ein Lafontaine genau, sondern ebenso ein Kohl, wenn er nicht nur Polizei und Militär unterhält, sondern auch ab und zu eine Spendensammlung für die Verhungernden der Welt gutheißt. Lafontaine möchte hier mit dem Gestus dessen auftreten, der sich endgültig dieser "drängenden" Probleme annimmt, für die er das schlechte Gewissen seiner Zeitgenossen bemüht. Der Hinweis auf die drohende Katastrophe ist so professionell gekonnt - ihn beherrscht schließlich jeder Politiker -, daß wir ihn ganz gut als in der Branche übliche Heuchelei durchgehen lassen können. Wie spät ist es denn? Fünf vor zwölf oder was? Schließlich und zuletzt gehen uns die aufgeführten Probleme nicht das allermindeste an. Ein Politiker, auf den das Publikum etwas halten soll, handelt nicht nur, sondern mindestens sittlich.

"Der hier geforderten Neuorientierung unseres Handels liegt die Ethik Albert Schweitzers zugrunde: 'Ich bin Leben, das leben will inmitten von Leben, das leben will.'" (17)

Das braucht der saarländische Mitteleuropäer im 20. Jahrhundert: "Ehrfurcht vor dem Leben!", die natürlich den "Frieden mit der Natur" einschließt. Wir haben nämlich schon lange nicht mehr gewußt, wofür wir eigentlich leben; den lieben langen Tag mit "Konsum" verbracht, ohne höheres Ziel, bis uns ein sozialdemokratischer Pfaffe den Weg gewiesen hat. Und diese fromme "Reform der Denkungsart" kommt bekanntlich nicht durch Revolutionen zustande, sondem nur durch innere Umkehr. Eine starke Maxime staatlichen Handelns wahrlich! Fast hätten wir gesagt, eines Albert Schweitzer würdig, aber dies Argument hat uns Lafontaine ja aus der Hand geschlagen. Und, hat er bei der Formulierung seiner Regierungserklärung im Saarländischen Landtag, bei der Ankündigung der Konsolidierung des Landeshaushalts z.B., seine Ethik zugrunde gelegt? Sicher doch, aber noch besser macht sie sich bei der Heldengedenkrede Reagans in Bitburg. Insgesamt jedenfalls paßt sie zu unserer schlechten Welt, auf der es überall gleich ausschaut.

"Im Kapitalismus beutet der Mensch den Menschen aus, im Sozialismus ist das umgekehrt." (20)

"Fortschritt in der Sackgasse"

Lafontaine strickt fleißig weiter an der Legende, Elend und Krieg seien Ergebnisse - nicht der kapitalistischen Weltwirtschaftsordnung, sondern - des Fortschritts. Er hat eigentlich Physik studiert, beim studium generale aber auch ein wenig politische Theorie gehört. "Vor nun knapp 400 Jahren" habe ein Francis Bacon dem "Begriff des Fortschritts eine andere Dimension" verliehen, und programmatisch formuliert, "möglichst alles Machbare bewerkstelligen zu können".

"Diese praktische Umsetzung des wissenschaftlichen Fortschritts in der Technik sollte die Menschheit aus dem Naturzustand heraus zur Herrschaft über die Natur führen, da jeder Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis nach seiner rationellen Anwendung auf die Natur verlange." (30 f.)

Der Mensch habe damals die "Geborgenheit der Gotteskindschaft" verloren, weshalb siclh "der Mensch einen neuen Sinn des Lebens suchen" mußte. Ein anderer Zeitgenosse habe daher den homo homini lupus erfunden, und auch ein dritter soll noch beteiligt gewesen sein, der den Eigennutz "zum Prinzip erklärte, nach dem die Gesellschaft funktioniere".

Auf den Unsinn, die politischen Vorstellungen eines Bacon, - Hobbes oder Locke in 'Das technisch Machbare muß gemacht werden' zu übersetzen, hinzuweisen, ist bei dem jesuitischen Kaliber unseres Lafontaine wahrscheinlich zwecklos, weshalb wir uns nähere Erläuterungen gleich sparen. Ebenso, daß der Kapitalismus - und auch gleich noch der Sozialismus mit - eine Erfindung dieser drei Herren sei. Lafontaine möchte eben darauf hinaus, daß die drei Erfinder und die heutigen Anhänger dieser "Denkungsart" sich gebrannt haben.

"Doch letztlich wird der Sieg des Menschen über die Natur ein Pyrrhussieg sein." (32)

Wie dialektisch und biblisch zugleich!

"Ist es denn mit der Vernunft vereinbar, daß die Fortschritte der menschlichen Naturbeherrschung aus der Erde einen atomaren Sprengkörper gemacht haben? Ist es vernünftig, daß sich die Supermächte einen Rüstungswettlauf leisten, der Unsummen verschlingt, wenn Millionen Menschen verhungern? Ist die organisierte Verschwendung der westlichen Welt rational, wenn gleichzeitig ein Drittel der Menschheit im Elend verharrt? Ist es vernünftig, Milliarden auszugeben, um den Mars zu fotografieren, während die arbeitslosen Stahlarbeiter von Detroit für einen Teller Suppe Schlange stehen?" (32 f.)

Es sprach das Wort zum Sonntag Pfarrer Lafontaine. Warum wir uns über diesen schreienden "Wahnsinn" unseres modemen Lebens lustig machen? Der reichlich beliebigen Zusammenstellung von technischen Glanzleistungen unserer Zivilisation und Elend - nach dem Muster: Wir haben bei uns Wasserspülung und in Afrika regnet es nicht - liegt eine Verwechslung zugrunde. Lafontaine weiß zwar, daß die Praxis der Naturbeherrschung unserer Gesellschaft die große Industrie ist; er möchte aber nicht von den Realitäten der Ökonomie reden und dabei die eine oder andere Absicht der zuständigen Aufsichtsräte bemerken, sondern kennt ein höheres Prinzip, das am Werken ist: den Fortschritt. Daß in unserer Industriegesellschaft naturwissenschaftliche Kenntnisse versammelt sind, mit denen die Menschheit lässig zu versorgen wäre, mag ja sein. Wie Lafontaine aus den Prinzipien von Marktwirtschaft - inklusive der sozialen - und Geschäft diese Zielsetzung herausgefunden haben will, ist uns allerdings ein Rätsel. Es steht schließlich nirgends geschrieben, daß naturwissenschaftlicher und technischer Fortschritt dem Volk zugute kommen; dem stehen nicht nur Patentgesetz und Betriebsgeheimnis entgegen. Es ist eine ziemlich billige Tour, unserer Wirtschaftsordnung Irrsinn und "Verlust der Vernunft" zu bescheinigen, wenn sie Elend und Krieg "zuläßt". Mit diesem Urteil muß man ihr zuallererst die lautersten Absichten unterstellt haben. Zivilisation und so. "Fortschritt" ist das letzte, was Kapitalismus im Sinn hätte, wenn die Entwicklung der Technologie vorangetrieben wird, um den moralischen Verschleiß der Maschinerie als Hebel der Konkurrenz zu benutzen.

Wenn man aber einmal "den Fortschritt" als treibendes Motiv unserer gesellschaftlichen Entwicklung - wobei die "Entwicklung" nach Lafontaines Worten auch nur darin besteht, daß die bekannten "frühkapitalistischen" Verhältnisse "überwunden schienen"! - herausdestilliert hat, ist es klar, daß man den modernen "Fortschrittsbegriff" kritisieren muß. Lediglich "quantitativ" soll er sein, "ungleich" in bezug auf die "Entwicklungsländer", und dergleichen Mengenbegriffe mehr. Aber jemandem, der auf "qualitativen Fortschritt" hinaus will, damit zu kommen, daß bei einer Kritik der Quantität die Qualität allemal in Ordnung geht, ist wahrscheinlich zu viel verlangt. Oder wollte uns Lafontaine gerade das sagen?

"Man kann es sich nicht einfach machen und sagen, wir verneinen den Fortschritt, der uns fesselt, und wir bejahen den Fortschritt, der uns befreit. Das Dilemma ist ja gerade, daß beides nicht voneinander zu trennen ist." (41)

Na denn, weiter so wie bisher!

Da der Fortschrittsbegriff qüantitativ ist, muß er, weil wir auf einem endlichen Planeten leben, auch ein Ende haben. Das ist logisch. Wenn man einmal unsere Gesellschaft der Natur gegenübergestellt hat, so als gäbe es in Bonn die zentrale Planungsstelle für die deutsche Wirtschaft, kann man nur auf einen Grund für die Erscheinungen unseres Wirtschaftslebens kommen, mit denen man täglich konfrontiert wird. Der Mensch genießt im Übermaß - bis er an sich selbst erstickt.

"Die 'Fortschrittskurven' der letzten drei Jahrzehnte sind nicht so sehr die Kurven des Wachstums, sondern eher Fieberkurven einer Epidemie. Ihre Fortschreibung über weitere Jahrzehnte hinweg müßte zum schlechthin Absurden führen, zum Erstickungstod in Bevölkerungsdichte, Verkehrsdichte und Wohlstandsschutt." (45)

Dümmer geht's wirklich nicht. Die Frage, die sich stellt, ist, ob er's auch selber glaubt.

Jedenfalls hat er sich ein eigenes Argument ausgedacht, warum es mit dem Wachstum nicht ewig so weitergehe, mit dem er seither offensichtlich nicht wenige seiner Diskussionspartner behelligt hat. Und zwar ergibt sich das aus einer einfachen Rechnung, derer aber die Menschheit nicht mächtig ist.

"Vor einigen Jahren hatten die NATO Verteidigungsminister auf Drängen der Vereinigten Staaten die Vereinbarung getroffen, daß die Verteidigungsausgaben jährlich real um drei Prozent wachsen müßten. Dieser dreiprozentige Zuwachs hätte in rund 23 Jahren eine reale Verdoppelung, in rund 47 Jahren eine reale Vervierfachung der Verteidigungsausgaben bedeutet...

In harten Diskussionen habe ich versucht, die politisch Verantwortlichen davon abzubringen. Es war aus vielerlei Gründen nicht möglich, aber insbesondere deshalb, weil sie eine Exponentialfunktion über einen längeren Zeitraum nicht hochrechnen konnten." (79)

Zinseszins als Pflichtfach auch für höhere Schulen!

"Fortschritt ohne Wachstum"

soll die Zauberformel für die kommenden Jahrzehnte lauten. Kapitalismus ohne Wachstum - wie soll das gehen, fragt man sich da. Das wäre ja wie ein Auto ohne Motor, oder?... Es geht, antwortet Lafontaine, weil es ohnehin schon so ist. Der "Wachstumsmotor" habe "ausgesetzt". Der wunderschöne deutsche Nachkriegsaufschwung des Ludwig Erhard war irgendwann - d.h. genau 1974/75 - aufgrund "weltwirtschaftlicher Veränderungen" zuende, auf die der Wirtschaftsfachmann Helmut Schmidt hinwies. Aber die SPD hatte nicht auf ihn gehört, und so kam die "Wende".

"Das Godesberger Programm der SPD entstand in einer Phase großen wirtschaftlichen Wachstums, die in allen westlichen Industrieländern von der Nachkriegszeit bis Mitte der siebziger Jahre reichte. Es lag nahe, den volkswirtschaftlichen Zuwachs bewußt als Mittel einzusetzen, um politische Ziele zu verwirklichen: Erhöhung der Realeinkommen, Ausbau des Sozialstaats, Finanzierung von Reformen." (70 f.)

Der aufmerksame Leser merkt es: Um politische Ziele geht es dem Autor, und da läßt sich die "Erhöhung des Realeinkommens" kaum in schnöden Mark messen. "Wirtschaftswachstum führte indessen nicht zu einer gerechten Einkommens- und Vermögensverteilung. Tatsächlich verschob sich die Verteilung der Einkommen und Vermögen zugunsten der besser gestellten Schichten." (71)

Mit dieser Einsicht soll nicht etwa - die SPD oder ihr Sozialstaatsprogram desavouiert werden, sondern der Mutterpartei wird vorgerechnet, daß sie nicht rechtzeitig ihre Wende vollzogen und sich auf ihre Werte besonnen hat.

"Wer das Wachstum des Bruttosozialprodukts als notwendige Voraussetzung seines politischen Handelns betrachtet, muß den Offenbarungseid leisten, wenn es ausbleibt. Wer Wachstum gar zum Dogma erhebt, gerät leicht in die Versuchung, die politischen Ziele dem Dogma zu opfern. Ausbleibendes Wirtschaftswachstum heißt nicht, daß die Ziele Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität nicht mehr zu verwirklichen wären." (71)

Vor materiellen Versuchungen ist ein Jesuitenschüler natürlich gefeit. Weil das mit dem Wirtschaftswachstum nicht mehr so ist wie früher, d.h. die staatlich berechnete Steigerung des Bruttosozialprodukts nur mehr mit 2% jährlich ausgewiesen wird, wo die SPD in ihrem "Orientierungsrahmen '85" noch 5% als unabdingbar für ihren "Ausbau des Sozialstaats" ansah, kann man auch nicht mehr so viel verteilen. Kann man nicht? Zum Umverteilen gäbe es in der Republik wirklich genug, man bedenke nur die gesamten kapitalisierten Gelder, die nicht der Sozi-Regierung zum Opfer gefallen sind, sondern die "Vermögen zugunsten der besser gestellten Schichten" "verschoben" haben. Aber darauf, daß die SPD die Partei der Umverteilung wäre, darauf will Lafontaine ohnehin keinen Wert legen.

"Die Sozialpolitik der SPD verfolgt das Ziel, gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und Schäden durch staatliche Sozialleistungen auszugleichen, die über Steuern und Sozialbeiträge finanziert werden.

Es ist eine große Errungenschaft, daß die einzelnen Empfänger solcher Sozialleistungen nicht als Bittsteller vor die staatlichen Instanzen treten müssen, sondern einen Rechtsanspruch auf staatliche Sozialleistungen haben, sofern sie bestimmte Kriterien erfüllen."

Bei welchem großen deutschen Politiker Lafontaine abgeschrieben hat, auch wenn er es vielleicht noch nicht einmal weiß, weil seine Werke zur Zeit verboten sind, möchten wir gar nicht anführen. Aber müssen wir im einzelnen ausführen, wie das "Recht" falsch verstanden worden ist und den "Sozialstaat unweigerlich in Schwierigkeiten" (104) gebracht hat: Anstatt auf Gerechtigkeit zu setzen und jedem das Seine zukommen zu lassen? Denn dem Menschen fehlt bekanntlich nichts so sehr, als daß er weiß, woran er ist.

"Bei fallenden Wachstumsraten kann die Sozialpolitik nur noch finanziert werden wenn das System der sozialen Sicherung umgebaut wird." (104)

Und auf diesem Terrain unterscheidet sich ein SPD-Politiker erheblich von der CDU/CSU.

"Die konservative Lösung, die auf den Abbau von Sozialleistungen zielt, geht einseitig zu Lasten der Bedürftigen. Sie ist auch durch rückwärtsgewandte Utopien nicht zu rechtfertigen. Erst der Sozialstaat hat der Masse der arbeitenden Bevölkerung jene materielle Sicherheit beschert, die für eine menschenwürdige Existenz Voraussetzung ist. Nur unter dieser Voraussetzung aber haben Begriffe wie "Eigenverantwortlichkeit" und "staatsbürgerliche Mündigkeit" einen Sinn. Die ordnungspolitischen Maßnahmen, die den Konservativen zur Behebung der mangelnden Effizienz und der Finanzierungsschwierigkeiten des sozialen Sicherungssystems vorschweben, sind weit eher dazu angetan, die gesellschaftliche Verantwortlichkeit der Menschen zu zerstören, als zu fördern. Eigenverantwortung, die nicht sozialer Verantwortung entspringt, ist schlicht Egoismus." (108)

Eine harte Kritik. Zuerst der Vorwurf der einseitigen Kürzung von Sozialleistungen: Aber bei wem denn sonst als bei den "Bedürftigen"? Die anderen nehmen sie doch gar nicht in Anspruch! Dann der Vorwurf, Überlegungen zur Privatisierung von Abteilungen der Sozialversicherung wären die falsche "ordnungspolitische Maanahme", weil sie den Menschen zu Egoismus erziehe anstatt zu "gesellschaftlicher Verantwortlichkeit". Solidarität ist die staatsbürgerliche Tugend, auf die die SPD die Mitglieder der Volksgemeinschaft bei "verringerten Wachstumsraten" verpflichten möchte. "Die Kritik der Linken am Wohlfahrtsstaat beklagt den Mangel an Menschlichkeit. Demgemäß zielen ihre Lösungsvorschläge darauf ab, das bürokratische System der sozialen Sicherung zu 'vermenschlichen', die verlorene soziokulturelle Dimension wieder herzustellen." (109)

Noch ein paar Kostproben von den Vorschlägen der Linken in der SPD gefällig? Sie wollen den Hängemattenbewohnern nicht einfach ein paar Maschen aufknüpfen, sondern der "Passivisierung des Menschen, die durch das bürokratische System gefördert wird" (109), entgegenwirken und nach "Formen der sozialen Unterstützung suchen, die den Empfänger aktiv an der Gestaltung der gewährten Hilfe beteiligen." Sozialhilfe ist nämlich eigentlich gar nicht so teuer, wenn man an die großen und teueren Apparate der Medizin z.B. denkt und dann noch in Betracht zieht, daß das "Vertrauen in den Sozialstaat" infolge der "Abstraktheit und Anonymität großgesellschaftlicher Einrichtungen" "erschüttert" (107) ist. Also zurück zum menschlichen Maß: Natürliches Sterben daheim, Nachbarschaftshilfe usw.

"Dem Ehrenamt sollte wieder mehr Gewicht beigemessen werden." (109)

Lafontaine drückt seine ganzen Überlegungen auch gleich noch als die Methode sozialdemokratischer Argumentation zu Fragen des Sozialstaats aus: Bei allein, was wir oder die Regierung machen, wir sind die Hüter des Sozialstaats. Diese Betrachtungsweise läßt sich in der Tat unabhängig von allen Maßnahmen in Anwendung bringen.

"Wenn wirtschaftlicher Zuwachs nicht mehr verteilt werden kann und er in der bisherigen Form auch nicht mehr wünschenswert ist, dann muß sozialdemokratische Reformpolitik dort anknüpfen, wo bisher schon Erfolge erzielt wurden, ohne daß wirtschaftliches Wachstum die Voraussetzung war. Dies sind strukturelle Reformen wie Mitbestimmung, die Reform der Gesundheits- und Agrarpolitik, und dies sind Maßnahmen in der Steuer-, Vermögens- und Einkommenspolitik, die zu einer Korrektur der sozialen Ungerechtigkeit führen. Dabei muß die deutsche Sozialdemokratie mit Zähnen und Klauen das verteidigen, was ihre historische Errungenschaft ist: den Sozialstaat." (113)

Woher weiß der gute Mann nur so genau, daß sein Geschäft die beständige "Korrektur der sozialen Ungerechtigkeit" - ist?

So geht also Sozialdemokratie. Politik stinknormal, wie bei Christen und anderen Machern auch. Aber immer mit einem Zusatz. Noch die armseligsten Resultate des gewerkschaftlichen Kampfes - der Staat organisiert unser aller Einteilen mit dem Prinzip "Hilfe zur Selbsthilfe" - werden von der SPD unter Berufung auf die Geschichte der Arbeiterbewegung gefeiert. Es ist eben ein kleiner Unterschied, ob man das Eigentum und seine Konkurrenz kritisiert oder den "Egoismus" der Leute, die immer zuviel wollen.

"Auf der Welt ist ein Verelendungsprozeß im Gange"

Marx "sollte sich täuschen". Und schämen. Eine Revolution aufgrund des "unaufhaltsam fortschreitenden Verelendungsprozesses des Proletariats" hat in den entwickelten "kapitalistischen Ländern... bis heute nicht stattgefunden" (154). Statt dessen:

"Entstand vor 120 Jahren die SPD als Reaktion auf das Elend der proletarischen Bevölkerung, so entstand vor wenigen Jahren die Ökologiebewegung als Reaktion auf das Elend der Natur." (154)

Bevor die Natur also unaufhaltsam verelendet und so unweigerlich zur natürlichen Revolution treibt, nimmt sich lieber die SPD der Sache an, um eine Revolution zu verhindern. Eine Kritik am Kapitalismus bleibt da nicht aus.

"Der Mensch kann sich die Verhältnisse nicht aussuchen, in die er geboren wird. Der organisierten deutschen Arbeiterschaft ist es nicht gelungen, ein anderes, besseres Gesellschaftssystem herbeizuführen. Man kann es ihr nicht verübeln, daß sie sich in dem vorhandenen so gut es eben ging eingerichtet hat. Seit mehr als hundert Jahren macht sie die Erfahrung, daß die Quelle ihres relativen Wohlstands einzig die Steigerung der Produktivität der industriellen Arbeit ist. Daher versteht sie diejenigen nicht, die jetzt das gesamte industrielle System in Frage stellen. Sie sieht dadurch ihren bescheidenen Besitz und Wohlstand gefährdet." (155)

Ein linker SPDler wie Lafontaine kann da nur bedingt zustimmen. Das mit der 100jährigen Erfahrung leuchtet ihm natürlich ein. Dabei hat die Arbeiterklasse eine ganz andere Erfahrung gemacht, nur die sozialstaatliche Interpretation lautete auf "bescheidenen Wohlstand". Aber angesichts der Weltlage ist auch das zuviel.

"Die Verelendung der Natur ist das Ergebnis der industriellen Arbeit."

Lafontaine kommt zu einer Bestimmung des Doppelcharakters des Arbeiters.

"Ist die Natur Privatbesitz, können sich die Besitzlosen mit ihr nicht tätig auseinandersetzen... Wer seine Arbeitskraft verkaufen muß, hat nicht mehr das Recht, den Arbeitsprozeß selber zu bestimmen und selber zu verantworten... Er arbeitet und ist doch passiv, er soll wie eine Maschine funktionieren. Wie kann er für den Gegenstand seiner Arbeit Verantwortungsbewußtsein entwickeln können? Er wird ausgebeutet und beutet nach Maßgabe seines Auftraggebers die Natur aus." (156)

Auch eine Kritik an der Ausbeutung. Den Ausgebeuteten fehlt es an Gelegenheiten zur Verantwortung, und das lassen sie dann an der Natur aus.

"Dem wäre freilich noch hinzuzufügen, daß der kapitalistische Produktionsprozeß genausowenig geeignet ist, bei den Besitzenden ein echtes geseUschaftliches Verantwortungsbewußtsein zu entwickeln." (159)

Und erst die Kup onschneider...!

Mangelnd ausgebildete "soziale Verantwortlichkeit" lautet die Diagnose, die er meint, der kapitalistischen Gesellschaft nicht ersparen zu können. Dem Realen Sozialismus natürlich auch nicht.

"In ständiger Erinnerung ist mir der Moment, in dem ich zum ersten Mal in einem realsozialistischen Land eine Fabrik betrat, und zwar eine Getränkefabrik. Der Betrieb war weitgehend automatisiert. Die Arbeitnehmer, überwiegend Frauen, hatten nach dem vorgegebenen Zeittakt der Maschinen einfache Arbeiten zu verrichten. Wie weit entrückt war dieser Anblick dem kommunistischen Ideal des sich im Arbeitsprozeß verwirklichenden Menschen." (160 f.)

Wenn Herr Lafontaine schon philosophisch kommt - verwirklichen tut sich der Mensch im Produktionsprozeß so oder so. In diesem unseren Land verdient er halt seine Kröten, um sich davon zu ernähren. Aber gegen das Geld und das Lohnarbeitsverhältnis sollte ja nichts eingewandt werden, sonst wäre einem ja auch der kleine Unterschied in den Staatshandelsländern aufgefallen. Aber wahrscheinlich hält Lafontaine das Geld hierzulande für eine Verrechnungseinheit. Jedenfalls kommt es ihm so furchtbar darauf an, daß der Mensch einer gesellschaftlich nützlichen Tätigkeit nachgeht, daß er alle Arbeiten, die der Mensch sonst so verrichtet, schon gleich für keine hält, sondern der Menschheit ihre "notwendige gesellschaftliche Arbeit" in reichlichem Maße erhalten will. Wo Roboter drohen, einem die Arbeit zu klauen, kann man die Ausbeutung auch vergessen.

"Wer die Selbstbestimmung des Menschen will, darf die formelle, notwendige gesellschaftliche Arbeit nicht an Roboter abtreten. Vielmehr muß er versuchen, diese Arbeit so zu gestalten, daß sie den Ansprüchen der menschlichen Persönlichkeit gerecht wird. " (169)

Was soll eigentlich an einem Fließband "unmenschlich" sein, wenn man mit ihm die Produktivität der Arbeitsteilung nutzt, um seine notwendigen Lebensmittel zu produzieren? Den Rest des Tages hat man dann sowieso frei, sich Fragen der Kernforschung zu widmen oder faul in der Sonne zu liegen. Aber Lafontaines "Utopien" sind dermaßen langweilig, daß er sich ausgerechnet eine kapitalistische Fabrik vorstellen muß, "um in der Arbeit Spielräume zu gestalten". Aber er hat den deutschen Arbeiter eh als Idioten abgeschrieben, den man höchstens für die SPD gewinnen kann.

So philosophiert sich ein deutscher Sozialdemokrat den "Arbeitnehmer" zum nützlichen Idioten zurecht, damit er seine Wahlstimme kriegt. Bei Umweltfreunden und anderen alternativen Gesinnungsethikem trifft er dabei voll ins Grüne.

Vom Nutzen und Frommen des Umweltschutzes

"Der Ökoplan: Eine intakte Umwelt bedeutet nicht nur hohen Freizeitwert, sondern auch günstigere Rahmenbedingungen für die Unternehmen: Arbeitskräfte sind gesünder und leistungifähiger; sauberes Wasser für die Produktion braucht nicht vorgereinigt zu werden; saubere Luft für empfindliche Produktionen braucht nicht oder nur geringfügig vorgefiltert zu werden, und Material, Maschinen, Gebäude sind vor Korrosionsschäden besser geschützt." (93)

Ist Lafontaine wirklich so blöd, oder tut er nur so? Wenn er ohnehin nur dem Kapital die Natur zur kostenlosen Nutzung hinstellen will, was soll dann der ganze Quatsch mit dem Umweltschutz?

Planwirtschaft Bonn

"Art, Richtung und Tempo des technischen Wandels müssen in einer demokratischen Gesellschaft zur Disposition stehen." (98)

Der Riesenhuber war schneller als die SPD und hat irgendeine Kommission zur "Folgeabschätzung des technischen Wandels" eingerichtet, denn auch in einer Marktwirtschaft will der Mensch das Gefühl haben, daß der Staat alles im Griff hat.

Die Auflösung des Privateigentums

"Es ist zweifellos richtig, daß die Mitbestimmung ein weiterer Schritt im Prozeß der Auflösung des Privateigentums an den Produktionsmitteln ist, die mit der Legalisierung der Gewerkschaften und der Tarifverträge, der Einführung des Arbeitsrechts und der Übernahme gesamtwirtichaftlicher Stabilisierungsaufgaben durch den Staat begann." (173)

Nicht zu vergessen die Steuern und die direkte staatliche Enteignung von Grundbesitz für Straßen-, Krankenhausbau etc.!