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Korrespondenz:
BETR.: "DER RUSSE"
"Ein Artikel zum Russen liegt nicht vor, weil mir keiner eingefallen ist.
Das Material des "Litauers" (vgl. MSZ Nr. 3/1990) war dessen interessiert hochgejubelte Volkskultur, der durch die politische Inferiorität dieses Volks fortgesetzt Gewalt angetan worden sei. Beim Russen liegt nicht von ungefähr das ziemliche Gegenteil vor: Der Stand seiner Kultur wird überwiegend als umgekehrt proportional zum Stand seiner Macht angesehen.
Der Generaltenor des vorliegenden Materials über die Russen: ein denkbar primitiver Haufen, in jeder Beziehung un- und antieuropäisch. Das Urteil tritt entweder in vollem Klartext auf: Da gibt es umfängliche Sittenschilderungen, in denen sämtliche Bereiche und Beziehungen des russischen Lebens, vom Muschik bis zum Zar, von der Körperpflege bis zur Staatsordnung, als ein Tollhaus von Brutalität und geistiger Finsternis beschrieben werden - die anerkannten Hervorbringungen der russischen Hochkultur als billiges Plagiat, zum Zweck der Blendung des Westens aufgerichtet wie weiland die Potemkinschen Dörfer. Oder es gibt sich verständnisvoll-herablassend, wobei meistens irgendein Dualismus bemüht wird: der zwischen asiatischer Herkunft und europäischen Ambitionen, der Extremismus des Klimas oder der brutalen (= genuin russischen) Herrschaftsverhältnisse. Hauptcharakterzug der "russischen Seele" ist daher das haltlose Schwanken zwischen den Extremen: Schweinerei und Frömmelei, Ausschweifung und Zerknirschung, Rausch und Melancholie, Gewalt und Unterwürfigkeit - natürlich teils mit sozial verteilten Rollen. Seine menschlichsten Seiten offenbart der Russe, wenn er gar nichts anderes mehr will als nur noch sein trostloses Herz ausschütten - in einer kindlichen Unmittelbarkeit, derer ein Europäer kaum noch fähig ist.
Ein erheblicher Unterschied zwischen vor- und nachrevolutionären Urteilen ist in dieser Beziehung nicht auszumachen. Ebenso erscheint der Kommunismus als Fortsetzung der zaristischen Despotie mit anderen Mitteln, wie öffentliche "Apathie" und private Kompensationsbemühungen des Sowjetbürgers als Frucht der jahrhundertelang eingeübten russischen Leidensfähigkeit. Die Zitate über das politische Leben ließen sich meist beliebig austauschen; in der Reproduktionssphäre wird dem Revisionismus sogar eine gewisse kultivierende Wirkung zuerkannt.
Demzufolge kann die russische Seele unter den letzten 70 Jahren nicht allzusehr gelitten haben, und es wird sich ja heute nicht sehr heftig auf sie berufen. (Drüben fungiert das völkische (anti-internationalistische) Argument eher als Fußnote zur Konkurrenz zwischen Russen und Russen um Rußland als den dicksten Brocken im Vielvölkerstaat.)
Was also an der russischen Seele blamieren? Eher wäre die umgekehrte Frage angebracht, ob ihr nicht jetzt Gewalt angetan wird, indem sie rücksichtslos aus ihrem angestammten polizeistaatlichen Biotop herausgerissen und zu Eigeninitiative und demokratischer Verantwortlichkeit verdonnert wird. Aber ist das lustig, wo doch - "Ein Herz für Rußland" hin oder her - ziemlich klar ist, daß die Russen sich werden ändern müssen? Wenn gewünscht, werde ich das Material zusammenstellen; vielleicht fällt jemandem was dazu ein."
(Antwortschreiben unseres Experten für Ethnologie und politische Kultur der Sowjetvölker auf eine Artikelbestellumg der MSZ-Redaktion)