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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.
DER GANZ NORMALE WAHNSINN
Ende einer Busfahrt
"Israelische Soldaten stürmen entführten Linien-Bus.
Vier Terroristen und ein weiblicher Soldat getötet. Israel ist von einem neuen Terroranschlag heimgesucht worden. Dieses Mal entführten vier junge Palästinenser einen Linienbus. Israelische Soldaten stürmten den entführten Autobus, töteten die vier Terroristen. Sieben Passagiere wurden verletzt, ein weiblicher Soldat erlag den Verletzungen. Die Palästinenser waren unbewaffnet. Sie führten einen Koffer mit sich, in dem sich kein Sprengstoff befand. Die Israelis, beraten durch Verteidigungsminister Arens und Generalstabschef Levy, gingen nur zum Schein auf die Verhandlungen mit den Terroristen, die freies Geleit nach Ägypten und die Freilassung von 500 in Israel gefangengehaltenen Arabern erreichen wollten, ein, getreu dem Grundsatz, terroristischen Erpressungsversuchen nicht nachzugeben. Zwei Tage später sprengten israelische Soldaten die Häuser von Angehörigen der Terroristen in Gaza und machten sie, dem Erdboden gleich."
Der Vorfall führte in Israel zu einer öffentlichen Kontroverse, an der die hiesige Presse engagiert-sachkundig Anteil nahm. Ist die Er- bzw. Anschießung von 12 Menschen durch israelische Soldaten eine Schlappe für die Regierung, die ihren Libanon-Feldzug mit der endgültigen Ausschaltung palästinensischen Widerstands begründet hat? Hat die Truppe Fehler gemacht, weil ihre Kugeln auch die eigenen Landsleute getroffen haben? Wo führt Israel seinen Vergeltungsschlag? Gibt es im Libanon überhaupt noch Flüchtlingslager, die man wirkungsvoll bombardieren kann? Wieso gibt es überhaupt noch Palästinenser, die Israel gefährlich werden können? Oder gibt es gerade deswegen wieder Kommandounternehmen, weil man im Libanon die PLO militärisch vernichtend geschlagen hat? Welche Auswirkungen hat der Zwischenfall auf die Entwicklung im Libanon? Wie also wird Israel mit seinen Gegnern fertig? Indem es sie fertigmacht! Wie es macht, darüber wird noch diskutiert. Denn das ist halt der Unterschied zwischen "Terrorismus" und einer demokratischen Staatsgewalt.
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Geschichtsstrafrecht
"Verharmlosung von Völkermord strafbar.
Schutz auch für deutsche Opfer fremder Willkürherrschaft. Im neuen Paragr. 131a des StGB soll es nun heißen: Wer Schriften (oder Rundfunksendungen) verbreitet, die eine unter der Herrschaft des Nationalsozialibmus begangene oder unter einer anderen Gewalt- und Willkürherrschaft gegen Deutsche in Paragr. 220a (Völkermord) genannte Handlung billige oder leugne, werde bestraft. Dabei ist die Strafandrohung differenziert. Die Verharmlosung der NS-Verbrechen soll alle Opfer, gleichgültig welcher Nationalität, schützen, die der Verbrechen anderer Willkürherrschaften in ihrer Sanktion nur deutsche Opfer. Demnach könnte z.B. ein Nachkomme polnischer Opfer des Stalinismus vor einem deutschen Gericht in dieser Frage nicht klagen, wohl aber ein Angehöriger eines Opfers eines deutschen KZ. Demgegenüber könnte ein deutsches Opfer des Stalinismus jeden vor einem deutschen Gericht verklagen, der ein Verbrechen des Stalinismus an ihm oder seinen Vorfahren leugnete."
Demgegenüber könnte auch ein Türke vor einem deutschen Gericht nur ohne jede Aussicht auf Erfolg gegen deutsche Behörden klagen, die ihm das Asyl unter Bestreitung der an ihm in der Türkei begangenen Handlungen verweigern, allein schon deshalb, weil er kein Deutscher ist, selbst wenn es ihm gelänge, die Bundesregierung einer Verharmlosung der türkischen Militärdiktatur zu überführen. Andersherum muß jeder mit einer Klage gegen sich rechnen, der von Verbrechen des Nazi-Regimes schreibt (oder darüber Rundfunksendungen macht) und dabei die "Verbrechen des Stalinismus an Deutschen" verschweigt, wenn er in dem Verdacht steht, durch "Schweigen zur Verharmlosung" beizutragen. Im jetzt vorliegenden Koalitionskompromiß wird aus dem alten SPD-Vorschlag, die "Auschwitz-Lüge" strafrechtlich zu bekämpfen, ein mit den Mitteln der Historik vorgetragener Angriff auf die "unbewältigte Vergangenheit" des Feindes und damit in der Tat jener "Teil Vergangenheitsbewältigung" im deutschen Interesse, als den ihn Justizminister Engelhard anpreist. Auf die Verbreitung eines "falschen Bildes unserer jüngsten Geschichte" stehen demnächst "Freiheitsstrafen bis zu einem Jahr." Eigenartigerweise ist dies einer der seltenen Anlässe im Jahre 1984, bei denen niemand an den gleichnamigen Roman eines gewissen Mr. Orwell erinnert.
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Rotes Telefon ohne Sichtkontakt
"Sehen will man sich nicht.
New York. 23. April. Das "rote Telefon" zwischen Washington und Moskau wird modernisiert. Von einer Video-Verbindung habe man Abstand genommen, damit nicht im Krisenfall der Ausdruck eines Gesichts oder der Tonfall einer Stimme zu einer Fehlinterpretation oder einem falschen Eindruck verleite."
Wegen eines Flackerns im Auge Ronald Reagans schießt der Kreml SS 20 ab? Oder will Tschernenko unbedingt vermeiden, daß sein angegriffener Gesundheitszustand, vermittelt über fahle Blässe seines Gesichts auf dem Bildschirm, das Weiße Haus zu Fehlschlüssen auf die Entscheidungsfähigkeit des Gegners verleitet? In den Kommandozentralen - beruhigend zu wissen - denkt man anscheinend auch noch ans Kleinste, wenn man vorsorglich mit dem Äußersten rechnet. Wo man nichts dem "subjektiven Faktor" überläßt, sondern die objektiven Voraussetzungen für den Sieg aufstellt, braucht man das Gesicht des Gegners nicht zu sehen.
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Folter lohnt sich nicht
"Anti-Folter-Kampagne von amnesty international.
Die meisten Folteropfer besäßen gar keine Geheiminformationen. Folternde Sicherheitsbeamte begründen ihre Methoden gegenüber Vorgesetzten nicht selten mit deren Wirksamkeit. 'Doch sind sie nicht die geeigneten Sachverständigen, um dies zu beurteilen', lautet das Gegenargument. Denn je mehr sie auf die Folter zurückgreifen, desto weniger können sie die Effektivität anderer Verhörmethoden beurteilen. ai hebt jedoch genauso das 'moralische Argument' hervor: 'Nichts leugnet unser gemeinsames Menschsein mehr, als wenn einem wehrlosen Gefangenen absichtlich ungerechtfertigter und durch nichts zu rechtfertigender Schmerz zugefügt wird', heißt es im Folter-80-Report."
So also macht sich der Übergang 84 vom Gegner der Folter zum "geeigneten Sachverständigen" für Tortura: vom Standpunkt der "Effektivität von Verhörmethoden" aus. ai denkt nicht daran, Staaten das Recht zu bestreiten, mit ihren Gegnern gewaltsam umzuspringen. Allein im Namen der Moral, die man mit den Adressaten jedes Bittbriefes teilt, wird ersucht, von ungerechtfertigter Schmerzzufügung gegen wehrlose Gefangene Abstand zu nehmen. Haargenau zu dieser Moral gehört auch das Effektivitätskriterium: Sachgerecht wird den Folterknechten vorgehalten, sie erwiesen in der Regel ihren Auftraggebern unzweckmäßige Dienste. Womöglich gar umsonst gefoltert? Die Folterregime vom gar nicht weit von uns weg liegenden Spanien bis hin zu Pinochets Chile wissen es allerdings aus Erfahrung besser: Der Terror gegen die "wehrlosen Gefangenen" tut seine Wirkung jenseits des Informationsinteresses der Polizei. Er soll den Gedanken, sich zu wehren, gar nicht erst aufkommen lassen. So ist auch das 'moralische Argument' nichts als eine tiefe Verbeugung der Moral genau vor den Herrschaftsinstanzen, an deren Wirken Anstoß genommen wird: Schlimm ist die Menschenschinderei, weil sich die Moralisten von ai keine legitimen Gesichtspunkte vorstellen können, sie zu rechtfertigen. Nicht umsonst pocht der Verein auf Amnestie, also nachträgliche Milde für die Opfer des jeweils herrschenden Rechts.
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Papst segnet Soldaten
"Der Papst lobt die Soldaten.
Rom. Papst Johannes Paul II. hält Wehrdienst und Christentum für vereinbar. In einer Predigt vor 16000 uniformierten Soldaten aus 24 Ländern sagte Johannes Paul, sie könnten sich als Diener von Sicherheit und Freiheit betrachten. 'Kriegsverhinderung ist Dienst für den Frieden.'"
Beten und Töten - dies die vatikanische Lebensregel für die Mitglieder des Heiligen Ordens von der bewaffneten Macht. Praktizierte Nachfolge Christi: Friede sei mit Euch, oder es knallt! Soldaten aus dem Ostblock fallen allerdings nicht unters römische Imprimatur für den Overkill, sie waren auch erst gar nicht zur Waffenweihe auf dem Petersplatz eingeladen. Für die Freiheit der richtigen Seite muß einer schon im Auftrag seiner Obrigkeit fechten, damit unter seinem Waffenrock ein leibhaftiger Friedensengel dahermarschiert.
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Reprivatisierung im Strafvollzug
"Neuer Geschäftszweig: Gewinnbringende Zuchthäuser.
Die überfüllung der Gefängnisse in den USA hat zu der Idee geführt, private Strafvollzugsanstalten zu errichten. Die Kalifornier bleiben ihrem Ruf gerecht, originelle Auswege aus einer scheinbar hoffnungslosen Lage zu finden. Sie untersuchen jetzt, ob die überfüllung der Gefängnisse durch Errichtung von Privatanstalten erleichtert werden kann. Für die Privatwirtschaft könnte das ein profitables Geschäft werden. Die amerikanische Strafvollzugs-AG sieht jedenfalls eine rosige Zukunft vor sich. Das erste Profitgefängnis mit bewaffneten Wärtern soll noch in diesem Jahr in New Mexico entstehen. 'Wir werden Qualitätsarbeit leisten mit weitaus rationellerer Betriebsführung als die schwerfällige staatliche Burokratie', sagt Firmenpräsident Tom Beatley. 'Wir stehen am Anfang eines völlig neuen Industriezweiges.'"
Das schafft auf jeden Fall Arbeitsplätze. Und die werden dringend gebraucht in den USA, wo das Reagan-Programm der Konzentration aller Staatsmittel auf die nationale Aufgabe des "Make America Great Again" einerseits die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt, andererseits den "sozialen Bodensatz" endgültig als unbrauchbar ausrangierter Lumpenproletarier verdreifacht hat. Die aus der Not geborene Gelegenheits- und Bagatellkriminalität hat den staatlichen Strafvollzug vor "unlösbare Aufgaben" gestellt, derer in Kalifornien selbst ein "10-Milliarden-Programm für den Bau 12 neuer Zuchthäuser" nicht mehr Herr wird. Was liegt also näher, als die Konsequenzen des schrankenlosen Geschäfts selbst wieder als Geschäft einzurichten? Das "Kriminalitätsproblem" ist damit nicht nur vom Tisch, sondern Material für den Boom in der Zuchthausindustrie. Kein Wunder, daß "Firmenpräsident Tom Beatley" ein Gegner der Todesstrafe ist. Es sei denn, er darf sie demnächst als Dienstleistung seines Untemehmens "weitaus rationeller" in Auftrag nehmen.
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"Gestörtes Gleichgewicht" im 49-m-Band
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Endlich Selbstwählferndienst für Bangladesh.
"Bundespostminister Schwarz-Schilling in Bangladesh. Gestern unterzeichnete der Bundespostminister in Dhaka ein Abkommen über die Einrichtung des Selbstwählferndienstes in Bangladesh. Das Projekt wird von westdeutschen Firmen ausgeführt, und Bonn sagte hierzu eine Finanzhilfe von DM 11 Mio. zu."
Endlich können sich die Ostbengalen über den jeweiligen Stand der Hungersnot in den einzelnen Provinzen ohne die zeitraubende Vennittlung über den "Operator" direkt unterhalten. Es steht zu erwarten, daß die Ankunft des Ganges-Hochwassers im Mündungsdelta, die Jahr für Jahr ein paar Tausend Bengalis das Leben kostet, demnächst 5 Minuten früher den betroffenen Regionen gemeldet wird. Auch Herm Schwarz-Schillings Problem, ob sein "Gastgeber in Dhaka, Verkehrs- und Fernmeldeminister Admiral Mahrub Ali Khan ab 15.4. (zu Beginn des Staatsbesuchs aus Bonn) noch Minister sein wird" (Spiegel), wird sich beim nächsten Mal mittels Siemens-Schaltung blitzschnell lösen lassen. Endlich Tastentelefone - das freut den Bengali, Siemens hat einen Auftrag, was "bei uns" Arbeitsplätze sichert, Herr Schwarz-Schilling hat eine schöne Reise gemacht (mit Anschluß nach Peking, wo er laut "Spiegel" einen Telefonapparat 'Micky Mouse' als Werbeexemplar daließ); und die Bundesrepublik hat auch "bei angespannter Finanzlage" unter Beweis gestellt, daß ihr das Elend in der "Dritten Welt" nicht gleichgültig ist.
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Du sollst nicht töten - Tiere!
"Schweine im Geschützdonner.
Rund 69000 Tiere, berichtete Verteidigungs-Staatssekretär Peter-Kurt Würzbach, hat die Bundeswehr zwischen 1979 und 1983 zu Versuchen 'herangezogen' - Hunde und Schafe, Maultiere, Ziegen, Ratten und Kaninchen. Die 'unverzichtbaren Prüfungen am lebenden, intakten System', heißt es offiziell, seien 'mit aller Ernsthaftigkeit durchgeführt' und 'gewissenhaft überwacht' worden."
Das gutsortierte Waffenarsenal der Bundeswehr von der Pershing bis zum 5,56-mm Geschoß hat öffentliche Aufregung hervorgerufen. Warum: Weil "Hund Nr. 17 nach Splittertreffern starb". Das geht zu weit und ruft sogar den Tierschutzverein auf den Plan, dessen Chef Andreas Graßmüller meint: "Es haben nicht Tiere dafür geopfert zu werden, damit man anderen, nämlich den Menschen, das Leben nehmen könnte." Es muß also bei allen staatlicherseits inszenierten Menschenopfern auf das Leben der Tiere geachtet werden. Und der Rest der Menschheit? - Läßt sich seine gute Meinung über den "grundgesetzlich verankerten Auftrag der Bundeswehr" sichtlich erschüttert nicht erschüttern: "Mich fröstelt - so will ich nicht 'verteidigt' werden!" Nein, keine Sorge: So wirst du auch nicht verteidigt. Im Ernstfall sind die armen Schweine an der Front "lebendige, intakte, menschliche Systeme", die nicht unter den Tierschutz fallen.
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Endlich ist's wieder soweit
"NATO übt Luftschlacht um England.
Mit zweijähriger Verspätung wegen des Falklandkrieges hat über Großbritannien ein dreitätiges Großmanöver der Luftwaffen von neun NATO-Staaten begonnen. Während der "Luftschlacht um England" simulieren Flugzeuge mehr als 900 Angriffe auf Radarstationen in den Äußeren Hebriden, Fliegerhorste in Südengland und andere Ziele. Während des Manövers mit dem Namen "Elder Forest" werden etwa 200 Flugzeuge der R.A.F. gleichzeitig in der Luft sein, um die Angreifer abzuwehren mehr als jemals zuvor seit dem Zweiten Weltkrieg. Zu den "Feindflugzeugen" zählen auch Starfighter, Tornados und Alpha Jets der Bundesluftwaffe."
Die deutsche Schlappe von 40/41 wird sich nicht wiederholen. Heute wird vorher geübt, und Tommys und Deutsche üben gemeinsam.
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Gebärmutter mit Samenbank einbunkern
"Am 'Tag danach' ohne Männer.
Halifax, 22. Februar. Nur Frauen im gebärfähigen Alter sollen nach Ansicht kanadischer Feministinnen im Ernsffall in Atombunkern Zuflucht finden. Das forderten die in der Organisation "Stimme der Frauen von Neu-Schottland" vereinigten Feministinnen in einem Manifest. Die Frauen wollen zusätzlich eine Samenbank in den Atombunkern einrichten, damit die 'Erhaltung der menschlichen Rasse' gewährleistet bleibe."
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Die Arbeitslosen in der BRD
"saisonbereinigt" um die 2,5 Mio. Einzelschicksale, haben Ende März neben allem übrigen noch einen in menschlicher Hinsicht besonders herben Verlust an Lebensqualität hinnehmen müssen: Josef Stingl, ihr oberster Zähler und Arbeitslosengeldgeber bzw. -verweigerer, ist in den Austrag gegangen. Dieser anscheinend ungemein sympathische Bürokrat aus dem Fränkischen hat sein Bulldoggengesicht auf allen Fernsehkanälen so populär gemacht, daß die Wegrationalisierten heutzutage lieber "zum Stingl gingen" als früher zum Stempeln. Beim Staatsempfang mit Erbsensuppe wurde der Präsident verabschiedet, wie es sich gehört mit Ministern, Unternehmervorsitzenden und Gewerkschaftsführern. Ob auch ein paar Vertreter seiner "Leistungsempfänger" dabei sein durften, wurde nicht überliefert - da wäre es auch schwer gewesen, eine repräsentative Auswahl zu treffen, ohne Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Dennoch wurde es sehr würdig und Stingl zu Tränen gerührt. Dieser Mann ging in seinem Amt so inniglich auf, daß er am Ende wahrscheinlich selbst daran geglaubt hat, seine Statistiken seien nicht nur ein Dienst am Staat, sondern ein Schicksalsbarometer für lebendige Menschen. Nachfolger Franke wird sich da schwer tun, es an Volkstümlichkeit seinem Amtsvorgänger gleichzutun, auch wenn er vielleicht demnächst verkünden darf, daß die Arbeitslosenzahl trotz aller Saisonbereinigung um 18634 verglichen mit dem Vorjahr gesunken ist. Aber wem der Staat ein Amt gibt, der legt sich schon noch die menschliche Ausgestaltung zu, mit der es dann auf den Verstand nicht mehr ankommt - weder beim Amtsinhaber noch bei den Betroffenen.