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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1984 erschienen.

Systematik

Die Gewerkschaft kämpft sich durch
VON DER SOZIALLIBERALEN ZUR CHRISTLICHEN ORDNUNGSMACHT

"Streik" - das ist der 'Schlag' (engl. strike), den organisierte Lohnarbeiter gegen das Kapital führen, das ihre Arbeitskraft benutzt. Mit der Waffe, die sie haben: der Verweigerung - der organisierten, auch gegen Streikbrecher durchgesetzten Verweigerung - der Dienste, die das Kapital nun einmal braucht für seine Vermehrung.

So etwa planen IG Metall und IG Druck für den Mai, mitten hinein in den Aufschwungfrühling der sozialfriedlichsten Republik, die je auf deutschem Boden...

Das Echo fällt entsprechend aus. Den Aufschwung dürfte man doch nicht kaputtstreiken - sagen die politischen Anwälte und die Nutznießer des Geschäftslebens, das da gerade seinen Aufschwung nimmt. Streik wäre ein Verbrechen, gegen die Arbeitslosen - warnen die Vertreter des produktiv und immer produktiver eingesetzten Eigentums und die politischen Sachwalter seiner Macht und Freiheit, Arbeitskräfte rein nach Geschäftsgesichtspunkten zu benutzen, also auch wieder wegzutun. Rückfall in einen überholten Klassenkampf - zetern genau die Experten, die bei jeder Gelegenheit dem Publikum vorrechnen, daß Wirtschaftsblüte nur und immer auf Kosten der Lohn-"Empfänger" geht.

Bei all diesem öffentlichen Geschrei fällt eins allerdings auf: Die Sorgen um die Zukunft des bundesdeutschen "Arbeitsfriedens", die Warnungen vor unabsehbaren Schäden für die Wirtschaft und öffentliche Ordnung, klingen allesamt sehr geheuchelt. Mit einem 'Schlag', der irgendetwas in dieser Republik zum Wackeln bringt, rechnet im Ernst niemand.

Am wenigsten, so scheint es, die Gewerkschaften selbst, die den Streik vorbereiten.

Streik - eine demokratisch-rechtliche Streikaktion

Zu ihrem eigenen Vorhaben, die bundesdeutsche Metall- und Druckindustrie ein wenig lahmzulegen, um den Unternehmern eine Verkürzung der Regelarbeitszeit abzupressen, verhalten sich die IG Druck und IG Metall distanziert.

- Ihre Vorsitzenden und Experten waren die ersten, die vor einer "Streikgefahr" gewarnt haben. Mit einer Warnung an die Adresse des Gegners: einer Androhung schwerer Schäden für sein Geschäft, war das nicht zu verwechseln. Mit Nachdruck haben sie beteuert, daß ihnen nichts ferner liegt als Geschäftsschädigung. Ihre Warnung ergeht vom Standpunkt und im Namen der durch die gewerkschaftlichen Kampfmaßnahmen betroffenen "deutschen Wirtschaft". "Wir wollen alles tun, um die Tarifbewegung 1984 ohne Urabstimmung und Streik beenden zu können" und: "Wir haben nicht leichtfertig entschieden, weil wir wissen, was auch politisch auf dem Spiel steht!" (Mayr) - in solche Einschätzungen eines Streiks als wirtschaftliches und politisches Übel, kleiden die streikbereiten Gewerkschaften die öffentliche Kundgabe ihrer Streikbereitschaft!

- Und das war und ist noch nicht einmal Heuchelei. Die Gewerkschaften haben die Verhandlungen mit den Unternehmern Woche für Woche in die Länge gezogen, nachdem deren Kampfposition längst feststand. Statt eine wirksame Erpressung zu planen und einzuleiten, haben sie ihre Mitglieder an ein paar Stellen zu absichtlich unwirksamen "Warnstreiks" auf ein Viertelstündchen unverbindlich vors Werkstor gebeten. Nach abschließenden - oder immer noch nicht abschließenden? - "Spitzengesprächen", das Osterfest ist inzwischen da, zelebrieren sie das selbstauferlegte Ritual einer demokratie- und rechtsförmlichen Streikvorbereitung: offizielle Erklärungen des Scheiterns der Verhandlungen, Beratungen der regionalen Spitzengremien, Anträge auf Urabstimmung, Beratung dieser Anträge mit viel Schweiß und Mineralwasser, Genehmigung durch die Zentrale, Festlegung der ersten Termine, der 1. Mai ist inzwischen vorüber... als ginge es um eine diplomatische Haupt- und Staatsaktion. Und offenbar geht es diesen Gewerkschaften auch nicht um die Einleitung eines Kampfes: Durch die Bewältigung zahlloser künstlicher Form-Hindernisse wollen sie sich ein förmliches (Quasi-) Recht auf die Ausrufung eines Streiks verschaffen.

- Was da ausgerufen werden soll, ist, wen wundert's, so marktwirtschaftlich matt wie die Vorbereitung demokratiemäßig und juristisch umständlich. Gewaltsame Durchsetzung ist nicht vorgesehen; ein Grund dafür wird in den Urabstimmungen auch gar nicht zur Debatte gestellt. Als "noch nie dagewesene" Kampfmaßnahme preist IG Metallboß Mayr den Plan an, nicht schwerpunktmäßig in einer ganzen Region, sondern in ausgewählten Betrieben verschiedener Tarifbezirke zu streiken - im Klartext: eine bunte Kette von Sympathiestreiks um ausgesucht wenige Dauerstreiks herum soll harmlose Demonstrationen an die Stelle wirkungsvoller Kämpfe setzen. Und eine zynische Öffentlichkeit weiß gleich schon über die "Hintergründe" Bescheid: Ähnlich wie die IG Druck mit ihren drei bis vier unauffälligen Streiktagen muß die IG Metall sich im ganzen Bundesgebiet die paar Betriebe zusammensuchen, die sich dank der Disziplin des dortigen Fußvolks überhaupt lahmlegen lassen.

Denn dahin hat diese Gewerkschaft es mit ihrem absurden Streiktheater auf alle Fälle gebracht: den eigenen Mitgliedern ist genauso wie der Gegenseite, dem Politikervolk und dem demokratischen Publikum jede Erinnerung daran abhanden gekommen, daß Streik nicht bloß dem Wortsinn nach 'Zuschlagen' heißt, sondern das auch sein muß, um sich zu lohnen. Stattdessen widmen sich Journalisten im Gespräch mit DGB-Funktionären der Frage, ob die reichste Gewerkschaft der Welt auch genügend Geld hat, um den Kampf zu finanzieren. Ein Hinweis auf die Perspektive, die den Aktivisten als einzig realistische vertraut ist: Ohne Schaden für die Streikenden wird das Ganze nicht abgehen! Wie auch anders? Noch der radikalste IG Metall- oder Druck-Gewerkschaftler teilt ja ganz offiziell noch mit dem reaktionärsten Gewerkschaftsfeind das Urteil, daß geschäftsschädigende Unordnung, erpresserische Gewalt gegen die Macht des Eigentums, am Ende gar Rangeleien vor den Werkstoren sich eigentlich überhaupt nicht gehören. Die Aussicht, den "Aufschwung" zu stören, macht für gewerkschaftliche Kämpfer hierzulande das Streiken nicht etwa extra reizvoll, sondlern wird als gewichtiger Einwand gegen jedes Streikvorhaben gewürdigt. Und im Namen eines solchen wirtschaftsdienlichen Ordnungsfanatismus, nach quasi-amtlich ausgezählten Urnengängen und gerichtlich überwachten Beratungszeremonien, soll dann Bundesdeutschlands Wirtschaft schlicht und ergreifend lahmgelegt werden?!

Nein: Lahmlegen, den Geschäftsqanq wirksam stoppen, den Reichtum und seine Umtriebe empfindlich treffen - das geht nicht ohne den Willen von genügend Lohnarbeitern, ihre Arbeit für sich lohnend zu machen, und nicht ohne deren Wissen, daß sich das mit der marktwirtschaftlich-demokratischen Ordnung und ihren Anstandsregeln nicht verträgt. Beides ist nicht die Sache von Gewerkschaften, die ein wohlgeordneter und ordentlicher Ordnungsfaktor des demokratischen Kapitalismus sein wollen. Deren Streiks sind tatsächlich, was ihre Führer nicht müde werden zu versichern: "Maßnahmen", zu denen die "Sturheit" der anderen Seite den Ordnungsanwalt DGB "zwingt" - das lächerliche Unterfangen also, die Gegenseite in eine Art gewerkschaftlicher "Beugehaft" zu nehmen, bis sie von ihrer halsstarrigen "Unvernunft" abläßt und "zur Raison kommt".

Und zu welcher?

Die Streitfrage

Die bundesdeutschen Gewerkschaften haben etliche Tarifrunden hinter sich gebracht, deren Ergebnis sie in ihren Mitgliederzeitschriften beklagen: "Neue Armut" heißt das Stichwort. Wie eine Entdeckung aus einem fernen Land wird da mitgeteilt, daß eine deutsche Arbeiterfamilie von 1.800,-- DM netto eigentlich nicht leben kann. - und daß mittlerweile nicht bloß Arbeitslose im Monat weniger Geld auf die Hand bekommen. An Streiks, um das zu ändern, hat keine DG B-Gewerkschaft in den vergangenen Jahren auch nur gedacht; und die Jammerberichte aus neuester Zeit beweisen, daß ihr ein solcher Einfall auch 1984 denkbar fern liegt.

Dabei handelt es sich nicht um das Ergebnis von Versäumnissen oder Niederlagen, sondern um das Vereinsprogramm. "Lohnmaschine" haben die verschiedenen IGs der Nation nicht sein wollen; also belaufen sich die Tariflöhne auch nicht auf Summen, mit denen man über die Runden kommen kann.

Jetzt steuern IG Druck und IG Metall auf Streiks zu. Die Forderung, die sie damit verbinden, ist die inzwischen allgemein bekannte 35 mit der lachenden Sonne darüber. Die Beteuerungen der Führung, an materielle Vorteile für die Arbeiter sei dabei nicht gedacht, ist - nicht nur nach Jahren der Lohnsenkungspolitik - unbedingt glaubwürdig. Die Gewerkschaften wollen mit ihrer 35 ein volkswirtschaftliches Rechenexempel lösen, das sie sich als Grund der massenhaften Arbeitslosigkeit im neuen Jahrzehnt ausgedacht haben. Es ist zwar überhaupt nicht wahr, daß das Elend der Arbeitslosigkeit deswegen so viele von Lohnarbeit Abhängige trifft, weil "die Arbeit nicht reicht" - die geleisteten und bezahlten Arbeitsstunden sind schließlich kein gesellschaftlicher Topf, den die "Arbeitgeber" verwalten, sondern Mittel kapitalistischer Geschäfte und von deren schwankendem Bedarf abhängig. Die Gewerkschaft ist jedoch so frei, es andersherum zu sehen. Sie addiert die Arbeitsstunden und befragt die gefundene Zahl, ob man sie statt durch 40 nicht auch durch 35 hätte teilen können. Und siehe da: man hätte; und nach vollendeter Bruchrechnung hätten ein paar hunderttausend mehr hinterm Gleichheitszeichen gestanden.

Auf solche Rechenkunststücke verfällt eine bundesdeutsche Gewerkschaft nicht aus volkswirtschaftlicher Gelehrsamkeit - auch wenn ihre gebildeten Anführer gerne diesen Anschein erwecken. Aus Ärger über massenhafte Entlassungen und das Elend der Entlassenen aber erst recht nicht. In Lohnarbeitern, die den öffentlichen Kassen zur Last fallen, statt sie mit Abgaben von ihrem Lohn zu füllen - die entsprechenden Summen haben die DGB-eigenen Experten genau ausgerechnet! -, entdeckt diese Gewerkschaft eine himmelschreiende volkswirtschaftliche Verschwendung. Die will sie abstellen helfen, und zwar durch eine geglücktere Verteilung der "nötigen" Arbeitsdienste auf das dienstbare Menschenmaterial. Von ferne grüßt das faschistische Ideal eines wohlgeordneten Arbeitsdienstes - aber natürlich nur als Ideal; das Vertrauen in die segensreichen Wirkungen eines verantwortungsbewußten Unternehmertums und einer allseits erfolgreich geführten freien Konkunrenz ist bei den Demokraten des DGB ungebrochen. - Dafür steht die sonnige 35.

Und dafür sind die Unternehmer überhaupt nicht zu haben. Schließlich stellen sie die praktisch maßgeblichen Rechnungen an, deren Erfolg wie Mißerfolg immer für die einen Arbeiter Maximalleistung und für andere Entlassung heißt. Und dabei kennen sie kein anderes "Verteilungsproblem" als ihr Interesse, die eingekaufte Arbeitszeit mit möglichst viel Leistung zu füllen und ihre Firma möglichst wenig stillstehen zu "Dogmatiker" der 40-Stunden-Woche sind sie dabei keineswegs. Ihre Parole heißt "Flexibilität". In der betrieblichen Praxis führen sie längst vor, daß es überhaupt keine Bruchrechnung für die 24 Stunden des Tages und die 7 Tage der Woche gibt, die nicht "technisch machbar" wäre. Die Freiheiten, die sie sich da schon immer über ihre Arbeiter herausgenommen haben, wollen sie in der diesjährigen Tarifrunde von der Gewerkschaft fest zugesichert und nicht gleichzeitig in feste vertragliche Schranken gezwängt haben. "Arbeit auf Abruf" - das ist der betriebsnützliche Inhalt, den sie der gewerkschaftlichen 35 geben möchten.

Daß dabei 40 Stunden pro Woche die Normalarbeitszeit bleiben sollen, ist für die Unternehmer eine Lohnfrage. Muß nicht doch am Ende die Arbeitsstunde teurer werden, wenn die Arbeiter im Regelfall ihre Existenz über 7 Tage die Woche mit dem Entgelt für nur noch 35 Stunden bestreiten müssen? Bietet nicht umgekehrt eine betriebsspezifische oder individuelle Arbeitszeitverkürzung bei fortbestehender 40-Stunden-Norm die schönste Handhabe für "individuelle" Lohnsenkung? Ganz zu schweigen von den Zuschußzahlungen der Bundesanstalt für Arbeit bei Kurzarbeit, die auch von der 40-Wochenstunden-Regel abhängen...,

Gegenüber einem so soliden Unternehmermaterialismus sind die Gewerkschaften zu jedem Zugeständnis bereit. Die freien Wochenenden, die ganze Nacht, jede Schichtdauer zwischen 6 und 12 Stunden bieten sie an, um den Flexibilitätswünschen der Unternehmer nachzukommen. Mit der Forderung nach Lohn-"Ausgleich" bei der Arbeitszeitverkürzung räumen sie ein, daß natürlich eigentlich einem weniger beanspruchten Arbeiter auch weniger Geld zusteht. Deswegen haben sie diese "Forderung" auch von Anfang an zum "kompromißfähigen" Teil ihres Tarifpakets erklärt. Und ganz autonom haben sie die wissen-schaftliche Entdeckung gemacht: "Wir wissen, daß jede Mark, die die Arbeitszeitverkürzung kostet, nicht noch einmal für Lohn verausgabt werden kann."

Weiter: Mit ihrer "Theorie" vom "induzierten Produktivitatseffekt", wonach eine kürzere Arbeitszeit ganz von selbst die Arbeitsleistung hochtreibt - Janssen von der IG Metall: In der 8. Stunde würde sowieso bloß noch die halbe Leistung gebracht... -, trompeten sie ihre Billigung jeder betrieblichen "Rationalisierungs"-Maßnahme hinaus. Und überhaupt - auch das haben sie von Anfang an klargestellt - sei bei der 35 ja gar nicht an 5 Stunden weniger gedacht, sondern an einen "Einstieg in...". Verhandeln wollen sie über einen auf Jahre erstreckten "Stufenplan", der überhaupt jede "Kostenbelastung" von den Unternehmen fernhalten soll. Da rechnen die Gewerkschaftsunterhändler seit Wochen der Gegenseite deren Heuchelei vor, wenn die über einen unglaublichen Kostenschub infolge der Arbeitszeitverkürzung jammert und gleichzeitig jeden "Beschäftigungseffekt" leugnet. Was soll man dann aber von ihrer eigenen umgedrehten These halten, der "Beschäftigungseffekt" wäre auch so zu haben, daß man den Unternehmern durch eine gestaffelte Verkürzung der Arbeitszeit jeden Zwang zu Neueinstellungen erspart?

Sogar von dem aus Ordnungsfanatismus geborenen Gewerkschaftsideal, alle Lohnarbeiter möglichst gleichmäßig dienen zu lassen, bleibt so bloß noch der Titel übrig: das "Tabu der 40 Stunden" soll "gebrochen" werden. Als "Entschädigung" dafür bieten die Gewerkschaften langfristige Lohnfestlegungen an - also den Verzicht darauf, jährlich über eine Kompensation der gelaufenen Lohnsenkungen - durch Leistungs- und Preissteigerungen das ganze Jahr über! - auch nur zu verhandeln.

Auf dem einen und einzigen Punkt: den Schein einer Arbeitszeitverkürzung auszuhandeln und so bestätigt zu bekommen, daß sie volkswirtschaftlich und beschäftigungspolitisch mal wieder goldrichtig liegen, allein auf diesem Unsinn bestehen IG Druck und IG Metall und DGB nun allerdings mit allem Nachdruck, der ihnen zu Gebote steht. Gerade wegen der Absurdität dieses Streitpunkts, der dem Gegener überhaupt kein Interesse streitig machen will, wissen sie sich absolut m Recht. Und dieses eingebildete Recht exekutieren sie, sonst nichts, wenn sie mit der gebührenden Feierlichkeit zu ihrer letzten demokratisch-rechtsstaatlichen Abmahnungs- und "Strafaktion" gegen die "sture" Unternehmerschaft stolzieren und "Streiks" anzetteln.

Machtkampf - ohne Gegensatz in der Sache

Dabei nützen die Gewerkschaften jede Gelegenheit zu der Beschwerde, ihr Gegner zwinge ihnen diese ungeliebte Maßnahme auf, und zwar noch nicht einmal aus Gründen des Profits - die IG-Metall spricht vornehm von "ehrbaren kaufmännischen Argumenten"! -, sondern in dem bloß politischen Interesse, die bundesdeutsche Gewerkschafts-"Bewegung" zu schwächen. Und irgendwie haben sie da auch recht - wenn auch ganz anders, als Mayr, Janßen, Steinkühler und Co. es meinen.

Unternehmer denken - im Unterschied zu bundesdeutschen Arbeiterführern - immerzu an ihren zählbaren Vorteil: an ihr Geld und dessen Mehrung. Einen politischen anstelle eines materiellen Vorteils zu verfolgen, ist ihnen ganz fremd. Immerhin fällt aber auf, daß sie mit der Gewerkschafts-"Forderung" ein Angebot zurückweisen, das ihnen keine materiellen Lasten auferlegt; das ihnen im Gegenteil Freiheiten in Aussicht stellt, nach denen sie sich sonst, da haben die beschwerdeführenden Gewerkschaftler durchaus recht, "alle Finger lecken". Es ist schon ein übergeordneter politischer Wille, mit dem die um mehr "Vollbeschäftigung" besorgten Gewerkschaften es in dieser Tarifrunde zu tun haben. Der Regierung und den Unternehmern gemeinsam geht es um Korrektur einer bundesdeutschen "Errungenschaft", die von Adenauers Wiederaufbau-Sozialpakt über Schillers "konzertierte Aktion" bis zu Schmidts "Modell Deutschland " eine Hauptrolle gespielt hat. Der quasi öffentlich- rechtlichen Stellung des DGB sagen sie den Kampf an - gerade so, als hätte ausgerechnet das die Klassenordnung der bundesdeutschen Gesellschaft durcheinandergebracht.

Der "Zwang", sich über die Sortschritte der Ausbeutung mit einer rechtsstaatlich eingeführten Arbeitnehmerorganisation tarifvertraglich ins Benehmen setzen zu müssen, hat die Unternehmer hierzulande zwar nie sonderlich gedrückt. Mit der gewerkschaftlichen Gegenleistung: einem bombenfesten Betriebsfrieden, sind sie sogar glänzend gefahren - da hat so mancher Boß "seine" Gewerkschaft schätzen gelernt. Ebenso ist noch keine bundesdeutsche Regierung in ihrer klassenbewußten Wirtschaftspolitik durch den DGB behindert worden. Im Gegenteil: Ohne das politisch anerkannte Vertretungsmonopol des DGB für Arbeiterinteressen wäre so mancher "Aufschwung" und "Abschwung" der zuständigen Herrschaft sicher weniger leicht gefallen. Eben deswegen steht für den weiteren Fortschritt der bundesdeutschen Marktwirtschaft jetzt aber eine neue Etappe an. Staat und Unternehmer verlangen den gewerkschaftlichen Dienst, ohne ihrerseits feste tarifliche Bindungen einzugehen, die durch ihren allgemeinen Rechtscharakter der notwendigen Willkür einer modernen Betriebsführung Schranken setzen könnten. Das ist der politische Schlag - überhaupt nicht im geringsten Gegensatz zu den gültigen Geschäftsinteressen! -, den die Gewerkschaftsgegner anläßlich der 35-Forderung des DGB führen.

Ideologisch bestreiten sie diesem Verein seine öffentliche Geltung und sein Selbstbewußtsein als unentbehrlicher demokratischer Ordnungsfaktor, indem sie ihm wider besseres Wissen, absichtlich taub gegen alle seine konstruktiven Angebote, den Makel der Unverantwortlichkeit anheften: "Dumm und töricht" (Kohl), "eine Mit Schmierseife eingefettete Rutschbahn für die deutsche Wirtschaft" - (Lambsdorff in Japan), "ein Hagelsehlag für den Aufschwung" (Genseher), "eine Ohrfeige für die Arbeitslosen" (Blüm) usw. Solche rhetorischen Angriffe dienen der propagandistischen Kundgabe und Aufbereitung des praktischen politischen Angriffs: Der Gewerkschaft, die mit ihrer Sozialordnungspolitik die regierungsamtliche Marktwirtschaft nicht kritisieren, geschweige denn behindern, sondern verbessern will, und das mit tiefstem Respekt vor sämtlichen "Sachzwängen" des Profits, dieser Gewerkschaft wird das angestrebte gemeinwohldienliche Einvernehmen verweigert. Sonst nichts - das aber hart und demonstrativ.

Die IG-Metall und ihr DGB-Flügel sehen sich dadurch politisch angegriffen, was stimmt, aber die halbe Wahrheit wegläßt. Zu einem solchen Angriff gehört nämlich das auserlesene Opfer dazu: eine vollständig absurde Gewerkschaft, der nichts so wichtig ist wie das, was die Gegenseite ihr aufkündigt, nämlich das Recht auf Gehör und konstruktives Mittun in eigener Regie. Eine Gewerkschaft, der es auf nichts so sehr ankommt wie darauf, öffentlich anerkannt, mit der Unternehmerseite gleichberechtigt, von oben zu Rate gezogen zu sein. Wenn die IG Metall über die Einseitigkeit der Regierung im gegenwärtigen Tarifstreit jammert, sogar in ihrer Mitgliederzeitschrift den Kanzler als parteiischen Schiedsrichter karikiert, dann zeigt sie damit öffentlich vor, wie vollständig sich für sie gewerkschaftliche Macht erschöpft in der gesellschaftlichen Bedeutung, die die Regierung ihr zuweist. Darin ist die Gewerkschaft durchaus der gleichen Auffassung wie ihre christlich-liberalen Gegner; auf dieser Grundlage findet der gegenwärtige Streit statt. Von wegen also "aufgezwungener Kampf": für eine solche Auseinandersetzung muß eine Gewerkschaft sich erst einmal hergeben!

Regierung und DGB wissen voneinander, daß sie sich darüber einig sind, was volkswirtschaftlich geboten ist, nach welchen Maßstäben Lohnarbeiter benutzt und entlohnt gehören, daß Wachstum das Gemeinwohl ist usw. Für den DGB folgt aus dieser Einigkeit in der Sache das Recht, an der politischen Macht beteiligt zu werden - ein Recht, das ihm bislang noch immer gewährt worden ist. Die Regierung der christlichen Wende zieht aus derselben Einigkeit den entgegengesetzten Schluß: Wenn man sich in der Sache einig ist, dann ist eine besondere Rolle der Gewerkschaft überflüssig - und außerdem hat sie das dadurch zu beweisen, daß sie ihre Macht als Organisation vollständig abliefert bei der Regierung.

Eine nationale Kolpingsfamilie, der weltlichen Obrigkeit so hörig wie das katholische Vorbild der kirchlichen; ein Arbeiterverein, der Tarifverträge nur abschließt, um den Unternehmern alle Freiheiten zu garantieren: Das ist die gewerkschaftspolitische Leitlinie, um die Regierung und Unternehmer den Tarifkonflikt führen.

Die "neue Dimension" des Arbeitskampfes 84: Streik als Beschwerde gegen eine politische Degradierung

Die Streitfrage, die dafür Anlaß und Stoff hergibt, eignet sich ausgezeichnet für einen solchen Prinzipienstreit. Eben deswegen nämlich, weil die Gewerkschaft mit ihren Kampfzielen so entschieden gar nichts anderes geltend machen will als ihre völlige Einigkeit mit der Gegenseite - aber unter dem Vorzeichen der 35, des gewerkschaftlichen Symbols, mehr ist es ja nicht, einer volkswirtschaftlich erzvernünftigen Arbeitsmarktordnungspolitik. Wo nun allerdings so offensiv jeder Unterschied im sachlichen Anliegen geleugnet wird, bleibt an Gegensatz und Streit gar nicht mehr übrig als gewerkschaftliche Rechthaberei. Und damit stehen IG Metall, IG Druck und DGB-Führung in jeder Hinsicht blöd da.

- Ihren Mitgliedern nützt sie gar nicht mit ihrem Kampf. Deren Interessen sind nicht ihr Ausgangspunkt und Anliegen; so wenig, daß der Gewerkschaftsapparat sich wie ein soziologisches Forschungsinstitut bei seinen Leuten erkundigt, wie sie eigentlich so zurechtkommen - um dann wie eine politische Partei auszukundschaften, wie populär ihre Tarifmanöver sind und wie hoch die "Akzeptanz" ihrer "Forderungen". Denn umgekehrt sind natürlich auch ihre Vorhaben nichts, worum ein Mitglied sich ehrliche Sorgen macht. Ständig besprechen Gewerkschaftsfunktionäre ihr Verhältnis zur "Basis" - und beweisen schon damit ihre berechtigten Zweifel daran, ob ihre Politik noch "in den Massen verankert" sei. Wenn's dann auf die Streiktage zu ans Mobilisieren geht, sehen die "Argumente" der Agitation entsprechend aus. Ganz formell, im Namen eines proletarischen "Wir"; ohne wirkliches gemeinsames Interesse als Inhalt, legt die Gewerkschaft sich: ihre ehrwürdige Existenz, den Mitgliedern als wichtigsten Zweck ans Herz. Ohne erkennbaren weiteren Vorteil sollen sie sich zur Manövriermasse ihrer Gewerkschaft machen: ein Ansinnen, das statt aufs Interesse auf eine falsche gute Meinung von der "Körperschaft" DGB baut.

- Diese gute Meinung wird von der Regierung nicht widerlegt, aber sehr wirksam untergraben - einfach dadurch, daß sie mit den Gewerkschaften Streit sucht. Es geht den Gewerkschaften in der Sache ja um nichts, worin sie sich nicht prinzipiell einig wären oder sein wollen mit der Regierung - außer eben um ihre eigene Bedeutung. Das ist aber für einen wohlerzogenen demokratischen Verstand ein denkbar schlechter Rechtstitel für einen Streit mit der Obrigkeit. Ihr eigenes Mobilisierungsargument - Steinkühler: "Es geht um Sein oder Nicht-Sein der Gewerkschaften!" - bekommen die Funktionäre mit einem "bloß!" versehen als Vorwurf zurück: Nur um des öffentlichen Ansehens und der gerechten Anerkennung des eigenen Vereins willen stört man doch nicht den inneren Frieden!

- Die perfiden Verlängerungen dieses Angriffs lassen sich nicht nur in der Bildzeitung nachlesen, die sich wie immer aufs Lob des anständigen Deutschen im Arbeiter versteht. Solche Arbeiterfreunde, die jahrzehntelang wider besseres Wissen den DGB als "Lohnmaschine" bekämpft haben, entdecken auf einmal, daß die offenbare Untauglichkeit der Gewerkschaften für die Existenzsicherung der Arbeiter sich genausogut polemisch verwenden läßt: 'Ohne den Arbeitern zu nützen, gefährdet ihr Aufschwung und Ordnung...!' Der moralisch- faschistische Schluß liegt auf der Hand: Da muß es 'marxistischen Funktionären' um die böswillige 'Zerstörung unserer guten Marktwirtschaft' gehen!

- Mit diesem Vorwurf schlägt die Gewerkschaft sich herum - und hat damit schon verloren. Vor jedem Ideal des Gemeinwohls, das sie als ihren Rechtstitel beschwört, blamiert sie noch allemal zuerst ihre eigene Streiterei. Und was hilft ihr der noch so gelungene Nachweis, die Gegenseite hätte auf stur geschaltet und damit eine Machtprobe erzwungen? Damit räumt sie ja bloß selber ein, daß es sich bei ihren Streikvorhaben um eine "bloße Machtfrage" handelt. "Funktionärsherrschaft!" heißt der folgerichtig anschließende nächste Vorwurf."

Ein paar Monate regierungsamtliche Abfuhr für die gewerkschaftlichen Mitverantwortungsansprüche haben bereits genügt, um Gegensätze zwischen der Gewerkschaft und ihren Mitgliedern zu wecken. Der Vertretungsanspruch des DGB für die deutschen Lohnarbeiter ist genauso wirksam in Zweifel gezogen wie sein Anspruch auf wirtschaftspolitische Bedeutung. Und innerhalb des DGB ist längst der Streit zwischen "radikalen" und "gemäßigten" IGs im Gange, ob man der von Regierung und Unternehmern angestrebten Herabstufung des Vereins Widerstand leisten oder nicht besser entgegenkommen sollte - auch wenn die gewerkschaftliche Solidarität diesen Streit fest zudeckt, solange die Kampfaktionen der IG Druck und der IG Metall noch nicht verlorengegeben sind.

So kommt die sozialfriedliche Republik mitten im Aufschwungsfrühling womöglich noch in den Genuß einiger Streiktage. Statt Kampf wird dort die Demonstration geboten, daß die größte Einzelgewerkschaft der freien Welt und ihr "radikaler" kleiner - Bruder aus der Druckbranche nur unter Protest hinnehmen, daß die Regierung der Wende mit ihrem Programm des totalen inneren Friedens für autonome Sozialfriedensstifter keinen prominenten Platz mehr bereithält. Das war's dann - der "Kampf um die 35-Stunden-Woche."

Kürzere Arbeitszeit - ein Rechenexempel

Der Betriebsrat, den man gerade wieder einmal gewählt hat, wird in Zukunft immer wichtiger. Als ein Mann nämlich, der exakt Auskunft geben kann, wie lange man in den letzten Wochen gearbeitet hat.

Denn wann der deutsche Arbeiter zum Dienst anzutreten hat und wann er Freizeit hat, das richtet sich zunehmend nach komplizierten Einsatzplänen, die schon beinahe so unverständlich sind wie das Kursbuch der Bundesbahn: Bei AGFA beispielsweise plant man 2 Spätschichten, 2 freie Tage, 7 Frühschichten (davon einmal 12 Stunden), 3 Tage frei, 2 Spätschichten, 7 Nachtschichten (davon einmal 12 Stunden), 3 Tage frei, usw. Beim Gummiwerk Fulda wurden jetzt abwechselnd eine Woche Früh-, Spät- und Nachtschicht eingeführt, wobei in den ersten beiden Wochen 43,5 Stunden gearbeitet wird, in der dritten 45 Stunden, in der vierten nur 22,5 Stunden, und dann hat. Man exakt 3,5 Tage frei. Bei BMW könnte das so aussehen: Am Freitag und Samstag 9 Stunden Frühschicht, Sonntag frei, und am Montag und Dienstag 9 Stunden Spätschicht, dann das Wochenende am Mittwoch und Donnerstag usw. - das Ganze natürlich im Wechsel mit je 9 Stunden von Montag bis Donnerstag...

Und solche komplizierten Systeme sollen einem das Arbeitsleben ausgerechnet leichter machen?! Das behaupten nämlich die Betriebsräte. Aber auf die Erleichterungen kommen sie ja auch bloß, weil sie auf dem Taschenrechner herausgefunden haben, daß die Arbeitszeit unter dem Strich von 40 auf 38,5 oder 36 oder 37,9752 Stunden gesunken ist. Bloß kann eben niemand unter dem Strich bequemer leben, vor allem nicht, wenn er dabei 45-Stunden-Wochen ableisten muß!