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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1985 erschienen.

Systematik

Perspektiven sozialdemokratischer Kriegsplanung
DAS LETZTE AN OPPOSITION: BEITRÄGE ZUR STRATEGIEDEBATTE

Der SPD-Wehrexperte Andreas von Bülow hat sich wieder einmal als kühner Vorausdenker in Fragen der nationalen Sicherheit profiliert. Mit einem Papier über die Bundeswehr zur Jahrtausendwende legt er die AIternativen der Opposition für die Front vor.

Die öffentliche kritische Begleitung der Kriegsvorbereitungen des westlichen Bündnisses war zwar auch zu jenen Zeiten nicht gerade eine Kampfansage an die Politik der NATO-Staaten, als sie in der Erörterung der Frage durch die Friedensbewegung bestand, ob wohl "die Politiker" ihrer "Verantwortung für den Frieden" gerecht würden. Mittlerweile aber ist auch auf diese Frage die Antwort gefunden, ist aus der eh' schon ziemlich unterwürfigen "Konfrontation" zwischen Friedensbewegung und Politik in Sachen Nachrüstung die höchst staatsbürgerliche Begutachtung der sicherheitpotitischen Atternativen geworden, die den politischen Parteien als Material ihrer Konkurrenz dienen. Die Frage, ob die SPD die Friedensbewegung genauso "integrieren" kann und soll wie damals die APO, ist da - positiv - entschieden, kaum daß sie recht gestellt wurde. Denn in der Auseinandersetzung um die realistischere, weitsichtigere Strategie für die Bundeswehr wissen Sozialdemokraten, was sie ihrer Rolle als Hauptoppositions- und nach Möglichkeit kommende Regierungspartei schuldig sind: Glaubwürdig die Entschlossenheit zu kompromißloser nationaler Verteidigung = zur Sicherung und Erweiterung der politischen / militärischen Handlungsfreiheit der Nation gegen den Osten und im Bündnis verkörpern; und zugleich proportional zur Aufrüstung die Hoffnung verbreiten, daß gerade der Erfolg dieser "Friedenspolitik" langfristig einiges Kriegsgerät auf deutschem Boden entbehrlich machen könne.

Zum Vordenker ihrer sicherheitspolitischen Wahlalternative für die nächste Bundestagswahl hat die Partei Andreas von Bülow gemacht.Als "Sicherheitsexperte" ausgewiesen durch seine Tätigkeit als parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium der Schmidt-Regierung, ist er mit seinem "Beitrag zur Bedrohungsanalyse" ("Alpträume West gegen Alpträume Ost", September 1984) und seinem neuesten Papier "Strategie vertrauenschaffender Sicherheitsstrukturen in Europa - Wege zur Sicherheitspartnerschaft" bei eher matten Einwänden der C-Parteien auf dem besten Weg, zum Hoffnungsträger all jener zu werden, für die die Wahlurnen im Januar 1987 der Ort der nächsten Massendemonstration der Friedensbewegung sind.

Die Sowjetunion: abgeschlagen im Rüstungswettlauf...

Schon v.Bülows letztjährige "realistische Bedrohungsanalyse" war auf fruchtbaren Boden bei denjenigen gefallen, die vom moralischen Kampf gegen die Nachrüstung zum Expertenstandpunkt kritischer Sicherheitspolitik fortgeschritten waren. Denn wo der Vorbehalt akzeptiert ist, Einwände gegen die westliche Rüstung seien unglaubwürdig, solange sie sich nicht auch gegen die östliche Rüstung richten, da ist auch bereits die sicherheitspolitische Betrachtungsweise des militärisch-strategischen Kräftevergleichs eingenommen, wie sie v.Bülow exemplarisch vorführt: Den Ost-West-Gegensatz gibt's, weil es ihn von Anfang an gegeben hat ("weil sich die beiden Supermächte nicht auf eine für West- und Osteuropa gleichermaßen tragbare Friedensordnung einigen konnten").

Rüstung beruht auf Bedrohungsvorstellungen, die wiederum darin ihren Grund haben, daß auch die andere Seite sich bedroht fühlt und deshalb rüstet ("In einem ununterbrochenen dialektischen Prozeß befinden sich beide Bündnissysteme psychologisch in einer ständigen Bereitschaft zur Nachrüstung").

An solch prächtigen Tautologien würde sich in der Tat jegliche Untersuchung der Absichten, die die betreffenden Staaten mit ihrer Rüstung verfolgen, und damit des konkreten politischen Grundes des "Ost-West-Gegensatzes " tödlich blamieren, lassen sie doch "logisch" nur folgende weitere Windungen ihres Zirkels zu:

Sind die "Bedrohungsvorstellungen" aus dem Stand der Rüstung der Gegenseite objektiv zu rechtfertigen? Oder haben sie ihren Grund in einem "paranoiden Sicherheitsbedürfnis"? Was sagt der Leistungsvergleich von Mensch und Material aus, wie steht's hüben und drüben um Kampfkraft und -moral, um Reichweite und Reserven? Eine fröhliche Fachsimpelei hebt da an, die durch die von der Friedensbewegung produzierten neuen sicherheitspolitischen Sachverständigen an Lebendigkeit nur gewonnen hat.

Der bekannte Normalfall der "Bedrohungsanalyse" ist die "Analyse", daß die Sowjetunion mehr Waffen hat, als ihren "legitimen Verteidigungserfordernissen", also vor allem ihrer Bedrohung durch die NATO entspricht. Da die NATO nämlich ein reines Verteidigungsbündnis ist, existiert ihrerseits überhaupt keine objektive Bedrohung der SU (was man denen, meint Bülow, vielleicht aber noch deutlicher sagen sollte), ist also deren Rüstung überhaupt ungerechtfertigt. Daß die Russen sich daran nicht halten, sondern einfach trotzdem rüsten, läßt auf ihre grenzenlos bösen Absichten schließen, an denen gemessen noch jede NATO-Rüstung zutiefst ungenügend ist.

Und hier setzt v,Bülows kritische "realistische Bedrohungsanalyse" ein. Er sorgt sich um "die Verinnerlichung des Unterlegenheitsgefühls" und eine daraus folgende "Vorstellung von der Zerstörung all dessen, was verteidigt werden soll - was dem gutwilligen Wehrpflichtigen... seinen Dienst sinnlos, zumindest jedoch fragwürdig erscheinen" läßt. Es bekümmert ihn, daß "viele junge Menschen gerade wegen der Perspektivlosigkeit derartiger Vorstellungen den Weg der Wehrdienstverweigerung gehen". So trägt er zusammen, wie trostlos es in Wirklichkeit um die sowjetische Militärmacht bestellt ist. Weder kann sie mit ihrem unzureichenden ökonomischen Potential einen lang dauernden Abnutzungskrieg gegen den Westen führen, noch reicht ihr verfügbares Kriegsgerät für einen erfolgreichen Blitzkrieg aus, vom Neigungswinkel der Panzerkanonen über die Ersatzteilversorgung der Kampfflugzeuge bis zw Geräuschentwicklung der U-Boote etc., von der desolaten Kampfmoral der Mannschaften denen ja keine "innere Führung" geboten wird - ganz zu schweigen.

Fazit: Die Sowjetunion hat Keine Chance, "gegen Westeuropa und damit gegen das Nordatlantische Bündnis einen begrenzten oder umfassenden, konventionellen oder nuklearen Angriff mit Aussicht auf Erfolg zu führen...

Die Wehrpflichtigen der Bundeswehr können ihre Aufgabe, die Freiheit des Landes auch in den kommenden Jahrzehnten sicher zu bewähren, mit Erfolg durchführen. Die wehleidige Botschaft der NATO, sich konventionell nicht mit Aussicht auf Erfolg verteidigen zu können, sollte zugunsten eines größeren Selbstbewußtseins aufgegeben werden. Auf dieser Grundlage sollte im Bewußtsein, daß Kriege in Europa angesichts der atomaren Vernichtungsgefahr als Mittel der Politik ausgedient haben, versucht werden, Abrüstungserfolge zu erzielen."

...reif für "vertrauenschaffende Strukturen"

Daß eine militärische Überlegenheit die beste "Grundlage" ist, die andere Seite zu "Abrüstungserfolgen" zu bewegen, ist dem Sicherheitspolitiker v.Bülow sowieso ein vertrauter Gedanke. Daß man dieses Prinzip der NATO-Rüstungsdiplomatie mit den auf dem Boden der Friedensbewegung erblühten Idealismen einer "rein defensiven Verteidigung" und dem handfesten Nationalismus einer Verteidigung der BRD bzw. der europäischen NATO-Staaten aus eigener Kraft schöpferisch zur Perspektive einer neuen sozialdemokratischen Entspannungspolitik verbinden kann, ist durchaus eine originäre Leistung v.Bülows. Und das geht so: Da die NATO in Europa konventionell überlegen und deshalb auf den Ersteinsatz von Atomwaffen nicht angewiesen ist, kann sie die nuklearen Gefechtsfeld- und Mittelstreckenraketen als Verhandlungsmasse benutzen, um die Sowjetunion zum Abbau der ihren zu veranlassen. Da die neue Generation sensorgesteuerter und lasergelenkter "intelligenter" Panzerabwehrwaffen die Panzer tendenziell ineffektiv und überflüssig macht, ist eine

"panzerabwehrstarke Verteidigung mit infanteristisch ausgebildeten Milizen auch militärisch wirksamer".

Die NATO-Kriegführungsstrategien "Air-Land Battle" und "Follow on Forces Attack" (FOFA) sollten zur Disposition gestellt werden als ein geeignetes Verhandlungsinstrument, um zu erreichen,

"daß die sowjetische Doktrin der Verteidigung nicht im eigenen Land, sondern auf dem Gelände des Gegners aufgegeben wird. So sehr wir die psychologische Situation der Sowjetunion nach zwei im eigenen Land ausgefochtenen Kriegen mit Millionen Toten verstehen, verläßliches Vertrauen kann aus einer derartigen nur an den eigenen Sicherheitsinteressen orientierten Strategie nicht gewonnen werden."

Mit der "rein defensiven Milizstruktur" eröffnet sich auch die Chance, die Personalprobleme der Bundeswehr in den 90er Jahren in einen rüstungsdiplomatischen Trumpf zu verwandeln. Statt 15-18 Monate Wehrdienst mit Gammelbetrieb und Fehlausbildung könnte das "große Reservistenpotential" sehr viel wirksamer "sinnvoll genutzt" werden durch verkürzte Wehrdienstzeit von 7-8 Monaten und sehr viel häufigere Wehrübungen der Reservisten bei ihrer ein für allemal feststehenden Einheit, "so daß auch ein heute weitgehend fehlendes Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen kann" und eine Mobilisierung innerhalb maximal 48 Stunden möglich ist.

Da eine so effektivierte, "strukturell nicht angriffsfähige" Miliz-Bundeswehr mit geringerer Präsenztruppenstärke auskäme, um die östliche Militärmacht "konventionell" zu neutralisieren, wäre sie ein schönes Verhandlungsangebot an die Sowjetunion, ihre Truppen sukzessive bis "spätestens nach der Jahrtausendwende in ihre Heimat zurückzuziehen", in welchem Fall "dann auch die amerikanischen Truppen in der Bundesrepublik bis auf einen symbolischen Rest insbesondere in West-Berlin abgezogen werden" könnten. Bis dann nämlich sollten sich dank der "vertrauenschaffenden Sicherheitsstrukturen" "die Europäer zumindest im konventionellen Bereich allein verteidigen können". Warum und gegen wen? Für v. Bülow keine Frage, wenn nach dem Rückzug der SU-Truppen auf ihr Territorium die Hauptzuständigkeit für das militärische "Vertrauenschaffen" in Europa an die von ihm gefeierte deutsch-französische Waffenbrüderschaft übergeht.

Ein schöpferischer Dienst am militärpolitischen Konsens der Nation

Daß v. Bülows neues Papier per Indiskretion veröffentlicht wurde und in der SPD-Sicherheitskommission umstritten sein soll, hat seiner beabsichtigten Wirkung keinen Abbruch getan. Im Gegenteil. Und daß es in der Pärteienkonkurrenz zu keinem Skandal taugte, hat spätestens die dazu anberaumte "aktuelle Stunde" im Bundestag klargemacht. Auf der Grundlage eines eher noch solider gewordenen Konsens in Sachen bundesdeutscher Sicherheitspolitik ist nach dem Austausch einiger plakativer Schimpfwörter eine höchst konstruktive Debatte in Gang gekommen über die Mittel und Wege, wie die Probleme der Bundeswehrplanung für die 90er Jahre zu lösen sind und wie sich die BRD trotz SDI usw. bündnis- und ostpolitisch wieder mehr Gewicht in Sachen NATO-Strategie und Rüstungsdiplomatie verschaffen kann. Die SPD hat dabei mit Bülows gelungener Kombination von rüstungspolitischem Realismus und den Hoffnungsperspektiven eines alternativen Uerteidigungsidealismus Punkte gemacht:

- Bei den C-Wählern als die Partei, die "vor den Problemen der Bundeswehr nicht den Kopf in den Sand steckt" und "Denkverbote ausspricht", sondern "realistische Lösungskonzepte" anzubieten hat. Franz Alt hat für seine "Report"-Sendung vom 24.9. zwecks Anfeuerung der entsprechenden nationalen Debatte diese Adressaten sogleich leibhaftig aufspüren lassen: Sympathisanten der Bülowschen Thesen im Offizierskorps, an Führungsakademien und Hochschulen der Bundeswehr ebenso wie an der CDU-Parteibasis.

- Bei dem grünen/friedensbewegten Wählerpotential als die Partei, in der alternative Verteidigungskonzeptionen und eine "Überwindung der starren Fronten zwischen den Blöcken in Europa" gedacht werden dürfen, in der man sich sogar offiziell geduldet der Hoffnung hingeben darf, sie hätten eine Realisierungschance - wenn nur die Russen mitmachen. Die Partei der "Grünen" hat das Signal sogleich verstanden; hier heißt es aufspringen auf den fahrenden Zug: "Ein Schritt in die richtige Richtung", "im Einklang mit grüner Friedensprogrammatik ". Solange die Perspektiven für das Jahr 2000 stimmen, steht die Sicherheitspolitik für die "Grünen" einer Unterstützung der SPD nach den Wahlen 1987 gewiß nicht im Wege.

- Schließlich bei der ganzen Nation als die Partei, die bundesdeutscher Außenpolitik wieder Handlungsfreiheit zu verschaffen gedenkt: "Die SPD steht zum westlichen Bündnis und zur Bundeswehr. Sie nimmt sich ebenso wie der amerikanische Präsident die Freiheit, Vorschläge zur Veränderung und Verbesserung der Strategie des westlichen Bündnisses vorzulegen. Und sie beabsichtigt, diese Vorschläge in Abstimmung mit ihren Verbündeten, wo es notwendig ist auch in der Auseinandersetzung mit ihnen, durchzusetzen." Wahnsinn!

Falls allerdings niemand im westlichen Bündnis etwas wissen will von Bülows "Bedrohungsanalysen" und "vertrauenschaffender Sicherheitsstruktur", weil die NATO anders mit ihrem Feind zu verfahren gedenkt, und deshalb mit von ihr produzierten "politischen Lagen" rechnet, wie es im sicherheitspolitischen Jargon so schön heißt, "bei denen eine relativ starke Konfliktmotivation und eine entsprechend hohe Risikobereitschaft der sowjetischen Führung anzunehmen wäre", sprich: die SU sich vor die Alternative Krieg oder Kapitulation gestellt sähe, und falls sich die Sowjetunion lieb er hierauf einstellen mag als auf v. Bülow, - dann werden seine "Vorschläge" wenigstens der SPD Wahlstimmen gebracht haben. Und das war ja wohl ihr Hauptzweck.