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Europa-Wahlen
STIMMUNGSBAROMETER DES ERFOLGREICHEN NATIONALISMUS
Die Wahllokale waren noch nicht richtig geschlossen, da entdeckten die Wahlauguren aus Öffentlichkeit und Politik schon lauter Verlierer, Probleme, Gefahren ... Gerade weil bei dieser Wahl nichts in Frage stand, lassen die berufenen Kommentatoren ihren demokratischen Machtphantasien bei der Deutung des Wahlergebnisses freien Lauf und liefern dem Stimmvieh postwendend einen ganzen Katechismus mündigen Wählens und Regierens hintennach.
Da leisten sich die europäischen Regierungen den Luxus, die Völker, welche sie regieren, symbolisch an "Europa" zu beteiligen. Da dürfen Deutsche, Franzosen, Italiener... eine demokratische europäische Vertretung ohne Befugnis wählen und so Ja sagen zum Programm eines nationalen Erfolgs in Europa. Da stimmen die aufgeklärten Bürger wahrhaftig für "Aufwärts mit Deutschland. Mit uns für Europa" oder auch für "Die Franzosen zuerst" oder auch einfach italienisch "kommunistisch" oder für eine dänische "Initiative gegen die EG". Da bleiben sie mündig zu Hause, weil sie ihre Herrschaften längst ermächtigt haben und keine einzige nationale Regierungs- und Oppositionsriege zur Wahl steht. Da gibt es also nur Wahlsieger, so viele nämlich wie Nationen, die da mit Sitzen und Stimmen ihr "großes Einigungswerk" repräsentieren lassen. Und dann war es doch nichts Rechtes, weil der gesamteuropäische Volkssouverän die heiligen Gebote demokratischen Wählens nicht peinlich genau beachtet hat.
1. Gebot: Du sollst die Gewalt von Dir ausgehen lassen!
"Man ging eben am Sonntag nicht zur Wahl, als gehe es um Bonn und um die Macht am Rhein... hat sich wohl herumgesprochen, daß im Europäischen Parlament wenig geschieht, was sich mit dem politischen Leben in den nationalen Parlamenten messen könnte." (Süddeutsche Zeitung)
Demokratieprofis finden es offenbar ganz verständlich, daß Bürger gelangweilt zu Hause bleiben, wenn es nicht um "Bonn", um die wirkliche Macht, und um ein Parlament geht, das über das nationale Wohl und die dafür notwendigen Opfer der Bevölkerung entscheidet. Daran gemessen hat die Europawahl bloßen "Spielwahlcharakter". So geht das imperialistische Programm Europa, dem da zugestimmt wurde, stillschweigend durch, und man erlaubt den Wählern generös ein paar Wahlfreiheiten.
2. Gebot: Du sollst beim Wählen keine falsche Gesinnung hegen!
"Mancher, der in Bundestagswahlen seinem traditionellen Abstimmungsverhalten treu bleibt, damit in Bonn nicht allzuviel durcheinandergerät, geht bei einer Gelegenheit, wie sie sich am Sonntag bot, schon einmal ein Risiko ein." (SZ)
"...weil man... ohne Skrupel Bekenntnisse zu Frieden oder Mündigkeit, Christlichem oder Nationalem, Emanzipation oder Ökologie abgeben konnte." (Infas-Analyse)
Wenn es um nichts geht, wenn die Verteilung der Macht nicht durcheinandergeraten kann zwischen den staatstragenden Parteien, dann - so die großzügige Ausnahmeerlaubnis an freie, gleiche und geheime Wähler - darf man auch schon einmal nach seiner besonderen staatsbürgerlichen Gesinnung gehen, ansonsten zählen ein paar Stimmen mehr für die Grünen schon zu den kaum tragbaren Risiken - siehe Hessen. Das Kreuzchen für eine Partei, die nicht zum Kreis der herrschenden Staatsparteien gehört, gilt schon als gefährlicher "Protest" und als Staatsgefährdung. Insofern aber kann man auch das Europawahlverhalten des Bürgcrs nicht anstandslos durchgehen lassen.
3. Gebot: Du sollst keine Splittergötter neben den Mächtigen haben!
Wenn die Wähler das nicht umstandslos beherzigen und sich selbst bei den folgenlosesten Wahlanlässen nicht nach dem Politologenideal vom 99%igen Ostblockstimmvieh richten, dann machen sich demokratische Kommentatoren auch schon Sorgen um die politische Kultur und um die europäischen Regierungen. Der "Falkland-Bonus" von Maggie Thatcher ist verflogen. Der "Präsidenten-Bonus" von Francois Mitterrand auch - wo doch ein gewonnener Krieg und die Verwaltung der Macht eigentlich für mündige Bürger ein schlagendes Argument für Zustimmung sein müßten. Ausgerechnet bei dieser Wahl sollen so gut wie alle Führungsmannschaften in Schwierigkeiten gekommen sein: "Benelux: Warnung für die Regierenden", "Einbruch der britischen Konservativen", "Mehr als ein Denkzettel für Mitterrand". Und diese Schwierigkeiten sollen darin liegen, daß die Wähler ihnen einen "Denkzettel" verpaßt haben. So bescheiden sind kundige Demokraten in Sachen Volkswillen, daß sie dem Volk mehr als einen Anstoß zum Nachdenken für die Regierung erst gar nicht zubilligen. So unbescheiden sind sie andererseits, wenn es um die Freiheit der Regierung vom Volk geht, daß sie in jeder abweichenden Stimmabgabe gleich einen möglichen Stolperstein sehen, den Untertanen ihren Herren in den Weg legen könnten. Demokratische Wähler sind deswegen ganz schnell immer zu dumm zum Wählen und damit eine Gefahr gleich für ganz Europa:
"Mehr oder weniger stabile Verhältnisse garantieren seit nahezu 40 Jahren Frieden und Freiheit auf diesem Kontinent. Obskure Mehrheiten links und rechts von der Mitte könnten gefährliche Blüten treiben und dieses System empfindlich erschüttern." (Münchner Merkur)
4. Gebot: Du sollst immer an die Macht Europas denken!
Auch wo nach den Maßstäben demokratischer Konkurrenz nichts auf dem Spiel steht, ist das Volk nicht aus seinen Pflichten entlassen und darf nicht einfach herumwählen, wie es will. Wenn von den Politikern die ideologische Unterstützung der Ansprüche gefragt ist, die sie gegen- und miteinander anmelden und für die sie ihre Völker antreten lassen, dann darf ein ordentlicher Wähler sich dem nicht entziehen. Er hat auf alle Fälle den europäischen Imperialismus zu wählen:
"Selbst die Erkenntnis, daß nur eine starke (politische) Europäische Gemeinschaft stabilisierend in dem Kräftespiel der Großmächte wirken kann, geht anscheinend spurlos an den Köpfen vorbei. Auch die Wähler haben wohl nicht verstanden, worum es eigentlich geht." (Münchner Merkur 19.6.)
Das gilt zunächst einmal vor allem für die Deutschen. Die BRD ist schließlich die in Europa führende und von Europa am meisten profitierende Macht und vertritt sogar alle nicht wahlberechtigten Ostdeutschen mit. Aber auch den Wählem anderer Nationen gegenüber ist Mißtrauen angebracht, ob sie überhaupt verstanden haben, worüber es uns mit Europa geht.
5. Gebot: Ihr sollt Euch enthalten jeden nationalen Eigensinns und Europa stärken für Deutschland!
"Gute Nacht Europa", tönt es, wie wenn es selbstvcrständlich wäre, daß die Bürger aller Länder die weltweite ökonomische Konkurrenz, den nationalen politischen Schacher und die militärische Zusammenarbeit der EG-Staaten hundertprozentig begrüßen müßten und als wären sie nicht längst praktisch dafür eingespannt. "Europamüde" sollen sie nicht werden - und schon gar nicht in anderen Ländern. Die inter-nationalistische Kritik wird da schnell und überall fündig: In Frankreich haben antieuropäische Nationalisten über 10% erhalten, die Briten haben gleich nur zu 30% gewählt, bei den Dänen hat jeder vierte ausdrücklich gegen die EG gestimmt, in Italien haben die Kommunisten die meisten Stimmen erhalten, und ausgerechnet die eigensinnigen griechischen Regierungssozialisten verzeichnen Stimmenzuwachs. Vor deutschen Vorstellungen von einem einigen Europa unter starken Führern blamieren sich eben alle anderen Nationalismen; und die Regierungen handeln sich den Vorwurf ein, Europa nicht "attraktiv" genug gemacht zu haben - z.B. durch mehr Macht für das europäische Parlament.
Umgekehrt wird die eigene nationale Mannschaft als Beweis für solche deutschen Vorstellungen ins Feld geführt. Gerade die Nichtwähler eignen sich da prächtig als Argument dafür, daß es endlich durchschlagende "europäische Initiativen" von Seiten der deutschen Regierung gegen die Krämer und Zauderer in den andern Nationen braucht; daß "deutsche Bauern"
eine andere Agrarpolitik verlangen, und deutsche Steuerzahler die hohen deutschen Nettozahlungen nicht akzeptieren. Die Nichtwähler sind also die beredtesten Vertreter der Interessen, die deutsche Politiker in und mit Europa verfolgen.
6. Gebot: Als Deutscher sollst Du für die Geschlossenheit der Nation eintreten!
Mit dem deutschen Wahlergebnis sind die Begutachter deshalb gar nicht zufrieden. Lauter Verlierer, bis auf die Grünen, gibt es, weil die Wähler einfach nicht haargenau die Prozentzahlen zustandegebracht haben, die sich die Politiker und Journalisten für eine starke und geschlossene deutsche Nation in Europa vorgestellt hätten. Die Wahlbeteiligung nur unter 57 statt über 87% - eine bodenlose Gleichgültigkeit gegenüber Europa!
Die FDP kam nicht über 5% - und schon zeigt man sich besorgt um das Überleben dieses "machtpolitisch wichtigen" Faktors, um den Bestand der Koalition, die Regierung Kohl, die Karriere des Außenministers. Die CDU hat Stimmen verloren - schon muß man sich fragen, ob die Regierung mit den Härten der "Sparpolitik" und des wirtschaftlichen Aufschwungs richtig zu werben versteht. Die SPD hat ebenfalls eingebüßt - auch das ist nicht recht, weil ihr der Nimbus einer glaubwürdigen und erfolgreichen Opposition zusteht, die Unzufriedenheit für sich konstruktiv nutzen und sich als 'etablierte Partei' damit regierungsfähig machen kann. Die Grünen haben mit einem Wahlprogramm, wie es unalternativer nicht mehr sein kann, über 8% gewonnen - schon kommen Bedenken auf über das Wahlverhalten der Jugend, die fehlende Programmatik und 'Integrationskraft' der herrschenden Parteien. Schon bescheinigt man aber auch den Grünen, auf dem Weg zu einer etablierten Partei zu sein - ein Urteil, dem diese Partei sich so begeistert anschließt, daß sie gleich selber gar nichts anderes mehr verkündet...
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Man interpretiert also nach nationaler Herzenslust diese Wahl als ein Stimmungsbarometer des Untertanenwillens für die nächsten Wahlen, wenn es wirklich wieder um etwas geht. Man sortiert die Regierungen theoretisch nach ihren Führungsqualitäten und die Völker nach ihrer Europareife, die sich immer an den Schwierigkeiten bemißt, die sie der eigenen Regierung bereiten und die diese unserer Regierung in den Weg legen. Man lamentiert über nationale Erfolge und Mißerfolge nach innen und außen - und ist sich offenbar sicher, daß sonst nichts zählt in der demokratischen Welt.
Da soll noch einer sagen, die Europawahlen seien für nichts gut. Genau für diese Pflege der nationalen politischen Kultur taugen sie auf jeden Fall.
2 x Volksbefragung
hat's zur Europawahl auch noch gratis dazugegeben. In Bayern dürften ein paar Millionen auf Anfrage von oben zu über 90% für mehr Umweltschutz stimmen. Im ganzen Bundesgebiet auf Anfrage von unten ebenfalls ein paar Millionen zu über 90% für die Aufhebung des Raketenstationierungsbeschlusses. Es gab einige Verwirrungen mit den Stimmzetteln: "Mit 'Ja' mußte nämlich der votieren, der sich gegen die Raketen ausprechen wollte. 'Das hätten die auch anders formulieren können', ärgerte sich ein Helfer". Dennoch kamen auch bei der autonomen Volksabstimmung die richtigen Kreuzchen zustande. Richtig befragt, meint das Volk eben auch richtig. Wer ist schon für weniger Umweltschutz und für immer mehr Raketen. Also geht es jetzt in Bayern mit dem Umweltschutz weiter und in der ganzen Republik mit den Raketen.