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Volksabstimmung in Italien
MEHRHEIT FÜR VERARMUNG
Am 10. und 11. Juni haben die Bürger des italienischen Staates die einmalige Gelegenheit gehabt, sofern es sich bei ihnen um Lohnarbeiter handelt, per Abstimmung pro Kopf ca. DM 40.- einzustreichen und den Regierungschef loszuwerden. Sie haben mehrheitlich abgelehnt.
Sozialpakt per "Rolltreppe" 1975 hatten die Gewerkschaften mit dem Kapitalistenverband 'Confindustria' eine automatische Angleichung der Löhne an die Inflationsrate ausgehandelt. Diese liegt in Italien jedes Jahr deutlich über 10%. Weil für große Teile der italienischen Arbeiterklasse der mit den Unternehmern ausgehandelte Lohn schon wenige Monate nach Abschluß der Tarifrunde so stark an realer Kaufkraft verliert, waren die ganzen sechziger Jahre hindurch "wilde" Streiks die Regel und eine "friedliche Einigung " der Tarif"partner" die Ausnahme. Das Abkommen zwischen Kapitalisten und Gewerkschaften, genannt Scala Mobile (deutsch: Rolltreppe), beinhaltete von Anfang an keine Sicherheit des Lohnes gemessen an den Lebenshaltungskosten eines Arbeiterhaushaltes. Dieser Sozialpakt sollte ja gerade einen Ausgleich schaffen zwischen den nicht beliebig nach unten veränderbaren Bedürfnissen der Lohnarbeiter nach Brot, Spaghetti und Vino einerseits, dem Boom der italienischen Industrie mittels Anwendung qualifizierter billiger Arbeitskraft in der Konkurrenz mit den EG-Partnern andererseits - und gleichzeitig dem Staat in seiner inflationsfördernden Politik alle Freiheiten lassen. Entsprechend sah der Berechnungsmodus aus: Für die Festsetzung der über die Scala Mobile auszugleichenden Preissteigerungsrate wurde ein Warenkorb zusammengestellt, der ungefähr das Angebot an Gebrauchsgütern enthält, mit dem in der BRD der Sozialhilfesatz ausgerechnet wird. So enthielt der amtlich festgestellte Preisindex z.B. Brot, aber nicht Benzin. Der Preis für das Brot wird in Italien staatlich subventioniert und kontrolliert, der Benzinpreis stieg in den letzten 10 Jahren wie in den anderen EG-Staaten um über 100%. Zudem greift die Vereinbarung über die Scala Mobile nur bei den tariflich national abgeschlossenen Lohnteilen. Sie erfaßt nicht die betriebsspezifischen Abmachungen, die im Durchschnitt über ein Drittel des Lohnes ausmachen. Und da auch in Italien Gewerkschaften sehr viel von Solidarität halten im Sinne einer Verzichtsgemeinschaft, kriegen die unteren Lohngruppen mehr Inflationsausgleich als die höheren. Resultat: 1985 werden im Durchschnitt nur noch 60% des Gesamtlohns von der Scala Mobile ausgeglichen, und in den oberen Lohngruppen gibt's mittlerweile überhaupt nichts mehr, weil diese über die 1975 ausgehandelten Höchstlöhne für Scala-Berechtigung gestiegen sind.
Das politische Programm: "Lohnkostensenkung"
1984 griff die Regierungskoalition aus Christdemokraten, Sozialisten und drei kleineren Parteien unter Bettino Craxi per Dekret in die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und 'Confindustria' über die Jahreshöhe der Scala Mobile ein und verhängte eine generelle Kürzung um 4 Punkte für das laufende Jahr. Faktisch stellte das eine vom Staat beschlossene und durchgesetzte Lohnkürzung mit zehnmonatiger Laufzeit dar. Gegen diese Maßnahme gab es Protest seitens der Kommunistischen Partei Italiens (PCI) und der von ihr mehrheitlich geführten Gewerkschaft CGIL. Nicht gegen das dahinterstehende politische Programm: Daß nämlich für eine "industrielle Modemisierung" Italiens die Lohnkosten gesenkt werden müssen, das hatte die PCI schon vor Craxi als parlamentarischer Bündnispartner der Regierung des Christdemokraten Andreotti im Namen der "nationalen Solidärität" mitbeschlossen. So richtete sich der kommunistische Widerstand gegen Craxis "Eingriff in die Tarifautonomie" auch nicht gegen den Verlust von DM 40.- für einen großen Teil der lohnabhängig Beschäftigten, sondern gegen den "verfassungswidrigen Putsch" einer Regierung, die die "PCI von der Verantwortung ausschließt" und "über die Köpfe der Gewerkschaft hinweg nicht regiert, sondern dekretiert" (so der verstorbene PCI-Sekretär Berlinguer im Parlament). Die Kommunisten und die CGIL konterten die Kürzung der Scala Mobile, nicht mit einem Generalstreik, den Hunderttausende von Arbeitern in den Großstädten auf Kundgebungen im März 1984 forderten. Die PCI und die CGIL benutzten vielmehr diesen von ihnen mobilisierten Massenprotest zur Demonstration ihres politischen Alleinvertretungsanspruches fürs italienische Proletariat und verfochten diesen auf den dafür verfassungsmäßig vorgeschriebenen Wegen: im Parlament und vor dem Verfassungsgerichtshof.
Wahlkampf mit DM 40.-
Das Referendum kam genau 1 Jahr später, nachdem sich die Regierung mit ihrem Dekret durchgesetzt hatte und dessen praktische Wirkung mittlerweile ausgelaufen war. Die Auseinandersetzung um das Referendum wies also alle Charakteristika eines Wahlkampfes auf: Die Bürger wurden um ihr Vertrauen für die Regierungsmannschaft angegangen. Die PCI agierte nicht mit dem materiellen Anreiz eines "Si" für ihr Volksbegehren, der Rückzahlung der damals gekürzten DM 40.-, sondern mit ihrem Konzept einer alternativen Wirtschaftspolitik, das sich vom praktizierten Sparprogramm Craxis nur durch die geforderte Mitwirkung der PCI unterscheidet. Weil sie das Referendum als Mißtrauensvotum einer Oppositionspartei gegen die Regierungsmannschaft aufzog, handelte sie sich die Bündnispartnerschaft der Neofaschisten vom MSI ein, was einem entscheidenden Wahlversprechen der Fünfer-Koalition anschauliche Glaubwürdigkeit verschaffte: Für Stabilität und Demokratie. Es ging also ums Prinzip: Wer verantwortet weiterhin den Staat und seine Wirtschaftspolitik in Italien? Daß die Mehrheit der Stimmbürger, und darunter auch viele vom Lohn Lebende, per Stimme auf das Geld verzichtete und lieber weiter Craxi als Premier haben wollte - der Regierungschef drohte mit dem "Rücktritt 1 Minute nach einer Niederlage" beim Referendum -, zeigt, daß auch in Italien die Mehrheit der Bürger die Erfolgslüge von Demokratie und Marktwirtschaft gefressen haben: Eine stabile Regierung = eine gesunde Wirtschaft = sichere Arbeitsplätze = Geld für Arbeiter zum Leben.
Ein Sieg der "wirtschaftlichen Vernunft"
Noch während die Abstimmung des Volkes lief, kündigte die 'Confindustria' das Scala-Mobile-Abkommen fristgerecht für Ende 1985. Italiens Kapitalisten wissen, was sie an ihrer "stabilen" Regierung haben. Deshalb lehnen sie es nun strikt ab, den "Prozeß der Lohnfindung" in irgendeiner Weise an die "Lebenshaltungskosten und Geldwertentwicklung anzubinden". Als die Volksmehrheit am 11. Juni feststand, die "wirtschaftliche Vernunft" rundum gesiegt hatte, signalisierten die Börsen in Rom und Mailand mit den "höchsten Kursgewinnen der letzten vier Jahre", wieviel Prozent das Vertrauen in eine rücksichtslose Politik wert ist.