Info
Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1985 erschienen.
SCHAUPLATZ GENF - DER GIPFEL DER UNVERSCHÄMTHEIT
Der Erfolg des Genfer Gipfeltreffens zwischen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow konnte gar nicht ausbleiben. Die Hauptbeteiligten haben nämlich genau das, was sie getan haben, als den Erfolg definiert, den ihr Treffen haben sollte.
Das perfekte Gipfeltreffen: Ein Triumpf des Verhandlungsgestus, wo es nichts mehr zU Verhandeln gibt
Reagan und Gorbatschow haben sich getroffen; sie haben im Lichte dieses freudigen Ereignisses die Jahre zuvor als eine Zeit unterbliebener Gipfeltreffen erklärt - also war ihr Treffen "ein neuer Anfang". Sie haben Herzlichkeit und "menschlichen Umgang" vorgeführt und einträchtig versichert, das gegenseitige Kennenlernen "in entspannter Atmosphäre" wäre ein wertvoller "erster Schritt". Sie haben einander ihre politische Meinung gesagt und gemeinsam die Meinung vertreten, dieses Faktum wäre bedeutsamer als die nicht verschwiegenen politischen Gegensätze zwischen ihnen. Alle anderen Kriterien, die an ihre Zusammenkunft hätten angelegt werden können, haben sie vor, während und nach ihrem Beisammensein als abwegig zurückgewiesen. Ihr Treffen bestand geradezu in dem methodischen Purzelbaum, sich selbst als seinen eigenen Erfolg auszugeben.
Diese Verrücktheit ist ein folgerichtiger Höhepunkt des Verhandlungswesens, das die USA und die Sowjetunion miteinander eingerichtet haben. Dessen erster und wichtigster Gegenstand sind die strategischen Waffen, die sie gegeneinander in Stellung gebracht haben bzw. aufbauen wollen. Und das ist, so sehr sich ein moderner Mensch an die Normalität einer solchen Diplomatie hat gewöhnen können, paradox. Denn diese Verhandlungen überprüfen ja nicht die Feindschaft, die beiden Seiten die Entwicklung und Beschaffung immer perfekterer Gewaltmittel gegen den jeweils anderen gebietet. Sie relativieren kein Interesse und widerrufen keinen Rechtstitel, die ihren Gegensati begründen. Als Feinde begutachten die "Supermächte" gemeinsam die Mittel, deren alleiniger Zweck darin besteht, dem anderen den eigenen, ihm feindlichen politischen Willen aufzuzwingen - und das ist nun mal nicht ganz dasselbe wie eine gelungene Erpressung mit einer Vereinbarung am Ende. Verhandlungen und Verträge legen die engagierten Parteien darauf fest, bestimmte eigene Interessen zu deren eigenen relativen Vorteil nach Maßgabe des fremden Interesses zu verfolgen. Im Rüsten betätigt sich dagegen der politische Wille, mit dem Schacher ein Ende machen, den Feind überwältigen und vernichten, gegen dessen Interessen das eigene Recht absolut setzen zu können. Es geht um eine Machtvollkomnnenheit, die Freiheit im Umspringen mit dem Gegner schafft. Daß dieser Wille sich darauf festlegen lassen könnte, nur in Abstimmung und Einigkeit mit dem Feind zu Werk zu gehen, ist absurd.
Diese Absurdität ist auch in den Verhandlungen und Verträgen zur Rüstungs"kontrolle" und"-begrenzung" zwischen den USA und der Sowjetunion nicht Wirklichkeit geworden. Beide Seiten haben weder auf Waffen verzichtet, also abgerüstet, noch auf ihre Freiheit, an neuen, wirksameren Waffen zu arbeiten. Ihre Abkommen über Höchstzahlen von Waffen bestimmter Qualität waren so etwas wie Zusagen, die beständig gesteigerte Bedrohung durch das feindliche Militär unter den vereinbarten Bedingungen und bis auf weiteres nicht als eine nicht hinnehmbare Gefährdung der eigenen Sicherheit, also als Kriegsgrund zu betrachten - Waffenstillstandsvereinbarungen gewissermaßen. Der dazu laut verkündete Verzicht auf jedes "Streben nach Überlegenheit" war nie mehr als die Ideologie zu dem erzielten Einvernehmen darüber, daß durch die Vermehrung der zum Vertragsgegenstand gemachten Waffen absehbarerweise nicht die Überlegenheit zu erreichen sei, die für den Feind nicht mehr hinnehmbar wäre.
Wie energisch sich die NATO darauf geworfen hat, ihr Gewaltpotential um so massiver durch Waffen neuer Qualität zu verbessern, beweist die Erfindung und Vorbereitung noch nicht dagewesener "Szenarios" und "Schlachtfelder" für den strategischen Atomkrieg. Mit der Aufstellung eurostrategischer Atomwaffen hat sie das Einvernehmen über das hinnehmbare Maß militärischer Bedrohung relativiert; mit dem Projekt einer Abwehrwaffe gegen Raketen, die den Atomkrieg als Weltraumschlacht nach den taktischen Grundsätzen von Offensive und Defensive durchführbar machen soll, kündigt sie es auf. Die USA definieren ihre strategische Lage als nicht mehr sicher; die Ideologie vom "Fenster der Verwundbarkeit" und die moralische Kritik an der herkömmlichen Ideologie, derzufolge die beiderseitige Fähigkeit zur Vernichtung des Gegners den Stillstand der Waffen garantieren soll, erklären die sowjetische Bedrohung - ohne da die sich qualitativ geändert hätte - für nicht mehr hinnehmbar. Indem sie dieser Lagebeurteilung folgt - die sozialliberale Bundesregierung hat aus eigenen Stücken "Zonen ungleicher Sicherheit" im Bündnis entdeckt und sich für wehrlos erklärt, solange sie keine Mittelstreckenraketen im eigenen Lande hätte! -, erteilt die NATO sich den Auftrag, durch eine qualitativ höherwertige Kriegsdrohung gegen die Sowjetunion den Rechten der Freien Welt und aller ihrer Staaten gleiche und genügende Sicherheit zu beschaffen.
Diese "Defensive" ist mit der Diplomatie der "Rüstungskontrolle" erst einmal unverträglich. Die jetzt geplante Waffengattung verspricht ja den strategischen Durchbruch, der mit der Fortschreibung der vorhandenen Raketenprogramme allein absehbarerweise nicht zu erreichen war, weshalb diese zum Gegenstand eines Begrenzungsabkommens und damit zum - einstweiligen - "Stillstand" verurteilt werden konnten. SDI einer gemeinsamen Begutachtung zu unterwerfen, es womöglich von sowjetischer Erlaubnis abhängig zu machen, das würde tatsächlich den absurden Tatbestand des Verzichts auf Freiheit gegen den Feind erfüllen - oder bedeuten, daß der Westen seine Feindschaftspflichten gegen das "sozialistische Lager" nicht mehr ernst nähme. Folgerichtig beenden die neuen Schritte westlicher Sicherheitspolitik wieder einmal den Schein substanzieller Gemeinsamkeiten mit dem Feind und identischer Interessen, wie ihn die Waffenstillstands-Diplomatie der "Rüstungskontroll"-Konferenzen erzeugt hat.
Nun hat die Gipfel-Diplomatie der Reagan-Regierung und der neuen Sowjetführung diesen Schein einvernehmlich wiederbelebt; logischerweise jedoch als ein Theater, das ganz explizit und zugegebenermaßen getrennt von dem wirklichen politischen Verhältnis zwischen USA und Sowjetunion existiert, in einer Sphäre der puren Formalität. Wenn beide Seiten beteuern, jenseits aller fortbestehenden substanziellen Gegensätze sei die Tatsache des Gipfelgesprächs ein Erfolg, so bringt schon eine etwas andere Betonung die Wahrheit an den Tag: Bei dem Gegensatz, den die SDI-Politik der NATO auf die Tagesordnung gesetzt hat, kann es in der Welt des diplomatischen Schacherns und einvernehmlichen Erpressens zu gar keinen substanzielleren "Erfolgen" kommen als eben dazu, daß überhaupt geredet wird.
Das Verhandeln reduziert sich hier - einerseits - auf seinen eigenen Gestus. Die Versicherung, "die Welt" sei "sicherer geworden", hat nichts für sich, als daß sie von denen stammt, die tatsächlich Sicherheit und Unsicherheit definieren - für sich und für den Rest der Welt gleich mit. Inwiefern sollte sie denn sicherer geworden sein? Ehrlicherweise müßte die Antwort auf diese Frage lauten: "Insofern, als wir uns nicht geeinigt haben" - deswegen unterbleiben Frage wie Antwort. Für die Lüge von der größeren Sicherheit bürgt statt dessen die - entsprechend gewaltig inszenierte - Angeberei ihrer Urheber: Wenn "die zwei mächtigsten Männer der Welt" jenseits aller sachlichen Differenzen so sachlich, gelassen und heiter miteinander plaudern, dann kann das doch gar nicht ohne Folgen sein. Bis hin zu der lächerlichen Abschlußzeremonie wurde diese Linie durchgehalten: "Wir, die zwei Mächtigsten..." Keine öffentliche Stimme hat dazu mal das Bedenken angemeldet, wie verwegen eine Welt organisiert ist, in der solche Figuren über Lebensbedingungen und Überleben sämtlicher "kleinen Leute" entscheiden. Deswegen blieb statt dessen der umgekehrte Schluß stehen: Das Menschenmaterial darf ein bißchen aufatmen!
Diese großzügige Erlaubnis ist - andererseits - aus einem einzigen sehr harten Grund mehr als ein bloßer theatralischer Schwindel: wegen der Alternative. Was hätten sie denn sonst treiben sollen, Reagan und Gorbatschow, als einander und gemeinsam eine optimistische Miene vorzeigen?! Was sollte man denn befürchtet haben, so daß im Vergleich dazu das Reden an sich schon hoffnungsvoll stimmen kann? Das gehört ebenfalls zu den nicht gestellten Fragen, weil auch da die Antwort im Grunde auf der Hand liegt und jedem bekannt ist: Hätten der Präsident und der Generalsekretär sich nicht zu einem substanzlosen Getue entschlossen, so wäre die Kriegserklärung des Westens an die Sowjetmacht offensichtlich und perfekt. Oder andersherum, so wie's wirklich ist: Die bislang gültigen Waffenstillstandsbedingungen zwischen den Atomkriegsgegnern sind durch die Neudefinition westlicher Sicherheitsansprüche aufgekündigt; dennoch wollen beide Seiten, auch das noch aus gegensätzlichen Gründen, (noch) nicht die letzten Konsequenzen. Für diese "Einigkeit" stand das Genfer Gipfeltheater. E s ist die aufgeschobene Kriegserklärung.
Zynisch ist es oder dumm zu meinen, das spräche für dieses interessante Treffen. Durch Aufschübe dieser Art kommen wir der Sache zielstrebig näher - von einer Zurücknahme, freiwillig oder erzwungen, war ja gerade gar nicht die Rede!
Gorbatschows Optimismus: Statt westlichem EInlenken ein moralisches Recht darauf
In den Künsten der Angeberei mit der Macht hat der sowjetische Generalsekretär sich bemerkenswert hervorgetan. Die westlichen Journalisten jedenfalls, durch den demokratischen Personenkult freiheitlicher Wahlkämpfe zu Experten in dieser Disziplin geworden, fanden das zu loben (Kotzbrocken Hans-Ulrich von der "Süddeutschen": "Sex-Appeal der Macht..."). Nicht gelobt haben sie den besonderen weltpolitischen Zweck und Inhalt des sowjetischen Anteils an der gemeinsamen Propagandashow; sei es, weil sie ihn nicht, sei es, weil sie ihn nur allzu gut bemerkt haben.
Mit ihrem Einspruch gegen das SDI-Programm der USA und die zugrundeliegende Neubestimmung der NATO-Sicherheitsinteressen ist die Sowjetführung eindeutig abgeblitzt. Der Beschönigung dieses Ergebnisses, das schon vorab feststand, galten Gorbatschows Bemühungen. In seiner abschließenden Pressestunde hat er ganz ungerührt den Einspruch wiederholt, mit dem er in das Gipfeltreffen hineingegangen war - ohne ein Wort der Kritik daran, ohne Beschwerde darüber, erst recht ohne Schlußfolgerung daraus, daß er damit überhaupt nicht hatte landen können. Statt dessen hat er zwei Lesarten des sowjetischen Interesses an einer Rückkehr zur alten Diplomatie der "Rüstungskontrolle" vorgetragen, und das war ein seltsamer Ersatz für das von Reagan zurückgewiesene "Njet".
Die eine Variante bestand in einer ausführlichen Warnung vor einem "neuen Rüstungswettlauf" und war auf die weltweit beliebte Ideologie berechnet, die die tödliche Feindschaft der kapitalistischen Demokratien gegen das "sozialistische Lager" in die Abstraktion "Kriegsgefahr" umdeutet. Kein Wort über die Gegnerschaft, die da der Sowjetunion von der NATO angetragen wird. Statt dessen eine Ansammlung von revisionistischen Phrasen über die Forderungen des historischen Augenblicks, die Hoffnungen der Völker, die Verantwortung der Führungsmächte usw. usf., dazu, neuerdings, Stilblüten aus dem Repertoire friedensbewegter Rüstungskritik wie die Befürchtung eines durch unbeabsichtigte Satelliten-Kollisionen automatisch ausgelösten, politisch gar nicht gewollten Atomkriegs. Sollte Gorbatschow diese Ergebnisse realsozialistischer Politikwissenschaft tatsächlich dem US-Präsidenten vorgetragen haben, wie er behauptet hat, dann hat der todsicher nur Bahnhof verstanden und wäre mit Recht eingenickt. Im Ernst sollte das Schreckbild vom mordsgefährlichen Wettrüsten im All aber weniger die Erfinder von SDI beeindrucken als die Weltöffentlichkeit: Die sollte sich von der moralischen Lauterkeit und Legitimität der sowjetischen Position überzeugen können.
Einem etwas anderen Zweck diente die Umformulierung des wirkungslos gebliebenen Einspruchs gegen SDI in einen wohlbegründeten Anspruch der Sowjetmacht auf Gleichrangigkeit mit den USA. Die amerikanische Regierung sollte damit auf das fundamentale sowjetische Interesse hingewiesen werden, das sie mit ihrer Aufrüstungspolitik verletzt. Die Gegendrohung, die Sowjetunion werde sich von ihrer Ebenbürtigkeit nichts abhandeln lassen, war unmißverständlich - und dabei eigentümlich friedfertig. Die Ankündigung, man werde schon - wie stets - eine passende Antwort finden, war ein Appell an ein amerikanisches Eigeninteresse, von einem Streben nach Überlegenheit Abstand zu nehmen, weil es ja doch zum Scheitern verurteilt sei. Dieses Eigeninteresse ist zwar eine Fiktion; eben deswegen sieht die sowjetische Regierung ihre Aufgabe aber genau darin, die andere Seite darauf aufmerksam zu machen - so als wäre deren erklärte Feindschaft gegen die rivalisierende Weltmacht des Sozialismus unmöglich politisch gewollt. Wenn die USA auch nicht von SDI ablassen, und das ist für Gorbatschow und Co allemal ein "noch nicht", so sollen sie erst einmal wenigstens das politische Prinzip anerkennen, das sie damit "eigentlich" verletzen. Auf der Ebene des Grundsatzes der Gleichberechtigung will die Sowjetregierung mit ihrem Einspruch gegen die amerikanische Rüstungspolitik das Gehör finden, das ihr für den Einspruch selbst verweigert wird. "Jenseits aller schwerwiegenden Differenzen" soll der Anspruch auf gleichen Rang und gleiches Recht für die Sowjetmacht erhoben und von Reagan zustimmend oder wenigstens ohne Widerspruch zur Kenntnis genommen werden: Das wäre doch ein "erster Schritt" weg von der rüstungstechnischen Kriegserklärung durch die NATO, die so doch nicht gemeint sein könne; hin zu einer Anerkennung der Sowjetunion, was doch eigentlich - Gorbatschow wurde nicht müde, dieses Dogma zu wiederholen der "natürliche" Weltzustand wäre. Für dieses Stück Naturschutz hat Gorbatschow jede realsozialistische Scham fallengelassen und eine "konstruktive Einstellung" zu Reagan gesucht, über dessen Kompromißbereitschaft noch keine Sowjetregierung sich ernstlich Illusionen machen konnte.
Von sowjetischer Seite war das Gipfeltheater also ein Kampf um Wohlwollen an zwei Fronten: um den Schein eines amerikanischen Eingeständnisses, SDI wäre nicht als neues und stärkstes Instrument westlicher Unduldsamkeit gegen die Sowjetunion gedacht und daher diskutabel; und um den Schein weltöffentlicher Zustimmung zur Moralität des sowjetichen Standpunkts. Dafür haben die Russen nach Kräften mitinszeniert an einer Show, die die verlogene Übersetzung der alles Weltgeschehen dominierenden Feindschaft zwischen den kapitalistischen Nationen und ihnen in eine gemeinsame Verantwortung der jeweils maßgeblichen "Supermächte" für das blödeste Auge anschaulich wahrnehmbar machen sollte - eine "Komplizenschaft der Weltmächte", wie sie ein paar französische Zeitungen den Gipfelveranstaltern vorgeworfen haben, ist eben tatsächlich das Ideal realsozialistischer Weltpolitik. Im Gegensatz übrigens zur amerikanischen Sicht der Dinge: dort ist man stolz darauf, bei allem Friedensidealismus von der Feindschaft der "Systeme" keine Abstriche zu machen. Vom US-Präsidenten ins Vertrauen gezogen zu werden, ihm gewachsen zu sein, das Image der Gleichrangigkeit zu pflegen das war deswegen schon die Sache, um die es den Gipfelteilnehmern aus Moskau ging: Das war ihre Gegenoffensive gegen die Degradierung zur Zweitrangigkeit, als welche sie die amerikanische Rüstungsoffensive diplomatisch zurechtinterpretiert haben. Ebenso war es weit mehr als eine propagandistische Zutat, wenn Gorbatschow mit seiner lockeren Persönlichkeit, seinen flüssigen Phrasen und seiner realsozialistisch emanzipierten Alten antrat, um noch die dümmsten Feindbilder der demokratischen Öffentlichkeit zu entkräften. Die Imagewerbung für die sowjetische Sache war Gorbatschows Alternative zu Chruschtschows historischen Wutausbrüchen. Der hatte damals nämlich dasselbe Problem, nur umgekehrt: Er hatte durch Raketenrüstung die strategische Zweitrangigkeit der Sowjetunion überwunden und mußte dem amerikanischen Feind und der demokratischen Öffentlichkeit erst einbleuen, daß damit eine neue Prämisse für alle Weltpolitik gesetzt war.
Reagans Sieg: Ein "neuer Anfang" gegen den unverbesserlichen Rivalen
Die sowjetischen Anliegen wurden westlicherseits zur Kenntnis genommen - und gar nicht im Sinne des Antragstellers beschieden. Noch das wenigste: die Doppeldeutigkeit des publizistischen Erfolgs, der Gorbatschow zuteil wurde. Verdient hat der Generalsekretär ihn sich keineswegs durch die Argumente, mit denen er seine Sache populär machen wollte. Ganz im Gegenteil: Was ihm honoriert wurde, das war die Entdeckung, daß er mit seiner Verhandlungsbereitschaft und seinen nachträglichen Optimismusbekundungen sämtliche Bedingungen desavouiert hat, an die die sowjetische Seite zuvor öffentlich jede ernsthafte Gesprächschance geknüpft hatte: Stop der Raketenrüstung in Europa, wenigstens ein Moratorium, und Vertragstreue in Sachen "Raketenabwehrsysteme", die SALT I verbietet. Gespendet wird der so verdiente Beifall der Person, und zwar ausdrücklich den genuin "westlichen" Vorzügen, mit denen eine geübte demokratische Hofberichterstattung ihn ausstaffiert: locker, souverän, konzentriert, mit Charme und einem ebensolchen Weib begabt - das genaue Gegenteil zum eigenen Feindbild vom finsteren Politkommissar. Die Punkte, die ihm zuerkannt werden, gelten also nur der Person - genau umgekehrt wie bei der Würdigung des US-Präsidenten: Dessen Bewunderung schließt das System, für das er steht, mit ein; jede Kritik an seiner Zerfahrenheit, Befangenheit u.a. schließt das System, dem er so unvollkommen dient, aus, bringt vielmehr ein Ideal davon als Maßstab in Anschlag. Und schließlich steht noch sehr dahin, inwieweit und wie lange man dem Gorbatschow auch nur als "Mensch" die zuerkannten Pluspunkte gönnt.
Von vornherein viel eindeutiger: der Bescheid auf das andere, viel wichtigere Anliegen. Dem Anspruch auf amerikanischen Respekt vor der Gleichrangigkeit der Sowjetmacht haben die "standing ovations", die die amerikanischen Kongreßangehörigen geschlossener als je ein Reichsparteitag ihrem heimgekehrten Führer dargebracht haben, die Antwort erteilt. Sie bezeugen nämlich den Triumph der Politik, die die Reagan-Regierung der Sowjetunion gegenüber eingeschlagen hat. Und deren entscheidende Maxime heißt: Alles aus eigener Kraft, also mit überlegenen Gewaltmitteln unter Kontrolle halten. Sicherheit soll nur gewährleistet sein, wenn die Macht der USA unverwundbar ist - ein ziemlich happiger Anspruch, aus dem Reagans SDI erwachsen ist. "Terrorismus" liegt überall vor, wo Waffen, seien es subversive oder regierungsoffizielle, ohne amerikanischen Auftrag bedient werden, also gegen den absoluten Zuständigkeitsanspruch der US-Regierung verstoßen; die Bekämpfung solchen "Unwesens" duldet keinerlei Rücksichtnahme, weder auf Menschen noch auf souveräne Regierungen, auch nicht auf befreundete. Über die Sowjetunion, nämlich deren unheilbare Unvereinbarkeit mit der richtigen Weltordnung, darf man sich "keine Illusionen" machen, vor allem nicht die, mit ihr wäre anders zurechtzukommen als vom Standpunkt unzweifelhafter Überlegenheit aus. In jeder Hinsicht das haargenaue Gegenprogramm zu dem sowjetischen Ansinnen, von den USA die Anerkennung eines Rechts auf Autonomie, Gleichrangigkeit und weltpolitisches Mitmischen zu erzwingen.
Von dieser Politik hat Reagan weder vor noch während des Genfer Gipfels auch nur die geringsten Abstriche gemacht; hinterher hat er sie vor dem Kongreß gleich nochmals klargestellt. Einen Schein von Versöhnlichkeit hat er ausgerechnet über das kindische Ideal seines SDI-Programms eingebracht: mit der Verheißung, die Sowjetunion an einem - ganz selbstverständlich unterstellten - US-Monopol auf Raketenabwehr teilhaben zu lassen, auf daß alle Offensivwaffen wirkungslos und überflüssig würden und das Zeitalter des ewigen Friedens anbräche. Glaubwürdig ist das Versprechen, den Gegner in die zu erfindenden Defensiv-Künste einzuweihen, keine Sekunde lang; es blamiert sich schon an der Politik der drastisch verschärften Ausfuhrverbote für Produkte mit militärisch vielleicht nutzbarer Technologie in "Ostblock"-Länder, einer Politik, die nicht zufällig gleichzeitig mit den Entwicklungsarbeiten zu SDI eingeleitet worden ist. Sehr viel dümmer als die uneigennützigen sowjetischen Warnungen vor einem "Rüstungswettlauf", der niemand geringeren als "die Menschheit" bedroht, ist besagtes Versprechen aber auch nicht; auf alle Fälle haben pluralistisch geschulte Ideologie-Künstler kein Problem damit, beide Schwindeleien als gleichberechtigte Sichtweisen einander gegenüberzustellen, womit die Rüstungspolitik der USA als Gegenstand eines unentscheidbaren Meinungsstreits ganz methodisch gerechtfertigt ist. Dabei ist in Wirklichkeit sogar das edle Ideal selbst, gerade in all seiner heuchlerischen Großherzigkeit, sehr verräterisch. Es verklärt sehr platt den Standpunkt des Waffenmonopols, das die USA durch die sowjetische Atomrüstung verloren haben und das Reagan durch SDI auf neuer Stufe (wieder-)herstellen will. Es ist das Ideal einer "Pax americana", innerhalb derer für die Sowjetunion als "Supermacht" kein Platz mehr ist, nur noch ein Plätzchen als Juniorpartner und Helfershelfer von US-Gnaden. Deshalb verträgt sich dieses Wunschbild vom "ewigen Frieden" in einem demokratischen Kopf auch bestens mit dem was die westlichen Absichten betrifft - etwas realitätsnäheren "Traum" von der Chance, die Sowjetunion "totzurüsten", sie also durch den Zwang, auf SDI eine militärtechnische Antwort zu finden, ökonomisch zu ruinieren.
Ähnlich beschaffen ist Reagans zweites "Angebot", sich zusammenzutun und die"Krisenherde der Weltpolitik" gemeinsam unter Kontrolle zu bringen. Die Störungen des Weltfriedens, die da einträchtig ausgeräumt werden sollen, heißen Afghanistan, Kambodscha, Angola, Nicaragua: genau die paar Fälle, in denen die Sowjetunion um ihren Bestand kämpfende Regierungen unterstützt, während die USA mit Söldnertruppen, Militärhilfe und Wirtschaftskrieg, also mit Terror und Elend reaktionären Umsturz betreiben. Bei diesen paar wackligen Außenposten sowjetischer Weltpolitik handelt es sich um Störungen, weil die US-Regierung sich an ihnen stört. Das "Angebot", sie auszuräumen, hat die Zumutung zum Inhalt, die Sowjetunion solle sich zurückziehen, ihre gefährdeten Verbündeten fallenlassen und gewissermaßen zweite Kontrollmacht über ihren eigenen Rückzug aus der Staatenwelt spielen.
Die pure Tatsache des Gipfeltreffens hat nun den einzigen Einwand widerlegt, der im Westen gegen diese Politik der Zurückdrängung sowjetischer Macht in Umlauf gewesen ist: das Bedenken, die Regierung in Moskau könnte sie sich womöglich nicht gefallen lassen. Die zwei Tage in Genf wurden daher auch von amerikanischer Seite zu einem Festival des ernsthaftesten - Beweis: 30 Stunden lang sogar geheimgehaltenen! - Optimismus ausgestaltet. Dafür hat die US-Delegation sogar einmal auf allzu lautes "Sacharow"-Geschrei verzichtet - nicht, weil die USA die Frechheit aufgegeben hätten, mit der sie sich für einen "american way of life" mit kapitalistisch effektivierter Ausbeutung und pluralistisch perfektionierter Verblödung mitten im Feindesland zuständig erklären, sondern weil das heuchlerische Herumreiten auf den Menschenrechten sogleich für häßliche Töne sorgt. Die durften zurücktreten, weil gerade das makellose Gelingen des Genfer Gipfeltheaters den triumphalen Beweis erbringen sollte, daß Rücksichtslosigkeit die einzig erfolgreiche Methode wäre, mit den Russen umzugehen. SDI, heißt es ja, hätte "die Sowjets an den Verhandlungstisch zurückgebracht" - und daraus sollte nicht etwa folgen, daß SDI nunmehr also auch zur Verhandlungsmasse zwischen den Atomkriegsgegnern werden müsse, sondern genau das Gegenteil. Selbstzufrieden verbuchte die NATO einen Zwang für die Russen zu Verhandlungen ganz ohne westliches Verhandlungsangebot. Diese schöne Position hat Reagan nach maßgeblicher demokratischer Lesart durch sein harmonisches Treffen mit seinem Gegenspieler durchgesetzt.
Dieses freche Auftrumpfen kommt der Wahrheit schon sehr nahe; man braucht die Erfolgsmeldung nur etwas anders zu betonen. Verhandlungen, in die der Westen irgend etwas einbringt, sind vom Standpunkt der angestrebten militärischen Überlegenheit aus überflüssig; die Rücksichtnahme, die der Gegner sich erzwungen hat, ist und bleibt gekündigt. Was aus dieser Kündigung folgt, hat bis auf weiteres der Gegner zu verantworten. Der antwortet wunschgemäß mit der Zurücknahme seiner Verhandlungsbedingungen bis zur Verhandlungsbereitschaft ohne Bedingungen und Aussichten; für diese Antwort leistet der Westen mit seinem Mittun beim Gipfel Hilfestellung. Und er verbucht sie reichlich unverschämt als seinen ersten politischen Aufrüstungserfolg und als "neuen Anfang".
Das ist die Grundlage, auf der Reagan sich mit Gorbatschow von neuem über die alten Phrasen von wegen Unmöglichkeit des Atomkriegs, weil nicht gewinnbar, und Aufrechterhaltung des Friedens als höchstes Gebot einig geworden ist. Wer meint, mit diesen paar Sätzen in der offiziellen Abschlußerklärung nähmen die USA etwas zurück von der westlichen Kriegserklärung, der braucht sich nur zu fragen, was Reagan und Gorbatschow denn sonst gemeinsam hätten festhalten sollen - etwa die Aufforderung zum Loslegen?! Die gemeinschaftliche Absage an "jeglichen Krieg zwischen UdSSR und USA" deckt eben zwei durchaus gegensätzliche Positionen ab: Der Westen führt seinen Angriff auf Sicherheit und Selbstbehauptung der sowjetischen Macht und dementiert zugleich die so praktizierte Kampfansage - der Osten hält das Dementi fest, honoriert es mit der Anerkennung Reagans als Gesprächspartner und bereitet sich im übrigen erklärtermaßen darauf vor, wieder einmal beim Rüsten mitzuhalten.
Faßt man alles zusammen, so war das Treffen in Genf ein Gipfel der Unversöhnlichkeit und einer einzigen Gemeinsamkeit: im Willen, das einstweilen nicht so zu sehen. Eine schöne "Entwarnung"!