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DIE WELT DER DIPLOMATIE
I.
Eine Vorgehensweise in den sogenannten zwischenmenschlichen Beziehungen als diplomatisch zu charakterisieren, gilt im Alltags-Sprachgebrauch als ein zweischneidiges Kompliment. Es enthält die Anerkennung geschickter Verfolgung der eigenen Ziele ebenso wie die Feststellung, daß dabei - "auf Umwegen arbeitend " (dtv-Lexikon zum Stichwort 'diplomatisch') - der Gegenspieler über einen bestehenden Interessengegensatz im Unklaren gelassen, wenn nicht hinweggetäuscht wurde. Reflektiert wird damit die allgemeine Vorstellung von dem, was Diplomatie ist: die Form und Methode des Umgangs der Staaten miteinander in der Verfolgung ihrer gegensätzlichen Interessen. Und diese Vorstellung ihrerseits gilt dem Individuum der bürgerlichen Gesellschaft, das durch das Recht gehalten ist, zur Realisierung seiner Interessen sich in den Dienst anderer, dieser Realisierung durchaus entgegenstehender Interessen zu stellen, als vollkommen natürlich. Gleichwohl endet hier die Analogie.
Als Kennzeichnung einer Alternative unter anderen, seine Anliegen zu befördern (die Verwendung der Faust wäre immerhin genauso möglich wie das direkte, durch nichts als das eigene Interesse begründete Vorbringen der eigenen Sache: beides aber gilt als gleichermaßen "undiplomatisch", weil nicht zielführend, wie der Österreicher zu sagen pflegt) bezieht sich das Attribut "diplomatisch" auf die Ideologie der Diplomatie, den friedlichen Interessenausgleich zwischen lauter gleichrangigen Souveränen nach den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts.
II.
Die praktizierte Diplomatie leistet solchem idealistischen Mißverständnis durchaus Vorschub. Ihre Kodices und protokollarischen Reglements, ihre Floskeln und Techniken erwecken den Anschein, im Umgang der Staaten miteinander gehe es um nichts als gegenseitigen Respekt, freundschaftliche Beziehungen zwischen Völkern, intensive Zusammenarbeit und gemeinsame Interessen von Regierungen. Und selbst wo Staaten miteinander im Krieg stehen, wird die Zerstörungsarbeit der Armeen durch das "fieberhafte Bemühen" der Diplomaten um F rieden, Verständigung und die Wahrung des Kriegs- und allgemeinen Völkerrechts ergänzt. Reden vor, statt, bei und nach dem Schießen.
Durch seine permanente, mit einigem Aufwand vonstatten gehende und der Öffentlichkeit präsentierte Artikulation erhält dieser schöne Schein im allgemeinen Verständnis den Charakter einer zwar irgendwie für "uns alle" ziemlich wichtigen, aber doch abgehobenen und reichlich luxuriösen Sphäre. Der rege wechselseitige Besuchsverkehr der Staatsoberhäupter - "bloße Repräsentation"! Die Konferenzen der Minister und Regierungschefs - "unverbindliche Kommuniques" am Ende von Gesprächen, die schon vorher "keine neuen Ergebnisse" erwarten ließen! Und dazu noch eine ganze Armada von Leuten, die ihren Lebensunterhalt auf Kosten des Steuerzahlers nicht gerade schlecht damit bestreiten, rund um den Globus ihren Staat vornehmlich auf Cocktailparties zu vertreten - "ist der diplomatische Dienst noch zeitgemäß?"
Der Standpunkt, von dem aus solche "kritischen" Betrachtungen des diplomatischen Geschäfts angestellt werden, heißt: Wie läßt sich der außenpolitische Erfolg der Nation minder umständlich erzielen; Er verweist auf die Grundlage aller Diplomatie: das ausgeprägte Interesse, das die Staaten aneinander haben und das sie in den Formen des diplomatischen Umgangs gegeneinander geltend machen. Und dieses Interesse ist keine schlechte Charaktereigenschaft der Staatenwelt. Im Gegenteil: Eine ganze Reihe jedermann bekannter Staaten gibt sich in ihrer Diplomatie die Ehre, universell weltpolitisch zur Einmischung befugt zu sein. Diplomatie ist die politische Alltagsarbeit des Imperialismus.
Unzufrieden - die einen wegen ihres E rfolgs, die andern wegen ihres Mißerfolgs - mit den auf ihrem Territorium vorhandenen und damit ihrer Souveränität unmittelbar unterworfenen personellen und materiellen Mitteln, sehen Staaten die übrige Staatenwelt als die Sphäre, durch deren politische und ökonomische Benutzung die Begrenztheit der eigenen Mittel überwunden werden kann. Das einzige Hindernis ist die fremde souveräne Gewalt, die zu berücksichtigen ist. Die diplomatische Anerkennung auswärtiger Souveräne ist erste Voraussetzung des vorteilhaften Umgangs mit ihnen. Die feinsinnige diplomatische Unterscheidung, wonach Staaten, nicht Regierungen, anerkannt werden, stellt klar, daß mit der wechselseitigen Anerkennung von Staaten die Gewaltfrage zwischen ihnen nicht ausgeräumt, sondern im Gegenteil in ein konkretes Stadium der Austragung getreten ist. So wird sich das Interesse an der Benutzung auswärtiger Souveräne bisweilen verbinden mit einem sehr grundsätzlichen Mißfallen an den Inhabern der betreffenden Gewalt und den Hindernissen, die sie der Inanspruchnahme ihres Staatswesens in den Weg stellen. Eine ganze Gruppe von Staaten, von Nicaragua und Afghanistan über Kuba und Vietnam bis zur Sowjetunion und ihren osteuropäischen Verbündeten, sieht sich mit dem Urteil der imperialistischen Staaten des westlichen Bündnisses konfrontiert, hier werde die Staatsmacht von unrechtmäßigen Regierungen ausgeübt. Und die Vollstreckbarkeit dieses Urteils ist allein eine Frage der vorhandenen Gewaltmittel, des militärischen Kräfteverhältnisses.
Die Beurteilung des Kräfteverhältnisses steht denn auch nicht nur am Anfang aller diplomatischen Beziehungen, sondern ist als ständige Routine das elementare Geschäft aller Diplomatie.
III.
Diplomatische Beziehungen unterhalten Staaten weil sie etwas voneinander wollen. Ihre Aufnahme unterstellt nicht nur die Anerkennung der fremden Souveränität, sondern die vertraglich niedergelegte gemeinsame Erklärung, daß man darin übereinstimmt, wechselseitige Interessen aneinander zu haben und diese in Form von politischen Willensbekundungen auf den dafür eingerichteten diplomatischen Wegen zur Kenntnis zu nehmen.
Diese sehr formale Gemeinsamkeit gibt den Rahmen ab für ziemlich gegensätzliche Absichten der beteiligten Staaten. Zweck aller diplomatischen Bemühungen ist es schließlich, die eigenen Interessen mittels der verfügbaren ökonomischen und militärischen Mittel als zu berücksichtigende Faktoren der politischen Kalkulationen des anderen Staates geltend zu machen, selbst aber möglichst keine auswärtigen Interessen berücksichtigen zu müssen, also: zu erpressen und selbst nicht erpreßbar zu sein. Wahr gemacht ist das Ideal der Nicht-Erpreßbarkeit - positiv: der völligen außenpolitischen Handlungsfähigkeit - das Ende und nicht der Ausgangspunkt aller Diplomatie. So etwas unterstellt die alleinige Souveränität über den Globus oder die völlige Isolation gegenüber dem Rest der Staatenwelt.
Als praktisches Programm formuliert etwa im Verteidigungsweißbuch 1985 der Bundesregierung: "Bedrohung heißt nicht vorrangig Kriegsgefahr, sondern Einschränkung unserer politischen Handlungsfähigkeit" - ist die Devise: "Wir dürfen nicht erpreßbar werden" die Begründung für die Verstärkung der eigenen Erpressungsmittel. Und die Forderung: "Wir müssen berechenbar bleiben", heißt gewiß nicht: Man muß uns jederzeit leicht ausrechnen können, sondern vielmehr: Jeder muß bei seinen nationalen Interessenkalkulationen mit uns als Faktor rechnen.
Immerhin gibt es einiges zu regeln - so gut wie alles nämlich, was die Betätigung von Personen und Eigentum aus einem Staat im Herrschaltsbereich eines anderen Staates angeht. Das beginnt bei der Festlegung der Gründe und Bedingungen, unter denen fremde Staatsangehörige das eigene Hoheitsgebiet betreten dürfen, und der Anerkennung der Dokumente, die ihre staatsbürgerliche Identität belegen. Und es geht vom Hemd am Leibe des Touristen über den Außenhandel mit der ganzen Warenwelt bis zum Import von Kapital, das sich der einheimischen Ökonomie bedient, um sich auf auswärtige Rechnung zu verwerten: Vereinbarungen über den wechselseitigen Umgang mit dem Geld des anderen Staates und über die Besteuerung von Geschälten und Einkommen auswärts beheimateter Personen und Unternehmen dürfen so wenig fehlen wie Abkommen über die gegenseitige Hilfe bei der Durchsetzung des Rechts.
Und je umfassender die zwischenstaatlichen Beziehungen durch zwei- und mehrseitige Verträge geregelt sind, desto mehr laufende Interessenkollisionen aus deren Auslegung und Anwendung sind zu handhaben.
Umfang und Intensität der auswärtigen Beziehungen eines Staates, selbst ein recht zuverlässiger Ausdruck des Umfangs seiner Interessen und der Mittel, ihnen in der übrigen Staatenwelt Geltung zu verschaffen, finden so ihren Niederschlag im Umfang von Personal und Geld, die für die Verwaltung der auswärtigen Angelegenheiten, für den diplomatischen Dienst bereitgestellt werden.
IV.
Das ausgeklügelte Instrumentarium der Diplomatie wo die Form der Willensbekundung an die Adresse eines anderen Staates eine ebenso große Bedeutung zu haben scheint wie ihr Inhalt, verweist - so bizarr es im Einzelfall aussehen mag - ein weiteres Mal darauf, daß sich die auswärtigen Interessen eines Staates grundsätzlich an der Souveränität der anderen Staaten und den von ihnen angestellten Interessenkalkulationen zu relativieren haben. Deshalb tritt zur Mitteilung von Absicht und Interesse zwischen Staaten die äußere Art und Weise dieser Mitteilung als zusätzliche Klarstellung darüber hinzu, welches Gewicht den geltendgemachten Interessen in der eigenen nationalen Kalkulation beigemessen wird.
Ein Interesse kann im Cocktailparty-Plausch mit dem persönlichen Referenten des Außenministers angedeutet werden, es kann dem Stellvertreter des Ministers in seinen Amtsräumen vorgetragen werden, womöglich unterstützt durch die Übermittlung eines schriftlichen "Aidememoire" (wörtlich: Gedächtnishilfe), es kann in Gestalt eines "persönlichen Briefs" von Regierungschef zu Regierungschef angemeldet oder, förmlicher = gewichtiger, in die Form einer Verbalnote oder Note gekleidet sein - womit es u.U. bereits den Übergang von einer Anregung zu einer offiziellen Demarche vollzogen hat. Dies ist die Ebene der "diplomatischen" Mittel der Diplomatie: diplomatisch, weil sie die Form des Verkehrs zwischen Souveränen wahren. Ebenso gebräuchliche Mittel der Diplomatie sind freilich jene, die als "undiplomatisch" gelten, indem sie sich des indirekten Weges über die Öffentlichkeit bedienen, sei es als "gezielte Indiskretionen" oder als "Hintergrundberichte" ohne direkte Quellenangabe, denen ein offizielles Dementi, wenn diplomatisch angebracht, auf dem Fuße folgt, sei es in Form von Interviews, die bisweilen "falsch wiedergegeben" wurden, auch wenn sie zehnmal als unmißverständliche Tonbandaufnahme vorliegen. Hier geht es darum, Mitteilungen, meistens Mißfallensbekundungen, etwas härteren Kalibers an die Adresse eines anderen Staates loszuwerden, jedoch in einer nichtstaatlichen Form, die es beiden Beteiligten erlaubt, daraus "keine Staatsaffäre" zu machen.
Es ist kein Zufall, daß sich gerade die Medien der demokratischen Öffentlichkeit so hervorragend für diese Abteilung der Diplomatie eignen, verbinden sie doch aufs engste den Schein der Selbständigkeit von den Staatsgeschäften mit der strikten Vertretung der nationalen Interessen in auswärtigen Angelegenheiten. Diese Spezialität des diplomatischen Affronts macht jedoch aus der Diplomatie noch lange keine öffentliche Veranstaltung. Sie ist und bleibt geheim.
Wo die Hierarchie der indirekten oder förmlichen diplomatischen Mißfallensbekundungen am strittigen Gegenstand inadäquat erscheint, der Anlaß, die befundene Verletzung oder ungenügende Berücksichtigung des eigenen nationalen Interesses für sehr schwerwiegend erachtet wird, werden die Beziehungen selbst zur Disposition gestellt, durch vorübergehende Rückberufung des Botschafters "zur Berichterstattung" und schließlich durch ihren völligen Abbruch.
Wo das Kräfteverhältnis es zuläßt, vor allem dort, wo die eine Seite sich nach Ansicht der anderen im Stand des Kräfteverhältnisses täuscht, ist auch das Ultimatum ein wirksames Mittel, das eigene Interesse geltend zu machen: die offene Androhung des Einsatzes der staatlichen Machtmittel, wenn der eigenen Willensbekundung nicht in gesetzter Frist entsprochen wird.
Implizit sind diese Machtmittel sowieso schon immer Bestandteil der wechselseitigen politischen Willensbekundungen, und sei es in der unverdächtigen Form der Konstatierung herzinniger Verbundenheit. Wenn es für hervorhebenswert befunden wird, daß der ausgezeichnete Stand der Beziehungen nicht zuletzt im wachsenden Handelsvolumen (oder auch: in der übereinstimmenden Beurteilung gewisser weltpolitischer Spannungsherde etc.) seinen Ausdruck finde, so ist damit allemal gesagt, daß eine Änderung dieses Zustandes zugunsten der anderen Seite als Belastung der Beziehungen aufgefaßt würde und staatliche Gegenmaßnahmen zur Schädigung des anderen fällig machen könnte.
Wichtigstes I nstru ment der "Pflege der Beziehungen" und damit ein Höhepunkt der Diplomatie sind die Besuche, die sich die Staaten in Gestalt ihrer oberen Funktionäre gegenseitig abstatten.
Der Staatsbesuch ist eine feierliche Darstellung des wechselseitigen Interesses zweier Souveräne aneinander und seiner beabsichtigten Ausweitung. Die Programmpunkte und protokollarischen Abläufe werden eingeleitet durch die Präsentation der eigenen Souveränität und die Respektbezeugung vor der durch den Besucher vertretenen: nicht nur mit den beiderseitigen Staatssymbolen, Hymnen und Flaggen, sondern auch mit dem symbolischen Vorzeigen der Staats-Gewalt in Gestalt von Abordnungen der Streitkräfte, die dem Gast ihre Ehrenbezeugungen zuteil werden lassen. Es folgt die gegenseitige Information über den jeweiligen nationalen Standpunkt zu den "Fragen von beiderseitigem Interesse" und wenn irgend machbar die Unterzeichnung eines zuvor ausgehandelten Abkommens, das durch den Staatsbesuch über seinen womöglich peripheren Inhalt hinaus die Weihe eines Symbols der fortschreitenden Intensivierung der Beziehungen erhält. Es folgt die Präsentation des für die praktische Ausgestaltung der bilateralen Beziehungen zuständigen Personals aus Politik und Wirtschaft sowie die Vorführung eines repräsentativen Ausschnitts des ökonomischen Potentials als IIlustration der diesbezüglichen Angebote. Und schließlich darf auch das richtige Maß an Demonstration der kulturellen Identität der Gastgebernation im Programm eines ordentlichen Staatsbesuchs nicht fehlen, als zusätzlicher Beleg der Verfügbarkeit des Volks für die ihm aufgemachten höheren nationalen Belange.
In der konkreten Ausgestaltung dieser Programmpunkte, in den protokollarischen Feinheiten der Besuchsabwicklung findet zudem der Austausch von zusätzlichen indirekten Mitteilungen über die gegenseitige Wertschätzung eine Fülle differenziertester Ausdrucksformen, an deren Interpretation die demokratische Hofberichterstattung ihren Genuß hat.
Die diplomatischen Regeln und Gebräuchlichkeiten ("Usancen"), ihre Wahrung oder bewußte Übertretung, eröffnen ein ganzes Spektrum von auszusendenden und entsprechend aufmerksam wahrgenommenen "Signalen" über den Stand der Beziehungen und des Interesses aneinander. Solche Signale erfreuen sich selbst dann noch der berechnenden Wertschätzung von Staatenlenkern, wenn die Unvereinbarkeit der Interessen zum Kriegsbeschluß geführt hat. Sie sind generell das Material, mit dem sich Staaten ihre Rangfolge um die Ohren schlagen und die einschlägigen Verschiebungen registrieren.
V.
Die Sortierung der Staaten geschieht vom Standpunkt der Diplomatie strikt nach dem Kräfteverhältnis, dem Umfang der eigenen nationalen Interessen an bzw. in den anderen Staaten und den Hindernissen, die diesen Interessen seitens anderer Staaten in den Weg gestellt werden. Es ist die Sichtweise des Imperialismus, und sie hat in der UNO-amtlichen Klassifizierung der Welt in "entwickelte Marktwirtschaften", "Entwicklungsländer" und "sozialistische Staatswirtschaften" universelle Gültigkeit.
Für die "entwickelten Marktwirtschaften", die imperialistischen Staaten des freien Westens, gilt entsprechend der prinzipiellen Grenzenlosigkeit des Kapitals, der Grundlage und des Zwecks ihrer Souveränität, die Welt schlechthin als ihnen zustehende Einflußsphäre. Die Staaten, die diesem Anspruch u nterliegen, indem die ökonomische Grundlage und der Zweck ihrer Souveränität und damit ihre "Entwicklungsperspektive" darin besteht, Land und Leute dem Imperialismus gemäß dessen Bedürfnissen zur Verfügung stellen, sind die "Entwicklungsländer". Und dann gibt es eben noch die Gruppe derjenigen Staaten, denen im Militärpotential der Sowjetunion die notwendigen Machtmittel zur Verfügung stehen, um sich mehr oder weniger nachhaltig dem universellen Weltordnungsanspruch des Imperialismus zu entziehen und als Souveräne an ihrer eigenen, konkurrierenden Vorstellung von internationaler Ordnung und Völkerfreundschaft festzuhalten.
Auch wenn die Staaten dieser drei höchst ungleichen Lager mit wenigen Ausnahmen allesamt miteinander durch ein Netz diplomatischer Beziehungen verbunden und zudem noch - jeder mit einer Stimme - Mitglieder im Club der Souveräne, den Vereinten Nationen sind, ihr diplomatischer Umgang miteinander läßt keinen Zweifel über den Inhalt ihrer Beziehungen aufkommen.
Umfang und Gewicht der Interessen aneinander und der gemeinsamen Interessen gegenüber den sozialistischen Staaten drücken sich aus in der Intensität des diplomatischen Verkehrs zwischen den imperialistischen Staaten selbst. Zwar fehlt hier keineswegs das Grundprinzip der Diplomatie: der kalkulierte Einsatz des eigenen ökonomischen und militärischen Potentials zur politischen Erpressung auswärtiger Souveräne. Jedoch werden dabei im Hinblick auf die Erfordernisse der grundsätzlichen gemeinsamen Gegnerschaft zur Sowjetunion gewisse Grenzen gewahrt. Man verfährt hier von vornherein multilateral, bekennt sich also in aller Form zur relativierte Selbständigkeit im Bündnis, und das alles ohne eine Beschwerde über die Todsünde der Einmischung. Das Militärpotential taugt nur indirekt als bündnisinternes Druckmittel. Es entscheidet über die eigene relative Bedeutung für den Bündniszweck und damit über die Fähigkeit, die eigenen nationalen Interessen gegenüber den konkurrierenden Bündnispartnern geltend zu machen. Und die unmittelbare ökonomische Schädigung der imperialistischen Konkurrenz hat sich dort aufzuhören, wo sie das Bündnis, sei es unter dem Namen EG oder NATO oder "westliche Industrieländer" als Militärmacht schwächt.
Gerade diese Beschränkung freilich, die Übereinkunft, auf den Einsatz der nationalen Machtmittel zur Herstellung eindeutiger Kräftverhältnisse untereinander zu verzichten, eröffnet der innerwestlichen Diplomatie ein weites Feld wechselseitiger Erpressung mit allen diplomatischen Mitteln und Techniken unterhalb jener entscheidenden Ebene, entsprechend dem schönen Grundsatz: je umfassender die Interessen aneinander, desto zahlreicher die Möglichkeiten ihrer gezielten Beeinträchtigung. Deshalb gibt es keinen "Handelskrieg" zwischen USA, EG und Japan - ein wirklicher Handelskrieg wurde bislang noch allemal durch Krieg entschieden -, aber jede Menge Handelsbeschränkungen und Konferenzen darüber. Und es droht kein "Zerfall der EG", sondern es wird lediglich ein gar nicht zimperlicher diplomatischer Kampf zwischen den maßgeblichen Nationen um die "politische Führung in Europa" ausgetragen, bei dem es der amtierenden Bundesregierung zum Bedauern der nationalen Öffentlichkeit im Vergleich zu Kanzler Schmidt enorm an diplomatischem Geschick fehlen soll.
Auf dem Rest des Globus, soweit imperialistischer Einflußbereich, hört sich vollends die Bündnisrücksichtnahme auf, wenn es um den Einsatz des eigenen politischen Gewichts für die Durchsetzung des nationalen Kapitals geht. Die Akquisition von Flugplatz-, Kraftwerks- und anderen großkalibrigen Aufträgen gegen die westliche Konkurrenz ist längst zur wichtigen diplomatischen Aufgabe von Staats- und Regierungschefs auf Auslandsreise geworden. Und die eigene diplomatische Repräsentanz vor Ort hat als eine ihrer wesentlichen Aufgaben den Einfluß der Bündnispartner in den jeweiligen Ländern und die Mittel und Methoden seines Ausbaus auszukundschaften, damit er nötigenfalls auf geeignete Weise konterkariert werden kann.
VI.
In der "Nord-Süd-Diplomatie" ist das Kräfteverhältnis als Indikator der eigenen Handlungsfreiheit kein Gegenstand von Interesse, da grundsätzlich und eindeutig entschieden. Der diplomatische Verkehr mit Entwicklungsländern ist folglich im Prinzip einfach; das anzuwendende Instrumentarium der Interessenbekundungen kann sich in der Regel beschränken auf die Form der Information über den eigenen nationalen Standpunkt und der Anregung, ihm zu entsprechen. Die demgegenüber auf seiten der "Dritt-Welt-Staaten" bestehende Neigung, eigene Wünsche und Einwände in Form gewichtiger Kaliber des diplomatischen Arsenals vorzubringen, kann gelassen hingenommen (bzw. zurückgewiesen) werden und ist allenfalls ebenso wie das beliebte Instrument des Staatsbesuchs hinsichtlich der Implikationen für den örtlichen Einfluß der Konkurrenz zu beobachten.
Bisweilen aber entstehen dennoch Interessenkollisionen, weil Staaten der "Dritten Welt" versuchen, zu ihren Gunsten Form und Inhalt der Diplomatie zu verwechseln und aus den diplomatischen Respektbezeugungen auch der imperialistischen Staaten für ihre Souveränität den Schluß ziehen wollen, sie könnten ihre Angebote mit Bedingungen und Forderungen verknüpfen und so diplomatischen Druck ausüben. Manchmal möchten sie auch gern ihre begrenzte Ausstattung mit militärischen Machtmitteln dazu gebrauchen, ihrerseits ein nationales Interesse jenseits ihrer Grenzen zu entdecken und zur Geltung zu bringen. Im einen wie im anderen Fall durften die "Dritt-Welt-Staaten" erfahren, daß es sich hier um ein Mißverständnis der Grundprinzipien des diplomatischen Umgangs von Souveränen handele.
Was den Einsatz des Militärs für die Sache der Nation angeht, unterstellt er nicht nur ein diplomatisch nicht eindeutig zugunsten einer Seite geklärtes Kräfteverhältnis, sondern auch die Fähigkeit, aus der Schädigung des Gegners einen Nutzen zu ziehen. Deshalb hatte im Falkland-Krieg "die Diplomatie versagt", weil es Großbritannien trotz aller diplomatischen Schritte, von der Protestnote über das Ultimatum bis zum Auslaufenlassen der Flotte, nicht gelang, den Argentiniern auf diplomatischem Wege klarzumachen, daß sie einer drastischen Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses unterlagen. Und im Golfkrieg ist das Kräfteverhältnis zwar mangels entsprechenden Interesses der imperialistischen Staaten nicht vorweg klar, seine militärische Ermittlung macht jedoch keinen diplomatischen Sinn, denn keiner der beiden Beteiligten ist in der Lage, die Schädigung des anderen in einen Vorteil für sich zu wenden.
Die "Dritte-Welt-Diplomatie" der "Entwicklungsländer" berief sich in ihrer kurzen Blütezeit zum einen gemäß dem UNO-Ideal der Weltfamilie gleichberechtigter Nationen auf das Gewicht ihrer großen Zahl von Souveränen (als "Gruppe der 77" etc.), das sie mit Vorliebe im Rahmen größerer Konferenzen zur Geltung zu bringen sucht. Zum anderen argumentiert sie mit ihrer formellen Freiheit, sich kraft ihrer Souveränität entscheiden zu können, welcher der beiden Weltordnungsmächte sie deren Garantie überlassen wollten (als "Bewegung der Blockfreien").
Der Schein eines politischen Gewichts der großen Zahl blieb allerdings auf die UNO als "diplomatische Spielwiese der dritten Welt" beschränkt. Gewisse Höhepunkte des "Nord-Süd-Dialogs" in Gestalt von UNCTAD-Konferenzen und ähnlichen diplomatischen Großveranstaltungen dienten in der Regel der mehr oder weniger konziliant vorgetragenen Mitteilung an die Adresse der "Entwicklungsländer", daß sie nicht in der Position sind, Ansprüche zu stellen. Konsequenterweise ist die "Nord-Süd-Diplomatie" inzwischen zu einem erheblichen Teil Sache der Funktionäre von IWF und Weltbank, die die örtlichen Staatshaushalte unter Kuratel stellen, ohne daß daraus irgendein diplomatischer Protest gegen "Einmischung in innere Angelegenheiten" erwüchse.
Der Diplomatie der "Blockfreiheit", zumal wenn sie ernst macht mit der Verfolgung ihres Ideals, die "Rivalität der Blöcke" als Schaukeldiplomatie für sich auszunutzen, widerfährt noch allemal die gewaltsame Klarstellung seitens der Führungsmächte des Imperialismus, daß die Souveränität dieser Sorte Länder nicht zum Mißbrauch gegen die Interessen der Staaten da ist, die sie alimentieren, um sie sich nutzbar zu erhalten.
VII.
Das Kräfteverhältnis ist der entscheidende Inhalt des diplomatischen Umgangs in den Beziehungen zwischen West und Ost. Die üblichen Gründe für die Aufnahme der diplomatirchen Verkehrs entfallen hier bzw. kommen allenfalls nachrangig ins Spiel. Grundlage der Beziehungen ist vom Standpunkt des Westens nicht die Benutzung der anderen Seite, sondern die absolute Feindschaft angesichts deren prinzipieller Weigerung, sich den Maßstäben der Imperialismus für den "zivilisierten Umgang zwischen Staaten" zu unterwerfen,- sowie angesichts der Tatsache, daß diese Weigerung Äußerung einer durch hinreichende eigene Gewaltmittel untermauerten Souveränität ist.
Der Austausch von Diplomate ist prinzipiell eine Vereinbarung über das legale Tätigwerden von Agenten einer fremden Macht im Herrschaftsbereich einer anderen. Und deren Aufgabe besteht in jedem Fall u.a. darin, Informationen über ihr Einsatzland zu sammeln, vor allem über dessen politische Absichten und das für deren Realisierung relevante, seine Position im internationalen Kräfteverhältnis bestimmende militärische und ökonomische Potential. Diese Aufgabe, der ein recht grundsätzliches Mißtrauen der Staaten gegen die ausländischen Diplomaten in ihren Grenzen entspricht, verläuft zwischen den imperialistischen Staaten angesichts ihrer weitreichenden militärischen und ökonomischen Verbindungen überwiegend in erwünschten bzw. zulässigen Bahnen ohne daß die geheimdienstlichen Recherchen da ganz entfallen. Genau umgekehrt verhält es sich in den Beziehungen zwischen den Mitgliedsländern der NATO und den sozialistischen Staaten. Vom Standpunkt der erklärten Feindschaft aus beurteilt, ist erst einmal alles, was über das offizielle Repräsentieren hinausgeht, Spionage - und gleichzeitig ist im Feindesland selbstredend gerade diese Abteilung der Diplomatie von ganz besonderem Interesse. Da wird die möglichst üppige personelle Ausstattung der diplomatischen Vertretungen sowie die Erweiterung ihres Tätigkeitsbereichs durch Errichtung von Konsulaten- und anderen Dependancen zu einem ganz eigenen Anliegen, das die Gegenseite natürlich durchschaut und mit dem Anspruch auf gleichartige Rechte beantwortet. Dem zugestandenen feindlichen Personal, das selbstverständlich entsprechend ausgebildet ist, muß das Handwerk gelegt werden, am besten noch ehe es begonnen hat; also werden seiner Bewegungsfreiheit, ebenso wie dem Begriff des "Diplomatengepäcks", so enge Grenzen gezogen, wie man es sich ohne Beeinträchtigung der eigenen Spionageerfolge leisten kann. Die gelegentlich -aufgedeckte "Verwicklung" von Diplomaten in Spionagefälle ist kaum eine Enthüllung, vielmehr selbst ein diplomatisches Signal an die Gegenseite, daß man ihr Treiben einzuschränken gedenkt. Die Ausweisung der betreffenden Personen, die zu ihrer Auswechslung nötigt, gilt natürlich als "unfreundlicher Akt", der aber nur dann "die Beziehungen belastet", wenn das die Absicht war oder dem Betroffenen in den Kram paßt. Im übrigen führt sie gutem diplomatischen Brauch entsprechend zu Vergeltungsausweisungen auf der anderen Seite (was von vorneherein einkalkuliert sein will), die gewiß nie die Falsche treffen.
Erscheint schon dieser Austausch von Spionagebrückenköpfen zwischen feindlichen Mächten als eine reichlich verdrehte Sache, so gilt das um so mehr für die Rüstungsdiplomatie, die andere Spezialität in der völkerrechtlichen Höflichkeit zwischen Todfeinden.
Zunächst einmal ist hier das militärische Kräfteverhältnis selbst Gegenstand von Verhandlungen, die jedoch nie im Leben selber ein Mittel sind, um es auf Koste des anderen zu verschieben. Verhandlungsziel ist die Ermittlung und Feststellung eines eventuellen gemeinsamen Interesses ganz besonderer Art: des methodischen Interesses beider Seiten, eben über ihre gegeneinander aufgehäuften und in Stellung gebrachten Vernichtungsmittel i n Kontakt zu treten bzw. zu bleiben. Wozu das wiederum gut sein soll oder kann, das kommt sehr darauf an. Es hat schon Verhandlunge dieser höheren Art gegeben, die am Ende zu dem gemeinsamen Beschluß geführt haben, daß mit der Vermehrung gewisser Waffensysteme ein Durchbruch im Bemühen um Überlegenheit wohl nicht zu erzielen sei, weshalb man sich die vergleichsweise unökonomischen Kosten dafür sparen könnte - aber eben nur, wenn die Gegenseite das auch so sieht und danach handelt, sonst könnte ja doch eines Tages eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses eintreten. Dieses Stück Diplomatie hieß "Rüstungskontrollvereinbarungen", ist von den Diplomaten nie, vom heimischen Publikum aber schon als "Abrüstungspolitik" mißverstanden worden - und hat zusätzliche Gründe dafür geschaffen, die Aufklärung über die gegnerische Rüstung zu intensivieren und dafür die eigene dem feindlichen Einblick noch sorgfältiger zu entziehen. Daraus wiederum sind Verhandlungen und Abkommen über "vertrauensbildende Maßnahmen" erwachsen, mit denen jede Seite sich das Recht auf Überprüfung der gegnerischen Kriegsvorbereitungen sichern will. Wechselseitiger Betrug ist also unterstellt und wird durch Vereinbarungen dieser Art selbstverständlich auch nicht beendet. Somit kann der wirkliche Zweck dieser Sorte Diplomatie aber auch nicht in den in den allermeisten Fällen auch gar nicht erreichten - getroffenen Absprachen liegen. Offenbar ist ihr Stattfinden selber von Interesse: Die feindlichen Staaten bereiten nicht nur den Krieg gegeneinander vor, sondern sie machen einander ausdrücklich auf ihre hierbei erzielten oder geplanten Fortschritte aufmerksam und geben einander die Gelegenheit mitzuteilen, was sie davon halten. Jede Seite rechnet damit (Re-)Aktionen ihres Kontrahenten, die sie nicht berechnen, geschweige denn aus eigener Machtvollkommenheit zum Scheitern bringen kann. Auch diese Lage ändert sich natürlich - einerseits - nicht dadurch, daß man diplomatisch darüber plaudert und einander die alleredelsten Absichten beteuert und dem anderen die schlechtesten vorwirft. Andererseits ist das Plaudern selbst in diesem Fall schon eine (Re-)Aktion, die, solange sie andauert, den Willen kundgibt, den nicht-kriegerischen Umgang mit der anderen Seite jetzt nicht zu beenden. Deswegen sind solche Verhandlungen noch lange kein Ersatz fürs Schießen, sondern der methodische Test auf die Gesprächsbereitschaft der jeweils anderen Seite. Lange genug haben die USA diesen von den Russen angestrengten Test negativ beschieden; in letzter Zeit ist es Reagans Diplomaten gelungen, die sowjetische Anfrage bezüglich ihrer Verhandlungsbereitschaft mit dem Zweifel an der sowjetischen Verhandlungswürdigkeit zu beantworten. In solchen letzten methodischen Feinheiten reflektiert sich in der Welt der Diplomatie die Tatsache, daß die Feindschaft zwischen USA und Sowjetunion nicht auf der Unvereinbarkeit gleichartiger Ansprüche beruht, sondern die Unvereinbarkeit qualitativ unterschiedlicher Forderungen an die je andere Adresse zum Inhalt hat. Den diplomatischen Verkehr als solchen geht diese Differenz aber nichts an. Die Formen zwischenstaatlicher Höflichkeit bleiben gewahrt, bis sie eben aufgekündigt werden; und noch die Aufkündigung erfolgt nach ihren Regeln - wie in Genf zu besichtigen.
Für Diplomaten ist dieses Paradox normal. Schließlich haben sie die formvollendete Kriegserklärung erfunden; und ehe das staatlich verordnete Sterben wieder aufhören kann, müssen sie erst einmal in Aktion getreten sein.