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DER STAAT ERFÜLLT EINEN "MENSCHHEITSTRAUM"
Im Westen genießt ein jeder die Freiheit, sich seine ganz eigene, für ihn bedeutsame, ansonsten aber reichlich belanglose Meinung zurechtzulegen, weshalb und inwiefern er es als Mitglied gerade seiner Nation und als Subjekt einer geschäftlich eingerichteten Arbeitswelt besonders gut getroffen hat. Die Auffassung, in einer Gesellschaft zu leben, die nur darauf wartet, daß ihre Chancen und guten Gelegenheiten tätig ergriffen werden; die Gewohnheit, sich die stinknormale Lebensumgebung zur eigens gewünschten Heimat zu verklären, weil man per Geburt ihr angehört; die moralische Befriedigung, in einer "Wertegemeinschaft" zu leben, deren seelischen Nährwert kein anderes "System" zu bieten hat - all das und beliebig vieles mehr tut sein gutes Werk für die Selbstzufriedenheit moderner Zeitgenossen, die sich ein anderes Leben nur als Knechtung vorstellen können, auch wenn ihre banaleren Vorteilsrechnungen nie so recht aufgehen.
In all seinen guten Meinungen wird dem freien Individuum von seinen Politikern recht gegeben. Die berufen sich zu Wahlzeiten darauf. Danach widmet sich die siegreiche Politikermannschaft wieder der Ausübung der Macht, die ihr Volk ganz grundsätzlich an sie abgetreten hat. Staatliche Gesetze, der Arbeitsmarkt und der Geldbeutel sorgen dafür, daß die Vielfalt freier Meinungen nicht zu einem praktischen Chaos führt.
Diese Liberalität haben die Erbauer des Sozialismus, die 1917 in Rußland einen Staat eingerichtet haben, nicht leiden können. Dem "Betrug der Massen" durch die Gewaltapparatur des bürgerlichen Staates und das ausbeuterische Wirken des Kapitals ein Ende zu bereiten, war ihr erklärtes Ziel. Die UdSSR legte von Anfang großen Wert darauf, über Sowjetmenschen zu regieren, die sich an ihrer Herrschaft beteiligen, weil sie von deren guten Gründen überzeugt sind. Den Kretinismus bürgerlicher Untertanen, die nur mitmachen, weil sie sich den staatlich eingerichteten Lebensverhältnissen anpassen, und ansonsten ihr bescheidenes Glück im Privatleben suchen, läßt der Sowjetstaat seinen Mitgliedern nicht durchgehen. Wer sich in der Sowjetunion so aufführt, kann kein guter Bürger sein und erweckt Mißtrauen. Für das Bewußtsein, an einer guten Herrschaft beteiligt zu sein und deshalb gute Gründe nicht nur für das Bekenntnis zu ihr, sondern für den tätigen Einsatz für sie zu haben, agitiert die Partei ihre Volksmassen. Täglich erneut legen sowjetische Politiker den russischen Menschen auf die Gründe fest, warum dieser Staat das Vertrauen der Massen verdient; so sehr liegt ihnen an deren "bewußter Überzeugtheit".
Ziel dieser Agitation ist die Schaffung des "neuen sozialistischen Menschen", der sich durch "hohe Bewußtheit seiner gesellschaftlichen Verantwortung", durch den "zum eigenen Interesse gewordenen schöpferischen Einsatz" für die gemeinsam von Volk und Staat geteilten Ziele auszeichnet. Auf die bloße Gewalt, die er seinem Volk gegenüber hat, setzt der Sowjetstaat nur bedingt; er möchte sie einsetzen, um die Bürger anzuleiten, daß sie ihren eigenen Willen: "Diesen Staat und keinen anderen wollen wir!" nützlich vollführen. Deswegen kommt es ihm sehr darauf an, daß die guten Gründe, die er für seine notwendige Existenz anführt, nicht mit dem Zynismus eines im Pluralismus großgewordenen Besserwissens eingenommen oder bloß übernommen, sondern daß sie akzeptiert werden. So steht in der Sowjetunion tatsächlich "der Mensch im Mittelpunkt der Gesellschaft" und hat Motive des folgenden Kalibers:
"In immer stärkerem Maße rückt die gesellschäftsgestaltende Rolle des befreiten Menschen, sein prinzipieller Platz im politischen System des Sozialismus in den Mittelpunkt. Es werden die realen Möglichkeiten erweitert und gesichert, daß die Bürger ihre schöpferischen Kräfte und Fähigkeiten anwenden und ihre Persönlichkeit allseitig entwickeln können." (Staatsrecht der UdSSR, Lehrbuch, S. 10)
"Staat des ganzen Volkes"
Verwirklicht ist in der Sowjetunion ein Staatswesen, das sich die Einheit mit seinem Volk zum obersten politischen Zweck setzt. Mehr als der Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, in denen die Leute ihren Willen zu staatlicher "Gemeinschaft" als ihr eigenes, persönliches Interesse ungehindert zur Geltung bringen, will der Staat nicht sein. Seine politische Gewalt versteht er als Hebel, dieses in seinen Menschen vorausgesetzte Interesse zu befördern. Damit dieser Hebel richtig benutzt wird, setzt er auf die korrekte Einstellung der Massen. Die werden ständig zu ihrer Brauchbarkeit erzogen, als ob sie sich ohne ideologische Standfestigkeit nicht nützlich machen könnten. Darüber gibt es Erfolgsmeldungen, und die lesen sich so:
"In der UdSSR wurde die entwickelte sozialistische Gesellschaft aufgebaut. ... Das ist eine Gesellschaft reifer sozialistischer gesellschaftlicher Beziehungen, in der auf der Grundlage der Annäherung aller Klassen und sozialen Schichten, der juristischen und tatsächlichen Gleichheit aller Nationen und Völkerschaften und deren brüderlicher Zusammenarbeit eine neue historische Gemeinschaft von Menschen - das Sowjetvolk - entstanden ist. " (Verfassung der UdSSR, 1977)
Den entscheidenden Schritt zum "jahrhundertealten Menschheitstraum", der in der Sowjetunion wahr geworden sein will, hat bereits die Oktoberrevolution getan. Sie hat den einzigen Störenfried, der die Werktätigen nicht ihren Staat hat machen lassen, beseitigt: das Kapital und das Grundeigentum. Seitdem ist das Verhältnis von Staat und Bürgern aus heutiger sowjetischer Sicht - aus der Lenins noch gar nicht - grundsätzlich harmonisch: Die Befreiung der Arbeiterklasse und der Bauern vom Joch des Privateigentums hat auch den Einsatz des Staates fürs Volk von seinen monopolkapitalistischen Fesseln befreit. Seitdem hat die Volkseinheit, der die Staatsgewalt zum real existierenden Ausdruck verhilft, den gegenseitigen Nutzen von Staat und Massen zum einigenden Band!
Mehr als das Lebensmittel für alle seine Bürger will der Staat nicht sein - das aber entschieden. Für den materiellen Nutzen der Bürger betreiben Parteifunktionäre ihr staatliches Werk; daran wollen sie sich allein messen lassen und werden sie gemessen; das Versagen manch eines Funktionärs an dieser, Aufgabe bringt in der Sowjetunion Politiker auch einmal um ihre Posten. Einzig aus dem fortwährend proklamierten Grund, weil es ihnen nützt, sollen sich die Bürger für die Planaufgaben, die ihnen ihr Staat stellt, nützlich machen. "Je mehr ihr für den Sozialismus tut, desto mehr können wir für euch tun", lautet die tägliche Ansprache sowjetischer Politiker an ihr Volk:
"Alles für den Menschen, alles zum Wohle des Menschen - diese programmatische These muß mit immer tieferem und konkretem Inhalt erfüllt werden. Denn die Verbesserung der Lebensbedingungen für den Menschen muß auf dessen wachsendem Beitrag zum gemeinsamen Werk beruhen." (Gorbatschow)
Hier wird die Phrase von der Einheit von Volk und Staat nicht als Phrase gehandelt, sondern zum praktischen Gebot: Ein Staat ist so gut, wie seine Gewalt für die solidarische Verwirklichung der materiellen Interessen des Volkes taugt; mag dieses Einheitswerk auch noch so sehr von "Mängeln" und "Versagen" begleitet sein. Der Eid eines bundesdeutschen Kanzlers: "Das Wohl des Volkes zu mehren und Schaden von ihm zu wenden", klingt nur im Prinzip ähnlich und gilt praktisch der tatkräftigen Sorge um die "Konkurrenzfähigkeit der Wirtschaft", die "Konjunktur", die Verwaltung der "Arbeitslosigkeit", und das Volk findet seine Berücksichtigung darin, ob und wie es dafür nützt. Was daher im Freien Westen ein sehr abstrakter Appell an ein pur ideologisches Pflichtbewußtsein und eine matte soziologische Phrase bleibt - daß alles "gesellschaftlich bestimmt ist" - ist drüben ein Kompliment und ein Imperativ zugleich. Alles hat ein Beitrag zum Fortschritt zu sein.
Nichts an besonderen Interessen, bis in die Sphäre des Privatlebens hinein, entgeht der Würdigung, "unmittelbar gesellschaftlich" zu sein. Darin ist alles als Teil des sozialistischen Lebens anerkannt und darf sich gemäß seiner aktiven Beteiligung an der Schaffung der "reichen, entfalteten Möglichkeiten" dieses Staatsprojekts die Befriedigung seines Nutzens erwarten.
Das Paradies ist darüber nicht ausgebrochen.
Daß sich das staatssozialistische Unternehmen für die Beteiligten lohnt, wollen dessen politische Leiter so einfach ja nicht gesagt haben. Da wäre ihre Überzeugungsarbeit, einmal vom Volk eingesehen, glatt schon beendet - und eine Staatsgewalt, die ihre Bürger auf die Einhaltung und Verfolgung ihrer eigenen Interessen verpflichtet, überflüssig. Was die so schöne Einheit von Volks- und Staatsinteresse in der UdSSR immerzu widerlegt, ist ja die Existenz dieser Staatsgewalt, die das gewünschte und schon grundsätzlich erfüllte Einigungswerk beständig ihren Untertanen als deren Aufgabe überträgt. So liefert der Sowjetstaat in all seinen Bekenntnissen, selbst immer "mehr mit den Massen zu verwachsen" und seine Bürger "immer mehr an den - Staatsgeschäften zu beteiligen", das Eingeständnis, daß die proklamierte Einheit, über die er wacht, auf einem harte Gegensatz beruht und nur so weit wirklich ist, so weit der Staat für ihre Einhaltung sorgt. Das Ganze soll sich für die Massen lohnen: Die Partei setzt nach dem gewünschten Staatsnutzen den Plan an, die Werktätigen arbeiten und am Ergebnis befindet der Staat, inwieweit ihr Leistungseifer belohnt werden kann bzw. angestachelt werden muß.
Der Fortschritt der "entwickelten sozialistischen Gesellschaft" soll sich nach Bekunden der Hüter der Lehre des Marxismus-Leninismus als die immer lebendigere Ausgestaltung dieses nicht verschwiegenen Gegensatzes vollziehen; und das soll dasselbe sein wie sein Verschwinden. So nimmt das Einheitswerk, das in der Existenz der Sowjetmacht bereits vollbracht und erfüllt ist, die Form unendlichen Strebens an: Es muß täglich neu und immer besser erfüllt werden.
Auch in diesem Sozialismus hängen oben und unten heftig voneinander ab: Ohne das freiwillige Mittun und das von oben erlaubte Nutzenkalkül der Massen kommt der Staat nicht zu seinem Recht; umgekehrt stellt sich der Erfolg der Werktätigen nur nach Maßgabe des Erfolgs der sie anleitenden gesellschaftlichen Instanz ein. Die Einheit des Volkes, auf die der Sowjetstaat sich beruft als eine gesellschaftliche Produktivkraft, die getrennt und außerhalb seines Wirkens existieren soll und der er dienen will, setzt er durch sein Wirken erst durch. Das Lob auf die Volkseinheit, die den Sowjetstaat so vorbildlich für die gesamte Menschheit macht, ist so ein dauerndes - aber durchaus nicht verheimlichtes - Geständnis, daß das staatliche Wirken lauter Gegensätze - jenseits aller Klassengegensätze der bürgerlichen Gesellschaft - selbst erzeugt, beherrscht und bemeistert.
"Die Verfassung von 1977 fixiert die Schaffung des Staates des ganzen Volkes, der den Willen und die Interessen der Arbeiter, der Bauern und der Intelligenz zum Ausdruck bringt, das unzerstörbare Bündnis dieser Kräfte als soziale Grundlage der UdSSR, die soziale, politische und ideologische Einheit der sowjetischen Gesellschaft, deren führende Kraft die Arbeiterklasse ist. Nach der Verfassung gehört alle Macht dem Volk bei gewachsener Rolle der KPdSU als führende und lenkende Kraft der Gesellschaft, als Kern ihres politischen Systems." (Staatsrecht der UdSSR, Lehrbuch, S. 35)
Für den "nicht-antagonistischen Charakter" dieser Einheit aller Kräfte ist durch die "führende Kraft" der Partei gesorgt, die jedem seinen Part zuweist.
Die Partei leitet an
Die Kommunistische Partei der Sowjetunion ist das Instrument, das sich der Staat gegeben hat und dessen sich das Volk bedienen soll - oder auch umgekehrt -, um ihre verbürgte Identität stets neu und vollendeter herzustellen. Mitgliedschaft in ihr unterstellt eine für den Nutzen der sozialistischen Gesellschaft vorbildliche Pflichterfüllung: Parteimitglieder sind die bewußtesten Vorkämpfer, "die Besten, weil sie nicht um der Ehren und Vorrechte willen, sondern um den hohen Idealen des Sozialismus, den Interessen des schaffenden Volkes zu dienen, der Partei beitreten".
Unbekannt ist es Tschernenko also nicht, daß es für den Parteieintritt durchaus das Motiv gibt, sich als Staatsfunktionär durch Beteiligung an der Staatsmacht seinen besonderen Vorteil zu verschaffen, und daß mancher Genosse den Dienst am zu befördernden Gesamtwohl für einen Umweg hält. Das "leuchtende Vorbild", das "glühende Kommunisten" den Massen abgeben, soll den merkwürdigen Lehrsatz belegen, ausgerechnet durch exemplarische Selbstlosigkeit würde der Materialismus aller am besten bedient und gefördert. Und ausgerechnet dafür genießen Parteimitglieder einige Vorrechte. So gehört zum Lob der Partei die ständige Begleitmusik, daß sich hie und da Genossen auf allen Parteiebenen "Herzlosigkeit, Schlendrian und Verantwortungslosigkeit" haben zuschulden kommen lassen; und der Selbstkritik folgen Säuberungsmaßnahmen, die sowjetische Parteikarrieren nicht zu Einbahnstraßen werden lassen.
Doch auch wo Mitglieder der Kommunistischen Partei ihr vorbildliches Wirken ernstnehmen, ist die Einheit, die die Partei mit den Massen herstellt und gleichzeitig in sich schon verkörpert, nicht heil. In der Partei sind die bewußtesten Teile des sowjetischen Volkes versammelt; diejenigen, die sich als Volk die Aufgaben des Staates schon ganz zu ihrem Anliegen gemacht haben. Die betreuen und erziehen die übrigen Sowjetmenschen unter der Losung: "Wir tun nur, was ihr schon immer selbst wollt." Als Aufgabe der Partei wird der kleine Widerspruch verkündet und verfolgt: "Leitung zur Eigenverantwortung". In der Partei ist also schon wieder nichts als der staatlich ins Recht gesetzte gerechte Volkswille am Werk - und gerade als solcher hebt er sich ab gegen seine Grundlage, auf die er einwirkt. Nicht als ob am "Anleiten" und "Einwirken" an sich etwas Schlimmes wäre. Sollen die Kommunisten doch mit dem restlichen Volk um den richtigen Weg streiten. So versteht die sozialistische Partei ihre Führungsrolle in der Gesellschaft aber gerade nicht. Ihr Pathos von wegen "auf die Höhe des gesellschaftlichen Bewußtseins heben" entstammt der Existenzlüge der sowjetischen Partei: Das Volk ist schon das, wohin die entschlossene Vorhut es dauernd führt. Sie setzt die moralische Kraft der sozialpflichtigen Überredung ins Werk - einer korrekt begründeten Überzeugung dient das nicht.
Die Gegensätze zwischen Staat und Volk, Führung und Masse, Partei und "schaffenden Werktätigen" werden eben nicht beseitigt, sondern geleugnet. Andererseits werden sie anerkannt und zum Mittel des nicht aufgegebenen, sondern energisch weiterverfolgten Einheitswerks gemacht. Da wechseln sich in der Partei in schöner Regelmäßigkeit Kampagnen ab, die einmal mehr auf "Volksnähe" und einmal mehr auf disziplinarische Kontrolle von im Volk eingerissenen Unarten unsozialistischer Lebensweise gehen. Macht das "rückhaltlose" Anprangern von "Schaumschlägerei und Phrasendrescherei, Dünkel und Verantwortungslosigkeit", die in der Partei überhand genommen haben (Gorbatschow), den Massen das Vorbild der Kommunisten kenntlicher? Oder stärkt umgekehrt die Mahnung, bei der Aufdeckung von Versäumnissen der Partei weder "Voluntarismus noch Übertreibung einreißen zu lassen" (Tschernenko), das "Vertrauen der Massen in die Partei" besser? Beides will bedacht - und abwechselnd das eine und das andere gemacht sein.
Innerhalb der Partei gibt es eine geordnete Hierarchie des Parteilebens mit säuberlich festgehaltenen Weisungsbefugnissen und daneben die Kontrolle von unten - zusammen ist das "demokratischer Zentralismus" und der Beweis, daß die Kommunisten in der Partei nicht die gemeinsame Einsicht, sondern das schöne Verhältnis von Vertrauen und Mißtrauen vereint. Das innerparteiliche Leben wird durch eine Vielfalt von einzelnen Interessen bestimmt, die sich in der Partei zum Ausdruck des gemeinsamen Interesses machen und dabei ihre Besonderheiten nicht verlieren. Da gibt es die Vertreter der kommunistischen Jugend- und Frauenorganisationen und, nicht zu vergessen, einen Nationalitätenproporz. So dokumentiert die Partei an sich, was die von ihr getragene und vertretene Volkseinheit wirklich ist: Sie ist darin Organisator wie bloßer Ausdruck des wirklichen Volkswillens, daß sie die anerkannten Unterschiede und Gegensätze im Volk bestehen läßt und so für das gemeinsame Werk nützlich macht.
Das reiche politische Leben
Jedem wirklichen oder sogar bloß vermuteten Sonderinteresse in der sowjetischen Gesellschaft wird von der Partei erst einmal als Teil des sozialistischen Lebens recht gegeben - mit der kleinen Auflage, daß es sich als Motor der Volkseinheit betätigen und darin von der Partei anleiten lassen soll. Zwar bräuchte es diese gesellschaftliche Vermittlung gar nicht, die in der Sowjetunion jede Regung des öffentlichen und privaten Lebens zu einem Demonstrationsakt des gemeinsamen politischen Willens macht, der Staat und Massen eint, wenn das gelten würde, was da zu jedem Anlaß demonstriert wird. Darum macht sich die Partei freilich keine Sorgen, wenn sie jeden bemerkten Gegensatz zum Hebel einer neuen Vermittlung macht, durch die die Volkseinheit wieder ein bißchen vollkommener wird.
Neben der Partei, die in sich die erreichte Gemeinsamkeit von Staatsgewalt und Volksinteresse verkörpert, gibt es die Massenorganisationen der Gesellschaft, die das gleiche zum Ausdruck bringen, nicht als Staatswille, sondern als Wille des Volkes in seinen verschiedenen Abteilungen. Und wieder entsprechen sich beide Seiten in dem so noch einmal bestätigten Gegensatz von Sowjetmacht und Gesellschaft.
Seit den vergangenen Zeiten, als die Arbeiterklasse das entrechtete und ausgebeutete Opfer war und unter bolschewistischer Führung die Revolution gemacht hat, hat sie in der Sowjetunion ihre führende Rolle nicht verloren. Heute ist sie der Herr über die Produktion; von ihr hängt ab, ob der Staat das Lebensmittel für die Massen sein kann, das er sein will.
"Die Arbeiterklasse ist die Hauptproduktivkraft der Gesellichaft und spielt im System der gesellschaftlichen Beziehungen die führende Rolle. Das ist objektiv bedingt durch ihre Rolle in der materiellen Produktion, ihren revolutionären Geist, ihre Diszipliniertheit, Organisiertheit und Kollektivität." (Staatsrecht der UdSSR, Lehrbuch, S. 72)
Dementsprechend steht die Gewerkschaft bei den sowjetischen Massenorganisationen voran. Sie nimmt die ihr und der Arbeiterklasse übertragene "hohe gesellschaftliche Pflicht" als ihr eigenes Recht wahr. Was ihr da als eigenes Interesse übertragen ist, die Organisierung des sozialistischen Wettbewerbs, die Einhaltung der Arbeitsmoral und der Planvorgaben, bringt den Gegensatz zwischen staatlichem Auftrag und dem materiellen Nutzen der "Herren der Produktion" nicht zum Verschwinden, sondern akzentuiert ihn. Im Kampf gegen die Willkür von Betriebsleitern und gegen mangelnden Unfallschutz arbeiten sich die Gewerkschaften an einem Geständnis ab: Die staatlich eingerichtete Produktion steht im Gegensatz zu den Interessen der Werktätigen. Die Schädigungen, die ihr Staat ihnen im Betriebsablauf aufhalst, überläßt er den Werktätigen und ihrem sozialistischen Interessenverband gleich selbst zur zweckdienlichen Weiterverarbeitung.
"Privatinteressen" sind - im Gegensatz zu einem westlichen Gerücht - im Sozialismus sehr gut aufgehoben; nämlich als gesellschaftliche. Geld spielt dabei keine Rolle. Gesoffen wird im Kollektiv und in der Betriebskantine. Ohne gesellschaftliche Organisierung läuft in der UdSSR nichts, mit ihr alles. Kein noch so borniertes Vergnügen und kein noch so ausgefallenes Interesse, das sich nicht - einmal als Teil des sozialistischen Lebens offiziell anerkannt - als gesellschaftliche Aufgabe vorträgt und als berücksichtigte politische Organisation die Gemeinsamkeit und Volkseinheit lebendig gestaltet. Von den Kulturschaffenden bis hin zum Kaninchenzüchterverband haben sie ihre Aufgabe bei der Leitung und Weiterentwicklung des Sozialismus. Da versteht es sich von selbst, daß bisweilen auch zusätzliche Leistungen für den gesellschaftlichen Nutzen zu erbringen sind, anläßlich staatlicher Feiertage, aber auch sonst. Die besonderen Interessen müssen eben durch eine Extra-Anstrengung das beweisen, was sie per Definition und Bekenntnis doch immer schon sind: auf nichts gerichtet zu sein als auf das gemeinsame gesellschaftliche Wohl, das der Staat in seinem Haushalt verwaltet und gerecht seinem Volk zurückvergütet. Für sich, ohne das zusätzliche praktisch bewiesene Bekenntnis zum gemeinsamen Werk, taugen sie als Beitrag zur neuen Gesellschaft nichts oder zu wenig.
Dieser Widerspruch fällt in der sowjetischen Gesellschaft nicht unter den Tisch. An jeder der vielen gesellschaftlichen Schaltstellen, wo das Hand-in-Hand von Partei und Bürgern beispielhaft verwirklicht ist, bekommen die Sowjetmenschen nicht nur die öffentliche Anerkennung zugesprochen, was Bürger- und Staatssinn da wieder an Vorbildlichem geleistet haben. Oft genug kriegen sie auch mitgeteilt, daß da auf der einen Seite Erpressung, auf der anderen Seite Gleichgültigkeit und Entzug am Werk war. Weil der Sowjetstaat weiß, daß er den Opportunismus des bloßen Mitmachens ins Leben ruft, will er diesem Opportunismus den Beweis abfordern, daß er sein glattes Gegenteil sei. An den Zügen der Übertreibung, die das öffentliche politische Leben annimmt, läßt sich mühelos ablesen, daß die bewiesene gemeinsame Verpflichtung der Ersatz für einen Zusammenhang ist, der nicht existiert - zumindest nicht in der Form, die sich der Staat, der den freien Willen zu ihm auch nicht abwartet, sondern machtvoll organisiert, verspricht.
In den bedeutenderen Abteilungen des gesellschaftlichen Lebens sorgt die staatliche Fürsorge dafür, daß das einigende Band zwischen ihm und seinen Bürgern - deren materieller Nutzen - auch ziemlich auf der Strecke bleibt. Vom Bürger wird da erst einmal verlangt, sein wirkliches Interesse an einem für ihn nützlichen Staatswesen durch die praktisch werdende Moral der Selbstlosigkeit zu beweisen. Daß der Dienst am Erfolg des staatlich in die Hand genommenen Sozialismus und dessen Dienstleistung für die Bedürfnisse der Massen auseinanderfallen und gegeneinander stehen, das soll das "Heldentum", der "Einsatz " und die "Schöpferkraft" des sozialistischen Menschen wenn schon nicht überwinden, so doch um so nach drücklicher dementieren. Umgekehrt gilt die Abhängigkeit aber auch. Von der Partei angeleitet, wird jedem noch so bescheuerten Interesse als Beweis der verwirklichten Einheit stattgegeben, damit es, richtig behütet, seine gesellschaftliche Natur entfalten kann. Wo sich die gesellschaftliche Einheit so ihre Fortschritte schafft
"In der entwickelten sozialistischen Gesellschaft wächst die Rolle der gesellschaftlichen Organisationen, werden ihre spezifischen Funktionen umfassender, ihr Zusammenwirken mit dem Staat und untereinander wird enger, es erhöht sich die Zahl der Organisationen und deren Mitglieder." (Staatsrecht der UdSSR, Lehrbuch, S. 61) -,
da wird die Liberalität des sozialistischen Staatswesens immer allumfassender. Letztlich zählt doch nur, was die Leute eh schon machen; damit wirken sie ja schon in der sozialistischen Gesellschaft zu deren Vorteil. So braucht der Glaube an einen christlichen oder moslemischen Gott nicht mehr zu schänden. Auch als Aserbeidschaner, Weißrusse oder Kirgise kommt der Sowjetmensch zu sozialistischen Ehren. Wissenschaftler graben fast schon verlorene Sprachen und Traditionen aus, die keinen Bürger mehr jucken - zum Beweis für den Reichtum und die Vielfalt des unter der Volkseinheit entwickelten Sozialismus.
Von staatlicher Seite aus herrscht so eine auf Vertrauen und Mißtrauen gebaute Zufriedenheit mit der zuwege gebrachten Volkseinheit. Gegnerschaft von seiten ihres Volkes braucht die Sowjetmacht offensichtlich nicht zu fürchten. Sie hat den Konservativismus, die Erhaltung der Gesellschaft so, wie sie ist, zum Motor all der Veränderungen gemacht, mit denen sie immer noch weiter und weiter voranschreiten will. Eine merkwürdige Bewegungsform des Sozialismus, der die Gesellschaft so umstürzt, daß er seiner fortschrittlichen Deutung dessen, was die Leute treiben, in den gesellschaftlichen Einrichtungen selbst objektive Geltung verschafft.
Die Entwicklung des sozialistischen Menschen
Die Ausbildung seiner Bürger ist eine Selbstverständlichkeit, auf die der Sowjetstaat großen Wert legt. Das "allseitig entwickelte" Individuum macht erst aus den staatlichen Planziffern und den aufgestellten Maschinen die Produktiukraft, die für den Reichtum sorgt.
"Es liegt auf der Hand, daß die Aufgaben des reifen Sozialismus sich ohne eine umfangreiche Arbeit zur geistigen Entwicklung des Menschen, zu deren sozialistischer Errziehung nicht bewältigen lassen." (Tschernenko)
An der wissenschaftlich-technischen Ausbildung, deren Grundkenntnisse jedem Sowjetmenschen vermittelt werden, wird nichts versäumt. Daß die Anwendung dieser Kenntnisse sich schwierig gestaltet und oft unterbleibt - dank staatlich eingerichteter Produktion -, macht den Wissensdurst russischer Jugendlicher mit der anderen Sparte der Erziehung zum Sozialismus bekannt. Die Produktivkraft, die der russische Staat in seinen Bürgern schätzt, ist ja tatsächlich eine: Es hängt wirklich von der positiven moralischen Einstellung seiner Leute ab, ob sie so tätig werden, daß die Verfolgung ihres Nutzens mit dem Erfolg, den der Staat sich vom produktiven Wirken seiner Bürger für sich verspricht, zusammenfällt. Letzterer ist ja den Massen als Aufgabe übertragen, also von ihren nicht immer staatsdienlichen Kalkulationen abhängig gemacht. Für den erwünschten "heldenhaften Einsatz", das "Schöpfertum" und die "sozialistische Initiative", die die materiellen Mittel der Produktion erst mit Leben erfüllen sollen, braucht es gute Gründe - und das Eingeständnis, daß die staatlich eingerichtete Produktion dem Zweck nicht dient, mit möglichst wenig Arbeit möglichst viel nützliches Zeug herzustellen.
Die Gründe für die "Erziehung zum Sozialismus" sind dann so gut nicht. Sie beruhen ja auf der eingestandenen Ungültigkeit des in der UdSSR zur Macht gekommenen Glaubens, Staatswohl und Bürgernutzen seien ein und dasselbe. Die Massen werden zu einem Materialismus erzogen, der identisch ist mit allen moralischen Ehrentiteln des Verzichts: "Solidarität, Fleiß, Gerechtigkeit und Verantwortung". Deren Verkündung wird natürlich zur dauerhaften Aufgabe, ebenso wie die staatliche Überprüfung, wieviel das Bekenntnis der Massen zum Sozialismus und seinen Tugenden tatsächlich wert ist. Ziemlich regelmäßig beißt sich diese Erziehung mit dem, wofür sie da ist. Reale Sozialisten bemerken daran allerdings nie die Widersprüchlichkeit ihres Erziehungsziels, sondern ändern nach Kräften ihre Erziehungsmethoden: Seit einem Jahr wird das Volk zu einer geplanten Schulreform befragt, die die Ausbildung wieder mal "näher ans wirkliche Leben heranführen" soll. Der Reformeifer bringt im übrigen eine bemerkenswerte Liberalität mit sich. Im Bereich der Universitäten hat mittlerweile jede Dummheit bürgerlicher Wissenschaften Einzug gehalten, wenn sie nur geeignet ist, den Glauben an den Sozialismus zu bekräftigen und entdeckte Mängel als Beweis für die Richtigkeit und Verbesserungswürdigkeit der Prinzipien realsozialistischer "Planung und Leistung" zu deuten.
Medien und Öffentlichkeit sorgen für Information und Unterhaltung, indem sie aus dem Arbeitsleben der Gesellschaft berichten. Da kommen auf der ersten Seite der Prawda Berichte über den heldenhaften Einsatz der ukrainischen Erntebrigaden neben die jüngste Rede Gorbatschows zu stehen. Beides transportiert dieselbe Botschaft: die bebilderte Mitteilung, daß die sozialistische Herrschaft eine funktionale Arbeitsteilung ist, bei der jeder gemäß seiner gesellschaftlichen Verantwortung sein Bestes leistet. Die Politiker organisieren Pläne für die bessere Güterversorgung und geben neue 'zündende Ideen', die sich ewig wiederholen; die sozialistischen Massen machen mit ihrem richtigen Bewußtsein das wahr, was dessen Sachwalter ihnen auftragen. Als wäre der Verdacht lebendig, der innige Zusammenhang von nützlicher Herrschaft und nützlichem Dienst sei womöglich doch nicht so glaubwürdig, wird die Übereinstimmung von unten und oben - ohne an "oben" und "unten" selbst einen Zweifel zu lassen beschworen, was einen Journalismus ganz eigener Art hervorbringt. Mitten in einer grundsätzlichen Rede Tschernenkos beruft dieser sich auf das leuchtende Beispiel einer namentlich genannten Bäuerin als Beleg für die von ihm verkündeten staatlichen Notwendigkeiten; im Bericht über den Ernteeinsatz wird das Lob der Massen übersetzt in das Selbstlob der Partei, die mit ihrer Begeisterung dem Willen der Massen den richtigen Weg gezeigt hat.
Insgesamt krankt diese Berichterstattung etwas an dem Widerspruch, lauter angebliche Selbstverständlichkeiten zu feiern. Was immer Politiker und Volk machen, ist ja nichts als die zu ihrem Interesse gewordene Pflicht, alles für das Wohl der Gesellschaft zu tun - und das kommt zu veröffentlichten Ehren als besondere Leistung, die sich offenbar doch keineswegs von selbst versteht, sondern ein Vorbild hergibt.
Vom Ausland muß der sowjetische Bürger wissen, daß sich seine Politiker um die Sicherheit seiner sozialistischen Heimat kümmern. Da kommen andere Staaten und ihre entschiedenen Absichten als schwierige Lage daher; geographische Kenntnisse über Rußland hinaus erhält er als Mitteilung, wo überall Zustimmung zum Friedensweg der UdSSR existiert.
Interessant ist das alles also nicht, was der Sowjetmensch von seiner Öffentlichkeit geboten bekommt. Weder wird er durch entsprechende "Hintergrundberichte" zu kammerdienermäßiger Anteilnahme an den Intrigen seiner hohen Herren animiert, noch soll ihn die Delikatesse faszinieren, mit der ein Frauenmörder seinen Job erledigt hat. Dieser zivilisatorische Fortschritt der Sowjetgesellschaft, eine ganze Welt der Dummheit außer Kraft zu setzen, hat allerdings auch nicht gerade viel Klarheit über wichtig und unwichtig gestiftet, geschweige denn zu einer sonderlich ehrlichen Auseinandersetzung über richtig und falsch geführt. Statt dessen ist ein reformdemokratisches Ideal wahrgeworden: Mann und Frau, jung und alt... haben sich nicht in tausenderlei gleichförmig-individuellen Privatsphären vergraben; sie sind politisiert.
"Wählen heiß t sich bekennen"
Die Sowjetmacht baut - auf eine Loyalität ihrer Massen, die weit anspruchsvoller ist als das unverwüstliche demokratisch-pluralistische "Räsonniert, soviel ihr wollt, aber gehorcht!" Sie tut alles dafür, daß diese Loyalität sich einstellt: Die Massen sollen aus ihren ureigenen Interessen heraus die staatlich verfolgten Zwecke zu den ihren machen. Und sie tut sogar noch ein übriges: Sie organisiert das Gelingen ihres Erziehungswerks, die freiwillige Erfüllung ihres Anspruchs auf Zustimmung. Und das keineswegs nur alle paar Jahre.
Ständig treten irgendwo in der großen Sowjetunion größere oder kleinere Massen zum Beratschlagen zusammen, denn das ist Vorschrift. Die Staatsführung beschäftigt, so scheint es, ein Heer von Soziologen, die über diesen Vorgang - aus dem die Sowjetmacht immerhin ihren Namen ableitet - Erfolgsbilanzen der folgenden Art erstellen:
"Soziologische Analysen ergaben, daß zwei Drittel der Arbeiter an den Produktionsversammlungen teilnahmen. - Dabei ergreift jeder Zweite mindestens einmal im Jahr und jeder Fünfte drei- bis fünfmal im Jahr das Wort, um konkrete Vorschläge zur Lösung eines Problems zu machen."
Eine Entdeckung, die dem soziologischen Wahn, die Qualität gesellschaftlicher Einheit an der Häufigkeit von Interaktionen zu messen, alle Ehre macht. Und offenbar auch dem realen Sozialismus, der gar nichts dabei findet, dem eigenen Volk seine Popularität zu beweisen.
Die machtvolleren Beweise führen Partei und Staatsmacht nicht in ihren statistischen Ämtern, sondern auf den Straßen und Plätzen der Sowjetrepubliken. Für öffentlich aufgehängte Losungen, Kampagnen und Demonstrationen lassen sich allemal Gelegenheiten und Anlässe finden. Die schönsten Anlässe sind die periodisch wiederkehrenden Tage, an denen Hunderttausende von Sowjet-Delegierten in ihrem Amt zu bestätigen oder zu ersetzen sind. Mit einem Wahlzettel, dem niemand mehr seine Beweggründe ansieht und der nur dazu taugt, die Machthaber machen zu lassen, ist es da nicht getan - wenn auch die sozialistische Volksdemokratie auf diesen Akt nicht verzichtet. Wahlen in der UdSSR werden nicht nur von volkseigenen Sozialwissenschaftlern als "Prozeß" interpretiert, in dem das Volk zu seiner Einheit mit sich und seiner Staatsgewalt und sämtlichen zwischen unten und oben vermittelnden Instanzen findet. Sie sind der leibhaftige Widerspruch, die staatstragende Voraussetzung, daß die Partei nichts als der "revolutionäre" Staatswille der Massen, die Staatsgewalt nichts als "Ausdruck" dieses organisierten Willens und die Massen nichts als die bewußten Hersteller ihrer staatlichen Einheit seien, mit einigem Aufwand an Mobilisierung - also unter der praktischen Voraussetzung, daß sich da einiges nicht von selbst versteht - umständlich herzustellen. Die Umständlichkeit gilt dem Veranstalter dabei als Gütesiegel: Sie bürgt für Qualität.
"Im Prozeß der Wahlen entctehen gesellschaftliche Verhältnisse zwischen den Bürgern und den Staatsorganen, den Exekutivkomitees der Sowjets der verschiedenen Ebenen bei der Aufstellung der Wählerlisten; zwischen den gesellschaftlichen Organisationen und den staatlichen Organen bei der Aufstellung der Mitglieder der Wahlkommissionen; zwischen den gesellschaftlichen Organisationen und den Kommissionen der Wahlkreise bei der Registrierung der aufgestellten Kandidaten; zwischen den Bürgern und den Kommissionen der Wahlbezirke bei der Stimmabgabe u.a." (Staatsrecht der UdSSR, Lehrbuch, S. 13).
Ein reiches gesellschaftliches Leben entfaltet sich da um die Stimmzettel, mag da auch der Anschein eines ziemlichen Bürokratismus aufkommen. Zufällig ist der ein Laster, besonders der Partei, das oft die besten Absichten behindert.
Zu Wahlen, Parteitagen und sozialistischen Feiertagen ehrt das Volk seinen Staatswillen auch durch besondere Leistungsverpflichtungen. So kommt eine offiziell als bloß zusätzlicher Ausdruck des Volkswillens veranstaltete Betätigung der Massen zur Ehre, ein Hilfsmotor im Kampf für das bessere Leben im Sozialismus zu sein.
Schonungslose Kritik
Dem Verhältnis von Staatsgewalt und nützlichem Dienst der Untertanen meinen die Erbauer und Hüter des Sozialismus den bösen Stachel genommen zu haben. Nach ihrer verwirklichten Auffassung stellt der Staat nur die Mittel bereit, damit der Staatswille des Volkes sich zum materiellen Wohl beider Seiten betätigen kann. Natürlich legt der sozialistische Staat deshalb noch lange nicht seine Gewalt wirklich ganz in die Hände der Massen - leider geht das nicht ganz. Immerhin bekommt der Sowjetmensch wenigstens die ehrenvolle Aufgabe, sich so aufzuführen, als wäre das der Fall. Und das ist ganz was anderes als die Erlaubnis, sich Geschmacksurteile über den Herrschaftsstil seiner Führer bilden zu Lassen. Verlangt ist, sich auf die Höhe der anstehenden "gesellschaftlichen Aufgaben" zu bringen und unter diesem Gesichtspunkt vor allem anderen sich selbst kritisch zu kontrollieren:
"Es ist durchaus gesetzmäßig, daß gerade unter den gegenwärtigen Verhältnissen, gerade in der Etappe des entwickelten Sozialismus die Rechte und Möglichkeiten der Volkskontrolle erweitert werden, natürlich wächst auch ihre Verantwortung... Es gilt zu erreichen, daß sich jeder Mensch in der Sowjetunion als Volkskontrolleur fühlt, daß er entsprechend diesem hohen staatsbürgerlichen Posten denkt und handelt... Unsere Demokratie gewährt jedem das Recht und macht es jedem zur Pflicht, sich aktiv als ein Herr des Landes zu zeigen." (Tschernenko)
Das Recht auf Kritik am Staat bekommt der Bürger als staatlichen Auftrag zugeteilt: Er soll sich um alles kümmern, dauernd mitreden - und sich so zum politischen Herrn eben der gesellschaftlichen Verhältnisse machen, die es gibt. Dieses Bürgerrecht braucht die Sowjetmacht nicht groß zu beschränken. Was immer einen Werktätigen an herzlosen Funktionären, überheblichen Betriebsleitern und unsolidarischen Kollegen unzufrieden stimmt, zu kritisieren ist es vom Standpunkt der Volkskontrolle, also als "Vergehen" am unterstellten gemeinsamen Interesse. Kein folgenloses Mosern am Stammtisch ist gefragt, sondern die Aufdeckung von "Mißständen", auf daß diese abgestellt werden. Das ist in der Sowjetunion regelrecht als Teil des öffentlichen Lebens eingerichtet. Die Leserbriefseiten in russischen Zeitungen, in denen die Bürger Beschwerde darüber führen, welche staatlichen Dienststellen ihrer "sozialistischen Pflicht" nicht nachgekommen sind, sind nicht für den Papierkorb gedacht. Die Briefschreiber haben ein Recht auf Verständnis und Selbstkritik des beschuldigten Funktionärs. Bleibt die aus und wird von höherer Stelle entschieden, daß hier ein gravierendes Versäumnis vorliegt, dann wird praktisch nachgeholfen. Auf Wahlerfolge kann kein Funktionär sich verlassen!
Die Schuldfrage in der Politik ist in der Sowjetunion also keine bloß ideologische Veranstaltung. Ihr Maßstab heißt: Hat jemand, der die Pflicht hat, meinen Nutzen zu befördern, dabei versagt? Der Adressat ist die Partei; und in der, dem "Organisator aller Siege", hat Selbstkritik eine ebenso gewichtige Tradition wie das Selbstlob. Der sozialistische Fortschritt zum gemeinsamen Wohl findet immer als Erfolg und Versäumnis statt. Wenn Gorbatschow zweien seiner Ministerkollegen vorwirft, "sie hätten eine beneidenswerte Beharrlichkeit bei der Beschaffung von Investitionsmitteln und der gleichzeitigen Reduzierung der Planziele gezeigt", so haben die als Politiker in ihrem Amt ausgesorgt. Und umgekehrt: Wenn die Partei sich von Versagern und pflichtvergessenen Elementen säubert, dann heuchelt sie keine Ehrenbezeugungen, sondern nennt ihre Gründe beim Namen, macht die Verfehlungen ohne Beschönigung publik und inszeniert eine Verdammung ihrer falschen Fuffziger, die beweist, daß die Partei auch in Sachen Kritik die Führung innehat.
Andererseits ist das Vertrauen der Partei in die Massen genauso wenig ungetrübt. Ständig werden kleinbürgerliche Bewußtseinsüberbleibsel getadelt; und neben dem Lob der hohen Arbeitsmoral, die den größten Teil der Werktätigen auszeichnet, kommt nicht minder die Beschwerde über Werktätige zu ihrem Recht, die das sozialistische Volkseigentum und die ihnen vertrauensvoll in die Hand gelegte Arbeitsaufgabe zum Betätigungsfeld ihrer privaten Unarten machen.
"Es ist ja ein offenes Geheimnis, daß bei uns neben Mustern der bewußten Einstellung zur Arbeit und zum sozialistiichen Eigentum immer noch Zerfahrenheit und nachlässiges Wirtschaften, das Streben eines Teils der Menschen bestehen, ihr Wohlergehen auf Kosten der anderen, auf Kosten der Gesellschaft aufzubauen und sich dabei das Defizit an einzelnen Konsumgütern, die Mängel des Systems der Kontrolle über das Maß der Arbeit und das Maß der Konsumtion zunutze zu machen." (Tschernenko)
Da wird es wohl wahr sein, daß die sozialistischen Werktätigen bei ihrem Beitrag zum gesellschaftlichen Fortschritt den Mittelweg zwischen gut und böse einhalten. Der Stoff für volksaufklärende Kampagnen geht also nie aus, und neben der Moral betätigt der Staat auch sein Strafgesetzbuch. Die Strafen dienen der Reuegesinnung und fallen um so höher aus, je größer die Verantwortung war, gegen die sich einer vergangen hat. Nicht einmal da richtet sich der reale Sozialismus nach den Gepflogenheiten des demokratischen Rechtsstaats.
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Der nützliche Zusammenhang einer Staatsgewalt mit ihren in Dienst genommenen Untertanen ist allemal eine für letztere ungemütliche Angelegenheit. Die realsozialistische Ökonomie der staatlich monopolisierten "Hebel" macht ihre Werktätigen nicht zufrieden; das ist auch nicht ihr Zweck. Trennung des arbeitenden Volkes von seinen nützlichen Werken und deren Genuß ist angesagt; und das erfordert nicht mehr oder weniger, sondern eine andere Staatsgewalt als das kapitalistische Privateigentum und eine freie Lohnarbeiterklasse.
Deren Verlaufsform und Betätigungsprinzip ist das Beharren auf der unproblematischen Einheit von organisierender Staatsgewalt und organisierter Menschheit; ein Beharren, das praktisch immer vom Gegensatz beider Seiten ausgeht. Das politische Resultat sind zahllose Vermittlungsinstanzen, die die vorausgesetzte Volkseinheit realisieren und dabei beständig den Widerspruch reproduzieren, daß sie die Gegensätze zwischen Volk und Führung, die sie "verarbeiten", nicht austragen, sondern machtvoll dementieren.
Die UdSSR - Auch so 'rum geht's
Funktionsfähig ist dieser ganze Zirkus nur, weil in letzter Instanz die guten Sowjetbürger diesen Widerspruch mit sich selber austragen. Den Anspruch ihres Staates, ihnen zu nützen, halten sie, ganz im Sinne der führenden Partei, auch dann als gültigen politischen Maßstab und als prinzipielles Anliegen ihrer Politiker fest, wenn die Verwirklichung zu wünschen übrig läßt. Mit den moralischen Ansprüchen der Staatsmacht an sie haben sie gelernt umzugehen; und darin stört die Obrigkeit sie nicht. Im Gegenteil: Der Staat streut Orden aus, die stolz getragen werden; und nicht nur an seine höherrangigen Funktionäre. Die kunstvoll gemeißelten Büsten der ruhmreichen Führer der Partei sind dabei vergänglicher als die Denkmäler von hämmernden Fäusten und ährenlesenden Bäuerinnen, obwohl in der Sowjetunion auch nicht mehr mit Hammer und Sichel produziert wird.
Auch wenn es im Freien Westen niemand glauben will: Es geht tatsächlich auch so!