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Wolfgang Abendroth:
ANTIFASCHIST, ARBEITERBEWEGTER, ADOPTIVVATER DES GRUNDGESETZES - EIN REICHES LEBEN
Wolfgang Abendroth, "ein marxistischer Professor" ("taz") und "Vorbild der Linken" ("Süddeutsche Zeitung"), ein "Streiter für das Ende von Herrschaft" ("Frankfurter Rundschau") oder kurz und bündig: "eine Persönlichkeit" ("Frankfurter Allgemeine Zeitung"), ist tot. Glaubt man den Nekrologen auf den Begründer der "Marburger Schule", so ist dies ein herber Verlust zwar vor allem, aber längst nicht nur für "die Linke in der Bundesrepublik".
Nun sind zwar Nekrologe Feierstunden der Heuchelei. Aber verwunderlich bleibt es immerhin, wieso bundesdeutsche Feuilletonschreiber, die sonst Marxisten als verstockte Fossilien und/oder Fälle für den Verfassungsschutz besprechen, im Falle Wolfgang Abendroths den Verlust eines Vorbilds beklagen und sich zumindest der "Bewunderung" für diese "Einzelpersönlichkeit" (FAZ) nicht entziehen können.
Die Honneurs, die dieser Leiche gemacht werden, streichen allesamt das eine heraus: Hier ging das sinnvoll gelebte Leben eines moralisch unanfechtbaren Charakters zu Ende. So Prof. Habermas: "Wenn es so etwas wie die Einheit von Werk und Lebensgeschichte geben könnte - niemand ist ihr näher gekommen als Wolfgang Abendroth. Dem verdankt er seine unvergleichliche Autorität." - endlich einer, der glaubwürdig die Prinzipien öffentlicher Moral verkörpert hat! Und das mit "erstaunlich durchgehaltener Identität, die nicht den wohlfeilen Lockungen gesellschaftlicher Anerkennung durch Anpassung erlag" (Prof. Perels) - Abendroth, ein Denkmal persönlicher Unbestechlichkeit, der das höhere Ideal jedes gewöhnlichen Opportunisten aus der Elite der Nation wahrgemacht hat!
So sehr auch solcherart Komplimente vor allem über die Denkungsart ihrer Urheber Aufschluß geben - Anhaltspunkte an "Werk und Lebensgeschichte" des Belobigten haben sie genug. Denn das steht außer Zweifel: Das Hauptwerk Abendroths, aus dem seine übrigen Werke erst ihren Geist und seine Gedanken ihre schulebildende Wirkung bezogen haben, ist sein Leben. Er hat es unter dem Titel
"Ein Leben in der Arbeiterbewegung"
selbst geschildert und dabei den großten Wert darauf gelegt, daß ihn, obwohl er persönlich eine andere Laufbahn einschlug, die Tugenden des Proletariats auf seinem gesamten Lebensweg geradezu unausweichlich begleitet haben. Die "eindringliche Weisung des Großvaters" (der seinen Enkel schon früh mit auf kommunistische Versammlungen nahm): "Du darfst nicht von der Bewegung, sondern du mußt für die Bewegung leben", hat Abendroth immerdar als eine geradezu pastorale Botschaft ausgelegt: als die moralische Hauptmaxime wirklichen Menschseins nämlich; als eine einzige Absage an Materialismus und als Aufruf zu Selbstlosigkeit und Opfermut, worin die gelungene charakterstarke Persönlichkeit aufgeht, aufrechten Ganges allen Fährnissen trotzt und die Tugend als der Tugend Lohn begreift. Zur Bebilderung dieser Weisheit kamen Abendroth die "kleinen Verhältnisse" seiner sämtlichen Vorfahren, die diese zu bewundernswertem "Durchhaltevermögen" anspornten, ebenso recht wie die praktische Gefährdung, die die jeweilige nationale Obrigkeit früher für die Sozialdemokraten und später für die Kommunisten bereithielt. Und sein eigenes Leben gestaltete und interpretierte er ebenso sinnvoll: als "Jurastudent in der Roten Hilfe"; mit jungen Sozialdemokraten "Kampflieder der Arbeiterbewegung" abgesungen, und zwar "miteinander, nicht gegeneinander"; von den Nazis in die Uniform der Strafdivision 999 gesteckt und "im besetzten Land auf den griechischen Inseln zunächst in die Kneipen gegangen" und allen Sprachproblemen zum Trotz "sehr schnell Kontakt" gefunden. Kurz: Abendroths Metier bestand in der Verherrlichung der proletarischen Moral vom Durch- und Zusammenhalten in 'schwerer Zeit' zu einem exemplarischen Menschenbild, das er selber nach Kräften in seiner Person zu verkörpern trachtete.
Die Kunde vom faschistischen Sündenfall
Als Prophet seiner gelebten Weltanschauung hatte Abendroth natürlich auch einen Inbegriff des Unmenschlichen zu bieten, der die Verwirklichung seines Bildes von Menschenwürde als Kampfauftrag für alle Kräfte des Guten erst so richtig wuchtig machte: Der Kern seiner Faschismusanalyse besagt, dieser sei die "irrationale Steigerung einer irrationalen Politik", die zur "Katastrophe" führen mußte - "der Staat ging unter", und zwar infolge eines "freventlich herbeigeführten Krieges", herbeigeführt von "Abenteurern", die den Staat und "das nackte Leben des ganzen Uolkes" aufs Spiel gesetzt haben.
Seinem Gehalt nach ist diese Idee zwar nichts anderes als die populäre deutsche demokratische, also Nachkriegsmeinung, daß der Krieg die Kritik des Faschismus und die Niederlage die Kritik des Krieges darstellt. Für einen deutschen demokratischen Staatsidealisten von hoher moralischer Bildung freilich ist damit entschieden mehr gewonnen. Seine Gleichung, Faschismus = das verwerfliche Gegenteil einer rationalen, frevelsfreien, ums nackte Leben des Volkes besorgten und aufs Gedeihen des Staates bedachten Politik, gibt lässig eine hochmoralische Ableitung der Demokratie her: Der Faschismus als Feind der Demokratie beglaubigt dann die fraglose Güte der Demokratie. Diese Einfalt hat Methode: Die gesammelten "un-"s beim Faschismus schlagen bei der demokratischen Herrschaftsform als lauter Komplimente zu Buche, ohne daß man noch einen Gedanken auf demokratieeigene Herrschaftszwecke verwenden müßte.
Die anstelle eines solchen Gedankens von der Person Wolfgang Abendroth 40 Jahre lang gepflogene Sorge ums Gelingen der idealen Herrschaft namens Demokratie in Deutschland bewies glaubwürdig: Immer noch bzw. schon wieder ist die Demokratie durch ihr faschistisches Gegenteil gefährdet. Beweiszweck: Die BRD verdient die Anteilnahme gerade derjenigen, die sich an der BRD-Wirklichkeit nach innen und nach außen stören. Beweismittel: Der Charaktcr Abcndroth, unwidersprechlich ausgewiesen durch persönliche Opfer im 3. Reich. Beweisverfahren: Sein Eintreten für die BRD-Verfassung plus ihre stabile Verankerung im "realen Zentrum des Denkens und Empfindens (!) in der gesamten Gesellschaft" = ... Sozialismus!
Das Gesetzbuch des Propheten
Abendroth zählt nicht zu den Vätern des Grundgesetzes. Dafür ist er der Vater des eigentlichen, ursprünglichen, wahren usw. Grundgesetzes, das zwar mit ersterem auf den Buchstaben genau identisch ist, in dem aber dennoch keineswegs die Prinzipien und Verfahrensweisen einer kapitalistischen Demokratie kodifiziert sind, sondern die gesetzlich garantierte Möglichkeit von Sozialismus versprochen wird; sozusagen die ziemlich tollkühne Vorstellung von der Revolution, die von oben erlaubt - und deswegen überflüssig ist! Der Abendroth-Sozialismus geht also darin auf, als das immanente Ideal der bundesdeutschen Rechtsordnung gelten zu dürfen (in puncto materielle Interessen lehrte der Marburger-Schule-Begründer, daß es BRD-Bewohner gut getroffen haben: der "Gesamtgesellschaft" wird "relativer Wohlstand gewährt"). Sozialismus besteht in der Freiheit, den bundesdeutschen Alltag mit seinen Fabriken, Kaufhäusern und Universitäten als Verfassungswirklichkeit aufzufassen: als - notwendigerweise eher mangelhaftes - Bemühen, die von Abendroth dem Grundgesetz zugeschriebenen Ideale praktisch wahr werden zu lassen. Darin war er radikaler als seine bloß demokratischen Kollegen, die dieselbe Betrachtungsweise auf eine etwas andere Auslegung der Verfassungsnormen gründen und die bei der entsprechenden Überprüfung der BRD-Realität mehr dem Grundsatz folgen, daß nichts so heiß gegessen wie gekocht wird. Abendroth behielt es sich immer vor, die Republik einer betont kritischen Prozedur zu unterziehen: Vom Standpunkt eines eingebildeten Verwaltungs- und Verfassungsgerichtshofes aus wird sie gewogen, am Ideal einer von ihren Untertanen ohne jeden Vorbehalt geliebten Demokratie gemessen - und für immer noch zu leicht befunden. So gelingt das gar nicht so schwierige Kunststück, zugleich ganz kritisch und ganz dafür zu sein; eine Haltung, die sich immer wieder enttäuschen läßt, ohne jemals enttäuscht werden zu können. Wolfgang Abendroth kämpfte bis zuletzt, sein persönliches Exemplar der Verfassung mit Goldschnitt unterm Arm, nach dem Motto 'Füße weg vom Grundgesetz' um dessen erhabene Schönheit. Das machte ihn teils beliebt, teils verdächtig und erwarb ihm jedenfalls von beiden Seiten persönliche Hochachtung - als Saubermann und Gewissenswurm.
Der Mentor der Jugend und seine Sehnsucht nach politischer Heimat
Kein Wunder, daß bei der Vergangenheit und der moralischen Statur dieser Persönlicheit, die noch dazu und trotzdem in Amt und Würden stand, sich zweierlei Effekt einstellte: einmal eine gewisse Gefolgschaft, zum anderen die Bemühung, den moralischen Heiligenschein des Professors Abendroth zu benutzen - solange es für opportun befunden wurde.
Abendroth selbst, wiewohl seine Liebe zum reinen Grundgesetz einerseits keine Parteien kennt, sah andererseits spätestens seit den Tagen des Strafbataillons 999 seine politische Heimat in der SPD - insofern konsequent, als er seine von der real existierenden BRD leidlich abgehobene Überzeugung von der Tendenz der Welt zum Grundgesetz-Sozialismus zu gerne in einer realen weltlichen Macht verankert gesehen hätte. Das Objekt seiner Sehnsucht, die SPD eines Ollenhauer und Wehner, verschrieb sich freilich einer anderen Tendenz, verzichtete im Zuge ihrer Annäherung an die längst durchgesetzte BRD-Staatsdoktrin ihres erfolgreicheren Konkurrenten Adenauer dankend auf die moralischen Dienste eines Abendroth und schloß diesen anno 61 aus ihren Reihen aus.
Der Anlaß - Abendroths Parteinahme für den damals von der SPD ausgeschlossenen SDS - hat Symbolwert. Denn trotz seiner unerwiderten Neigung zur Volkspartei mit dem Etikett "demokratischer Sozialismus" brauchte er nicht zu verzweifeln; nicht zuletzt sein Image als Rufer in der Wüste verschaffte ihm einen gewissen Einfluß auf den aktiv-idealistischen Teil der deutschen akademischen Jugend der 60er und 70er Jahre. Nicht unrecht hat freilich der "Spiegel"-Nachrufer mit seiner Bemerkung: "Aber Barrikaden irritierten seinen Ordnungssinn. Seine Barrikaden waren der Hörsaal und das Gewerkschaftsseminar." Auch hier entwickelte sich aber eine fruchtbare Rollenverteilung: Abendroth genoß, ohne sich praktisch einzumischen, den Part des geistigen Mentors noch jeder bundesdeutschen "Protestbewegung" (es sei denn, jemand war so nihilistisch, dem Grundgesetz nichts abgewinnen zu können - da wurde der Alte aber bitter!); und so manche alte oder neue Studentenbewegung benutzte den guten Ruf des Professors als grundguter Kritiker, um die eigene öffentliche Anerkennung als konstruktive Opposition voranzubringen.
In diesem Sinne kann man sowohl dem "Spiegel" zustimmen, der aus Abendroths "konservativem Habitus" seine "innere Überzeugung" erschließt, daß "der Protest und die Würde Geschwister sind", als auch dem Prof. Habermas für seine Bemerkung, der Meister habe verdienstvollerweise die "Möglichkeit, in der BRD links zu sein", bewiesen. Komisch bloß, was in der "politischen Kultur" der BRD alles als Kompliment gilt.