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Neues vom Rechtsstaat
AUS DEMOKRATISCHEN GERICHTSSÄLEN
Keine Staatsgewalt hat's einfach. Kaum hat sie etwas angeordnet oder verboten, schon muß sie aufpassen wie der Teufel, daß sich die Leute auch dran halten.
Der Rechtsstaat hat's da erst recht nicht leicht. Zwar hat er seinen Namen von dem Riesenapparat der Rechtspflege, der das Aufpassen erledigt, sogar mehrstufig und selbstkontrolliert. Der Apparat allein bringt's aber noch gar nicht. Der Teufel steckt im Einzelfall: Wie subsumiert man ein Tun und Lassen richtig unter die richtige Regel? Hier sind keine bloßen, sondern mitdenkende Apparatschiks gefragt: Rechtspfleger, die im Buchstaben des Gesetzes, selbst den ältesten Paragraphen, die aktuellen Anliegen der Staatsgewalt herausspüren; Funktionäre, die den vorliegenen Fall nach seiner exemplarischen Bedeutung, und zwar für das gerade wichtigste Staatsanliegen, einzuschätzen und einzuordnen verstehen.
Die Bundesrepublik verfügt über solche aufgeweckten Mitarbeiter: Justizbeamte, die konstruktiv mitwirken bei der Definition und Verwirklichung der jeweils neuesten politischen Essentials. Das zeigt etwa folgendes Beispiel:
"Während des Streiks in der Druckindustrie kam es im Mai 1984 vor dem Druckzentrum Stuttgart zu einem schweren Zwischenfall: Ein vom Verlag als Streikbrecher eingesetzter Fahrer eines Auslieferungsfahrzeuges fuhr absichtlich mit seinem Zeitungswagen am Werkstor in eine Gruppe von Streikposten, überfuhr einen davon und verletzte ihn lebensgefährlich. Die von der IG Druck und Papier gestellte Strafanzeige führte zur Anklageerhebung der Staatsanwaltschaft gegen den Fahrer. Durch Beschluß des Schöffengerichts Stuttgart vom 12.08.85 wurde diese Anklage nicht zur Hauptverhandlung zugelassen. Die Begründung der Vorsitzenden Richterin Böhme:
'...Das Vorgehen des Angeschuldigten' (des Zeitungsfahrers) 'ist zunächst durch Notwehr gerechtfertigt... Das Verhalten der Streikposten, Streikenden und Sympathisanten stellt ein Vergehen der Nötigung nach Paragr. 240 StGB dar.' (Dadurch) '...ist der Angeschuldigte in seinen Rechten auf Fortbewegungsfreiheit, Berufsausübung etc. angegriffen worden. Seine Maßnahmen gegen diese Angriffe waren durch Notwehr gerechtfertigt (Paragr 32 StGB). ... Das Zufahren auf die Menschenkette, um diese zum Weichen zu bringen, war deshalb für den Angeschuldigten zur Abwendung des auf ihn gerichteten Angriffs erforderlich... Ein milderes Mittel zur Durchsetzung seiner Einfahrt in das Betriebsgelände stand ihm nicht zur Verfügung.'" (Zitiert aus: "Politische Berichte" des BWK vom 14.10.)
Diese Dame hat erkannt und nach bestem Vermögen rechtsgestalterisch verwirklicht, was die Führungscrew der Nation mit der Debatte über das Streikrecht und das Recht von Streikenden und erst recht Nicht-Streikenden auf einen Lebensunterhalt bezweckt. Den "Konflikt", der sich vor Gericht allemal als einer zwischen zwei Rechtsgütern darstellt - Recht auf die Ableistung von Diensten für die Firma gegen Recht auf "körperliche Unversehrtheit" -, hat sie dementsprechend zurechtgerückt: Militante Streikbrecher wegen eines kaputten Menschen strafrechtlich zur Rechenschaft zu ziehen, liegt nicht im Staatsinteresse, das als Recht zu pflegen ist. Mag sein, daß diese Rechtsauffassung sich nicht auf Anhieb bundesweit durchsetzt - Bestand hat auf alle Fälle das Prinzip ihrer Entscheidung, daß nämlich das Strafrecht kein Mittel des Opfers ist, sondern eine Waffe des öffentlichen Interesses. Und wer wollte bestreiten, daß das Streikbrechen allemal mehr im öffentlichen Interesse liegt als das Streiken?
Oder nehmen wir einen anderen, gleichfalls noch frischen Fall:
"Im ersten Prozeß um die Unruhen beim Haidhauser Straßenfest vom 12. Oktober gegen einen Erwachsenen wurde gestern der 26jährige Manuel von B. wegen Landfriedensbruchs zur Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu je 10 Mark verurteilt. Der Staatsanwalt Helmut Meier-Staude hatte sieben Monate Freiheitsstrafe mit Bewährung beantragt, weil sich der Angeklagte durch das Werfen einer Flasche gegen ein Polizeifahrzeug nach seiner Auffassung des besonders schweren Landfriedensbruchs schuldig gemacht hatte. Dem vermochte Richter Heiner Gans nicht zu folgen.
Manuel von B. war einer der fünf von 155 damals festgenommenen Personen, die seither in Untersuchungshaft saßen." (Süddeutsche Zeitung, 13.11.)
Hier haben verschiedene Organe der Rechtspflege mustergültig zusammengewirkt. Die Münchener Polizei hat die politisch längst festliegende Definition von Demonstranten mit einem regierungsamtlich nicht geschätzten Anliegen als bestenfalls geduldete, im Grunde staatsfeindliche Störenfriede endlich ernstgenommen und eine geworfene Bierflasche demgemäß gewürdigt - nicht wie bei einer Wirtshausschlägerei vom kleinsten Kaliber, sondern wie ein Signal zum Bürgerkrieg. Den hat sie selber ein bißchen geführt und damit bewiesen, wie richtig sie mit ihrer Würdigung der Sachlage lag. In diesem Sinne hat sie überdies "Rädelsführer" erkannt, nämlich in Gewahrsam genommen und an den Staatsanwalt überstellt. Der hat mit seiner Anklage anerkannt, daß die Polizei mit ihrem Vorgehen ein öffentliches Interesse vollstreckt hat. Das Gericht wiederum hat dem Staatsanwalt Recht gegeben - und dabei noch nicht einmal das Abwägen zugunsten des Angeklagten vergessen: 30 Tage Untersuchungshaft und 1200.- DM Strafe schienen ihm ausreichend, um dem politisch gewollten "Berufsrisiko" von Demonstranten die Qualität eines Rechtsguts zu verleihen. Eine andere rechtspflegerische Maßnahme hat dieselbe Polizei bei Gelegenheit des öffentlichen Staatsjubels für die Wehrmacht ergriffen:
"25 Festnahmen bei Zapfenstreich
Von den rund 8000 Zuschauern, die am Odeonsplatz den Großen Zapfenstreich verfolgten, wurden vor Beginn der Veranstaltung 15 Personen, die als potentielle Störer bekannt sind, vorsorglich in Unterbindungsgewahrsam genommen, darunter sechs Frauen. Alle kamen nach Ende des Festaktes wieder auf freien Fuß."
"Demonstration ohne Zwischenfall
Ohne Störungen verlief die vom 'Aktionskomitee 30 Jahre Bundeswehr - kein Grund zum Feiern' veranstaltete Protestdemonstration gestern abend. Einiger vermummter Teilnehmer wegen leitete die Polizei den Demonstrationszug jedoch an der Türkenstraße um, ein Vermummter unter den rund 100 Zugteilnehmern wurde zur erkennungsdienstlichen Behandlung festgenommen." (SZ, 13.11.)
Eine mitdenkende Polizei muß unterscheiden können, wo das Staatsinteresse eine Riesen-"Störung" will, um Protest zu kriminalisieren, und wo der Wunsch nach einer ungetrübten Feierstunde Vorrang hat, also keinerlei Störung stattfinden darf. Das Personal besitzt sie sowieso für beides und die rechtlichen Handhaben auch für letzteres: Vorbeugehaft - plus "Belehrung über den Grund des Gewahrsams und die Rechtsmittel", durch welche sich demokratische Polizisten von Kollegen in einer Diktatur unterscheiden.
Solche erlaubten Instrumente der Rechtspflege fehlen noch an anderer Stelle, obwohl die damit zu bewältigenden Kollisionen zwischen Staatsinteresse und zivilem Eigensinn mittlerweile durchaus absehbar sind. Auch da ist das Justizpersonal der Republik auf Draht und besteht darauf, daß der Rechtsstaat rechtzeitig die Formen wahrt und so seine Durchsetzung sicherstellt:
"Richterbund dringt auf Schaffung von Wehrstrafgerichten
Der Deutsche Richterbund hat sich dafür ausgesprochen, ein Gesetz über die Wehrstrafgerichtsbarkeit vor einem Spannungs- oder Verteidigungsfall zu beschließen. In einer Presseerklärung weist der Richterbund darauf hin, daß Wehrstrafgerichte nach dem Grundgesetz zulässig sind. Sie könnten aber nur durch Bundesgesetz errichtet werden. Der Richterbund meint, es könne damit gerechnet werden, daß im Verteidigungsfall von der Ermächtigung des Grundgesetzes Gebrauch gemacht und ein solches Gesetz 'in aller Eile durch den Notgesetzgeber erlassen' würde. Es bestünde dann die Gefahr, daß rechtsstaatlichen Gesichtspunkten nicht mehr ausreichend Rechnung getragen würde. Zu den Mindestanforderungen der Wehrstrafgerichtsbarkeit gehören nach Auffassung des Richterbundes die Unabhängigkeit der Richter, die Wahrung des rechtlichen Gehörs, die Öffentlichkeit der Verhandlung, eine ordnungsgemäße Verteidigung die Möglichkeit von Berufung und Revision." (Süddeutsche Zeitung, 26./27.10.)
Das Recht muß jeder Lebenslage gewachsen sein; also helfen seine Anwälte alles vorbereiten, was die nationale Politik an "Lebenslagen" verlangt und schafft; alles andere müßten sie für ein rechtsstaatliches Versäumnis halten. Für die Ausbildung von Richtern, die auch noch im Krieg das Recht pflegen und jedem Deserteur seine gerechte Exekution widerfahren lassen, empfiehlt sich Ministerpräsident a.D. Dr. h.c. Dr. jur. marin. Hans Filbinger.