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Dieser Artikel ist in der MSZ 2-1990 erschienen.
Die Wahlen vom 18. März
ANSCHLUSS PER VOLKSENTSCHEID
Bei den ersten "wirklich freien" Wahlen auf dem Gebiet der DDR seit 58 Jahren (am 6. November 1932 wurde die NSDAP mit dem Motto "Deutschland erwache!" stärkste Partei) entschied sich das Stimmvolk mit nahezu absoluter Mehrheit zugunsten der "Allianz für Deutschland". Wenn man deutschen Menschen ihre Freiheit gibt, daran konnten offensichthch weder 12 Jahre Faschismus noch 40 Jahre "Realer Sozialismus" was ändern, entscheiden sie sich für Deutschland.
Ein Votum für freiwillige Staatsauflösung
Frei, gleich, geheim und direkt sind die Volkskammerwahlen zweifellos gewesen. Das bestätigen einerseits die "internationalen Beobachter", andererseits die Zufriedenheit aller Interessenten in der BRD, die übereinstimmend als das Ergebnis festhalten, daß das souveräne ostdeutsche Volk der "SED-Nachfolgeorganisation" PDS eine Abfuhr erteilt und mit seinem Votum die Weichen für den Anschluß der DDR an die BRD gestellt hat. Es fand also ein demokratischer Wahlprozeß statt, und das von ihm verlangte Resultat, daß nämlich Menschen freiwillig Politiker mit der Exekutierung von vorab und unabhängig von ihren Interessen, Wünschen und Vorstellungen feststehenden Aufgaben staatlicher Gewaltausübung vertrauensvoll beauftragen, kam dabei raus. Nach der Wahl wird dieses Vertrauen der Bürger in Repräsentanten von den Gewählten beansprucht, die sich nicht mehr vom Willen der Wähler bei ihren Taten abhängig machen müssen, sondern gerade durch den Akt der Wahl ermächtigt worden sind, ihre Version von Staatsräson und Allgemeinwohl durchzusetzen.
Damit ist aber auch die Differenz der demokratischen Wahlen vom 18. März und der Witz von Wahlen in einer Demokratie benannt: Die Staatsräson, zu deren Administration Sieger und Verlierer sich haben wählen lassen, sieht die Auflösung des DDR-Staatswesens als erste und letzte Aufgabe vor. Und das Allgemeinwohl, dem sich die neue Regierung der DDR und die Parlamentarier der Volkskammer verpflichten, bezieht sich nicht mehr auf ein Staatsvolk von 16 Mio. Bürgern der Deutschen Demokratischen Republik, sondern auf die Modalitäten ihrer Einbürgerung in ein neues Deutschland, dessen Herren in Bonn, also (noch) im Ausland sitzen.
Die neuen politischen Bevollmächtigten der DDR kennen nur ein Programm: die Eliminierung des Staatsgebildes, an dessen Spitze sie gerade gewählt worden sind. Normalerweise geht die Beseitigung eines Staates nur durch Krieg, mit dem durch äußere Gewalt ein Staat samt Volk einem anderen einverleibt wird; oder die Staatsgewalt wird durch eine Revolution, bei der das Staatsvolk der Führung die Gefolgschaft aufkündigt, weil es nicht mehr folgen will, gestürzt. Auch das geht nur mit Gewalt, weil keine einzige Konstitution irgendeines real existierenden Staates die Abschaffung der Herrschaft als erlaubten Zweck politischer Betätigung seiner Bürger kennt. Umgekehrt: Für solche Fälle gibt es in demokratischen Verfassungen Notstandsgesetze. Auf dem Boden der Deutschen Demokratischen Republik hat kein Krieg stattgefunden, aber auch keine Revolution. Ihre staatliche Souveränität ist durch die Bundesrepublik Deutschland erfolgreich zersetzt worden. Der Rechtsanspruch Bonns auf das komplette Staatsvolk der DDR, Grundlage der Fluchtwelle vom letzten Sommer, erlangte durch die Weigerung der Bündnisstaaten Ungarn und CSSR und vor allem der Sowjetunion, der DDR Rückhalt gegenüber den Souveränitätsansprüchen der BRD zu gewähren, eine solche Wucht, daß die Staatspartei SED selbst eine Kapitulation der DDR auf Raten ein- und bis zum 18. März angeleitet hat. Und das in der DDR verbliebene Volk, das angeblich irgendwann im Herbst 1989 "Geschichte gemacht" haben soll, hat sich mit der trostlosen Rolle des freien Wählers, der sein Herrschaftspersonal auswählt, zufrieden gegeben. Es hat also nicht im Traum daran gedacht, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, die nach dem Abgang des "Realen Sozialismus" eingerichtet werden, selbst in die Hand zu nehmen. Vertrauensvoll haben die Ex-Untertanen der SED, die 40 Jahre lang deren Variante von Staat und Ökonomie mitgemacht haben, ihr künftiges Geschick in die Hände von Parteien und Politikern gelegt, die ihnen nichts anderes versprechen, als den Import von Kapitalismus und demokratischer Herrschaft mitsamt dem dazugehörigen Führungspersonal. Das souveräne Volk wollte seine Auslieferung an die BRD, weil es sich davon was verspricht, und die am 18. März zur Wahl antretenden Parteien haben um seine Stimme mit Varianten bei den Modalitäten der Übergabe konkurriert. Gewählt worden sind Volksbeauftragte für die Einführung der BRD auf dem Boden der DDR. Das prägte den Wahlkampf und bestimmte sein Ergebnis.
Eine "Allianz" für die Übergabeverhandlungen...
Fragt sich allerdings, was das Stimmvolk in der DDR sich von seinem "historischen" Votum am 18. März versprochen hat. Seine legitimierten Interpreten sehen das in der Sache übereinstimmend so, daß der Materialismus in den Wahlkabinen die Kreuze gemalt haben soll. Bei der Bewertung dieses "Materialismus" trennen sich jedoch die Geister. Wie nach demokratischen Wahlen üblich, zwischen Gewinnern und Verlierern. Während für die Parteien der "Allianz" und ihre Paten von der CDU/CSU die 48,1% ein begeisterndes Zeugnis für die alles niederwalzende Attraktivität der Marktwirtschaft und der DM sind, in deren, Genuß die Zonis möglichst schnell und ohne Wenn und Aber kommen wollen, ergehen sich die abgeschlagenen Volkstribunen von SPD-Ost und SPD-West in kaum verhüllter Publikumsbeschimpfung: Hier hätte das Stimmvieh die erste Chance zur freien Willensbildung ziemlich niveaulos für die schnelle De-Mark genutzt und wäre auf Versprechungen des Kanzlers Kohl von wegen Wohlstand reingefallen.
Stimmen kann diese Stimmungsinterpretation nicht: Auf den Wahlzetteln für die DDR-Bürger konnte man alles das nicht ankreuzen. Wie bei Wahlen in der BRD auch, gab es da Parteien zur Auswahl, und damit wurden Politiker gewählt, die für das Kreuz vor ihrer Liste geworben haben und sonst nichts. Die Wähler der "Allianz für Deutschland" sind nicht einfach ihren materiellen Interessen gefolgt, sondern haben sich von ihrem politischen Verstand leiten lassen. Und der hat es in sich: Ihr Gang zur Wahlurne und ihr Votum für eine Partei verdankt sich einem höchst komplizierten Räsonnement, das von höchstem Idealismus in Sachen Politik kündet, und der muß so gegangen sein: Obwohl die CDU Herrn de Maizieres als "Blockpartei" die Herrschaft mitgetragen hat, die man jetzt zum Grund aller erfahrenen Unbill erklärt, möchte man ab sofort von ihr regiert werden, weil sie der verlängerte Arm einer gleichnamigen Partei in der BRD ist. Deren Kanzler hat den DDR-Bürgern die "Allianz" empfohlen; also kann man Kohl wählen, wenn man für de Maiziere, Eppelmann und Ebeling stimmt. Kohl wurde allerdings nicht mit der Gunst des Kreuzes bedacht, weil er irgendeinem DDR-Bürger eine einzige DM für den Fall eines passenden Wahlausgangs versprochen hätte: Es reichte den "Materialisten" drüben völlig, daß Kohl der Herr über die DM ist, um sich für eine Herrschaft von Kohls Gnaden zu entscheiden. Die DM wurde dem Wähler gezeigt, weder versprochen noch geschenkt. Der Kanzler hat bei seinen Bädern in der Menge zusammengerotteter DDR-Abstimmer solches auch gar nicht versprechen müssen. Sondern nur, daß die DDR "in etwa fünf Jahren ein blühendes Land sein wird". Und zwar deshalb, weil dann Verhältnisse eingerichtet sind, in denen alles der Vermehrung der DM unterworfen ist. Daraus ein Erblühen der persönlichen Perspektiven abzuleiten, das ist die ureigene Leistung demokratischer Willensbildung bei seinen Ostzonenfans. Die wird weder durch rationale Einsichten in Funktionieren und Leistungen der Marktwirtschaft erhärtet, noch durch die simple Anschauung ihrer Leistung und ihrer Funktionen in der BRD belegt. Deren Kapitalismus ist zur Zeit in Vollblüte, was rein gar nichts heißt für die ganz normale Armut derer, die von Lohnarbeit leben dürfen, weil und solange das Kapital einen Nutzen aus ihrer Anwendung zieht. In Wahrheit handeln sich die DDR-Bürger mit ihrer heißen Sehnsucht, von der Ostzone in die DM-Währungszone überzuwechseln, eine neue Existenzbedingung ein, den harten Zwang zum Verdienen echten Geldes, und dazu haben sie die passenden politischen Charaktermasken mit ihrem Vertrauen ausgestattet.
...mit sozialem Gewissen...
Darauf, daß dieses Vertrauen enttäuscht wird, setzt die SPD und befindet sich schon wieder voll im Wahlkampf. Während die vor Ort agierenden Figuren der Sozialdemokratie um Ibrahim Böhme noch die betretenen Mienen von Leuten in die Fernsehkameras hielten, die beim ersten Versuch in Sachen Wählereinseifen den kürzeren gezogen haben, gab Kanzlerkandidat Lafontaine in der Wahlnacht die Doppelstrategie für kommende Urnengänge in der DDR und die im Dezember fällige Bundestagswahl aus: Kohl sitze jetzt "in der Falle, weil er riesige Versprechungen gemacht hat und jetzt die geweckten Erwartungen erfüllen muß". Und zwar hüben und drüben: Den Zonis ein "Wirtschaftswunder" ohne allzugroße "soziale Härten" und für die bundesdeutsche Klientel ein Großdeutschland ohne Steuererhöhungen und Risse im "sozialen Netz". Einmal abgesehen davon, daß die SPD-Wahlstrategen da einiges an interessierter Interpretation leisten, um aus den Großdeutschlandvisionen des Kanzlers lauter Versprechungen für Zonis bzw. Schadensvermeidungsgarantien für Bundesbürger zu machen, die sie dann "beim Wort" nehmen können, - was verspricht eigentlich die Sozialdemokratie? Verspricht sie, daß die "Wiedervereinigung" bei ihr nichts "kostet"? Nein, sie will bloß haargenau nachrechnen, was es "uns" kostet. Die SPD beteiligt sich also an der Legende, daß der Anschluß der DDR ein bundesdeutsches Hilfsprogramm sei, das unseren Staat und damit notwendigerweise die Bürger einiges kostet. Garantiert sie, daß gemachte Versprechungen eingehalten werden? Nein, sie will bloß darauf herumreiten können, daß Versprechen nicht eingehalten worden sind. Hat sie irgendeine Kritik am Inhalt Kohlscher Verheißungen? Mitnichten, dafür ist sie ja auch. Als Oppositionspartei verlangt sie vom Kanzler lediglich mehr "Ehrlichkeit". Bietet sie eine Alternative, die heißen würde: Wir wollen die Einheit, aber das kostet was!? Keineswegs: Sie verlangt bloß von Kohl, daß er zugeben soll, daß es nicht billig wird usw.
Selbstverständlich ziehen Latontaine und seine DDR-Jungsozis auch nicht den Schluß, dann solle man's halt bleiben lassen mit dem Anschluß, wenn er nichts als Probleme und Belastungen bringt. Den würden sie ja gerne selber machen, und ihr Problem ist nur, daß sie drüben erst mal vergeigt und hier noch lange nicht gewonnen haben. Schuld daran ist Helmut Kohl, der Lafontaine gegenüber den entscheidenden Vorteil hat, Kanzler zu sein, und zwar ein erfolgreicher. Das beweist die Wahl vom 18. März: Die Wähler haben mehrheitlich ihm ihr Vertrauen geschenkt, weil er ihnen glaubwürdig versichern konnte, daß die "Wiedervereinigung" kommt und daß das Gemosere der Opposition über Schwierigkeiten und Probleme in der Hauptsache dafür verantwortlich ist, wenn es überhaupt Probleme und Schwierigkeiten geben sollte. Den Vorwurf der nationalen Schädigung kontert die Opposition dadurch, daß sie sich entschlossen zum Anwalt der nationalen Anschlußsache macht und ihr drohendes Mißlingen bei einer CDU-Regierung an die Wand malt. Sie behauptet ununterbrochen, daß eine von CDU/CSU und "Allianz für Deutschland" "überhastet" und "dilletantisch" durchgezogene Angliederung lauter "Pannen" und "Härten", womöglich gar ein "Chaos" mit sich bringen wird. Darauf freut sich Lafontaine, wenn er sich auf "den nächsten Wahlkampf freut". Er steht mit diesem Rezept für die Stimmenkonkurrenz ganz auf den Schultern des großen demokratischen deutschen Politikers Franz Josef Strauß, der bekanntlich zu Sonthofen die goldene Oppositionsregel aufgestellt hat: Wenn man nicht selbst an der Regierung ist, dann muß man voll auf den Schaden setzen, den die unvermeidlichen Härten der großen Politik beim Fußvolk anrichten. Damit man dann als Alternative, die's besser macht, an die Macht gewählt wird und aufräumen darf. Der fähige Oppositionspolitiker schiebt also den Schaden, den die Politik den Leuten notwendig bereitet, auf die Unfähigkeit von Regierungspolitikern; ihnen macht er so die GLaubwürdigkeit für weitere Regierungsverantwortung beim Fußvolk abspenstig, um damit Stimmen für die eigene überragende Persönlichkeit zu sammeln, die es ja immer schon gesagt hat.
Daneben soll sich die SPD-Ost, schon in Vorbereitung auf die Kommunalwahlen am 6. Mai, als "soziales Gewissen" des Anschlusses profilieren. Das heißt nicht, daß sie im Ernst auch nur eine Konsequenz der Einführung des demokratischen Kapitalismus wirklich verhindern will. Sie strebt ja selber eine Regiervngskoalition mit der"Allianz" an, mit der sie keinen Dissens in irgendeiner Sache von Bedeutung hat: Die Reiberei an der DSU, mit deren Zurückweisung die SPD sich einerseits einen rechten Buhmann zur Imagepflege als "linke" Volkspartei verschaffen, andererseits den Preis für ihren Eintritt in eine Große Koalition unter de Maiziere in die Höhe treiben will, wird ja auch mal wieder rum sein. (So, wie die SPD-West nach jeder Menge Anti-Strauß-Grundsatzbeschlüssen mit ihm die Große Koalition aushandelte, weiland 1966.) In Wirklichkeit schwankt die DDR-SPD noch, wie sie Oskars brillante Analyse mittelfristiger Wählerbewegung in der DDR optimal auswertet. Stichwortgeber Lafontaine:
"Wer in der DDR die erste Wahl gewinnt, der muß sich sehr anstrengen, wenn er die zweite nicht verlieren will."
Von daher die holde Drangsal ostdeutscher Sozis, ob sie ihre Tour, alle möglichen Bedenklichkeiten bei der Übergabe an die BRD vorzutragen, womöglich in den Kaufvertrag als Klauseln noch einzubauen (siehe die schöne Debatte über Anschluß laut Art. 23 oder 146 GG zwischen Schäuble und Böhme-Stellvertreter Meckel im "Spiegel" 12/1990, bei der sich die "Kontrahenten" wechselseitig nur eins nachweisen wollen, daß nämlich beide Wege im Grunde genommen auf exakt das gleiche hinauslaufen!), besser als Volkskammeropposition oder als Mitglied einer großen Koalition in der Regierung verkaufen sollen.
...liberalen Mehrheitsbeschaffern...
Ihr Wahlziel auf jeden Fall erreicht, wenngleich mit einem Ergebnis, das sie in der BRD als "Zitterpartie" entlang der 5-Prozent-Klausel in erhebliche Existenzangst versetzt hätte haben die 3 Gruppierungen "Freier Demokraten", die Genscher und der Junker Lambsdorff für die Wahlen vom 18. März zusammengezimmert haben. Jetzt kritisieren sie ihre liberale Lobby drüben und sich selbst, daß sie nicht energisch genug dem DDR-Pöbel klargemacht haben, worin "liberale Politik" besteht, hüben und drüben: Man will mitregieren. Genscher "monierte" laut "Spiegel" die mangelnde politische Bildung des Zonenwählers:
"Den Leuten drüben mußte man erst erklären, daß wir das sind."
Man hätte gleich "rüberbringen" müssen, daß die Sachsen die erstmalige Gunst erwiesen, kriegen, in Gestalt einiger Alt- und Neuliberaler ein Votum für den Außenminister der Weltmacht BRD abliefern zu dürfen. Macht aber nicht viel, denn die FDP-Dependance in Ostberlin hat den liberalen Lebenszweck erreicht: Ohne sie gibt's keine "bürgerliche Mehrheit" in der Volkskammer, und damit ist sichergestellt, daß die christlich-liberale Regierung der BRD die Heimholung der DDR ins Freiheitsreich gewissermaßen mit sich selbst aushandeln kann.
...und einer "starken Opposition für die Schwachen"...
So einer der Aufkleber, die seitens der PDS in den Wahlkampf geworfen wurden, den sie - so hört man allenthalben - recht pfiffig, witzig, und einfallsreich geführt haben soll. Sie hat damit einen relativen Erfolg erzielt, mit dem sie ganz offensichtlich sturzzufrieden ist: Daß es jetzt eine starke Regierung gibt, ohne sie und für die "Starken", also die, die mit der kommenden DM ihre Geschäfte machen sollen, das geht für die gewendeten Realsozialisten offenbar in Ordnung, weil sie ganz selbstverständlich davon ausgehen, daß es in der DDR ab sofort eine bislang unübliche Scheidung des Volkes in "sozial Schwache" und "sozial Starke" geben muß, wobei denen laut PDS-Wahlkampflosung auch noch die Regierungsmacht überlassen wird, weil die Schwachen vor allem eine starke Opposition "brauchen" sollen.
"Wir sind eine Fraktion mit über 60 Mitgliedern. Damit kann man eine gute Opposition machen",
sagte Modrow in der Wahlnacht unter begeistertem Applaus seiner Anhänger auf der PDS-Wahlfete, wie wenn er damit einen erbitterten politischen Kampf versprochen hätte. Die Anhänger hatten anscheinend Grund zum Feiern, obwohl das Wahlergebnis endgültig die Entfernung ihrer Partei von aller Staatsmacht besiegelte und damit die Weichen für eine Hinaussäuberung von SED/PDS-Funktionären und Anhängern aus allen wichtigen Positionen in der Administration gestellt worden sind. Mit "pro DDR"-Wapperl hatten sie noch wahlgekämpft, die Parteigänger des "demokratischen Sozialismus". Und jetzt? Die DDR wird Teil der BRD. Soviel steht fest. Mit dem Anschluß wird mancher DDR-Bürger schlechte Erfahrungen machen. Auch das steht fest. Ebenso sicher ist, daß demnächst aus manchem DDR-Bürger ein "sozial Schwacher" wird und die Interessen der "Starken" gültig und rechtskräftig sind. Was ist da der Erfolg, den die Parteigenossen feiern?
Sie sind mit dabei! Die einst per Sozialismus das neue Deutschland aus Ruinen auferstehen lassen wollten, dürfen an verantwortlicher Stelle mitmachen, wenn jetzt Deutschland neu entsteht: Durch ihre Präsenz im Parlament der Demokratie ist auch schon ein Stück volksdemokratischer Identität hinübergerettet. Die Ex-SEDler haben bewiesen, daß der "Reale Sozialismus" in Form von parlamentarisch repräsentieren "Werten" und "Idealen" nicht bloß nicht totzukriegen ist, sondern auch noch über einen Anhang in der DDR verfügt, der weit über das Splitterparteiendasein hinausgeht, das ihre Feinde ihm für den Fall "wirklich freier" Wahlen prophezeit hatten. Die Hoffnungsträger der alten Staatspartei frohlockten in der Wahlnacht, wo ihr Staat endgültig verloren hatte, weil sie als Partei auch im neuen Staatswesen vertreten sind. Damit haben sie das Plansoll ihres Katastrophenparteitags im November erfüllt: "Die Partei als politische Kraft erhalten!"
Die Männer und Frauen um Gysi haben alles, was der SED 40 Jahre lang heilig war, für diesen Zweck über Bord geworfen: ihre Art von Demokratie, ihr Wirtschaftssystem, die soziale Fürsorge und die internationalistische Außenpolitik, ja sogar die Existenz einer Deutschen Demokratischen Republik selber. Und dennoch sind sie sich treu geblieben in dem, was auch "reale Sozialisten" im letzten treibt: "Verantwortung für unser Land" wollen sie auf jeden Fall und unter allen Umständen tragen wenn's mit Sozialismus nicht mehr geht, dann eben bei der Verwaltung von Anschluß und Kapitalismus, machtvoll von der Oppositionsbank aus.
Wirklich bloß Opposition gegen den per Wahl am 18. März vom Volk zu akklamierenden Anschluß hat die PDS schon seit Modrows Bekenntnis zur deutschen Einheit nicht mehr sein wollen. Ihr "pro DDR" im Wahlkampf sollte keinesfalls als Nein zur BRD-Übernahme verstanden werden: Die Parteigänger des "demokratischen Sozialismus" profilierten sich als die glaubwürdigste Plattform für alle Bedenken und Besorgnisse beim Wie des Anschlusses, während Modrow gleichzeitig als überparteilicher Staatsverwalter die Weichen für den Anschluß gestellt hat. Ihre Einsprüche sehen entsprechend aus. Einerseits verfährt die PDS ebenso methodisch wie die SPD, an die sich anzuwanzen sie auch nicht müde wird: Ihr schwebt keine Vereinigung über die Formalia des westdeutschen Grundgesetzes vor, sondern eine Art Staatsvertrag zwischen zwei gleichrangigen Souveränen ("Wir sind ein Volk. 1:1"). Ein feiner Unterschied, angesichts der auch von der PDS nirgends und nicht ernsthaft bestrittenen Perspektive solcher Verhandlungen von gleich zu gleich: einer Bundesrepublik (Groß-)Deutschland. Man will nicht den Bundestag allein über den Anschluß von DDR-Land und -Volk bestimmen lassen, sondem mit ihm zusammen die Übergabe paraphieren. Als ob mit dem Pochen auf die Würde eines selbständigen Vertragspartners irgend etwas an den Konditionen geändert würde. Das hat der PDS selbst bei Leuten Sympathie eingebracht, die der alten Staatspartei nichts zugute gehalten haben. Sie meinten, in der PDS einen Anwalt gegen einen Anschluß als "Sturzgeburt" gefunden zu haben.
Ihr "historisches Verdienst" hat sich die PDS bei der Verwandlung von SED-Mitgliedern in demokratische Oppositionswähler erworben. Sie bietet Leuten eine politische Heimat, die realistisch "Sozialist" sein wollen. In ihr und mit ihr als Bezugspunkt kann der sozialistische Staatsbürger von gestern sich auch jetzt noch sein sozialistisches Gemüt erhalten und mit bestem Gewissen als Staatsbürger im real existierenden Kapitalismus wirken. Kein Zufall, daß sich die PDS für so ein Angebot Nachfrage auch über den bislang von ihr betreuten Teil des kommenden Deutschland hinaus verspricht.
"Wir" waren "das Volk"
klagen nach dem 18. März die Bürgerinitiativen, von denen die Demonstrationen des vorjährigen Herbstes initiiert und organisiert worden sind. Das Volk als Wähler hat sie jetzt in die Welt unter 3% verdammt und will - so die eigene Deutung, gleichlautend mit den heuchlerisch-bedauernden Nachrufen der gewählten Politiker und der kommentierenden Journaille - nichts mehr von ihnen wissen. Auch das eine nostalgische Lüge, die von der Legende lebt, im Oktober 1989 habe das Volk in der DDR eine "Revolution" gemacht, die jetzt ihre Kinder zwar nicht gleich auffresse, aber mit Liebesentzug strafe.
Der trifft einen melodramatischen Chrakter wie Bärbel Bohley ungleich härter als einen Politprofi namens Otto Schily. Jene sieht ihr Lebenswerk im Arsch, während Schily bloß sauer darüber ist, daß der DDR-Vulgus, den er bis vor kurzem noch als aus tiefster Seele sozialdemokratisch orientiertes "Subjekt der Geschichte" gepriesen hat, jetzt doch nicht den Affen für die SPD-Filiale in der DDR gemacht hat. Deshalb hielt er in der Wahlnacht fürs Fernsehen eine Banane hoch, um die von seinem Parteiinteresse abweichende Meinung, die in den ersten Hochrechnungen sich abzeichnete, als Bauchabstimmung des Pöbels zu denunzieren. Für die im "Bündnis 90" zusammengeschlossenen "Basisdemokraten" ist die Sache komplizierter: Sie haben nicht bloß mal eine Wahl verloren, sondern müssen sich endgültig von der Illusion verabschieden, die von ihnen vertretene Basisdemokratie sei das historische Subjekt einer Entwicklung in der DDR zu einer "neuen Gesellschaft" zwischen "stalinistischem Sozialismus" und kapitalistischer "Ellenbogengesellschaft. " Bei den Wahlen haben sie es schwarz auf weiß bestätigt bekommen, daß die zeitweise vorhandene Verbindung ihrer Bewegung mit den Massen rein negativ gestiftet wurde: durch die begriffslose Ablehnung der SED und ihres "Realen Sozialismus". Die Dissidentengruppen unterlagen schlicht einer optischen Täuschung, als sie letzten Herbst meinten, sie seien die Speerspitze einer Volksbewegung, bloß weil sie Demonstrationen und Kundgebungen organisiert hatten, auf denen Teile des Volks aufkreuzten, die je ungefährlicher es wurde, um so zahlreicher und lautstärker ihrem Unmut gegen "die Bonzen" Luft machten.
Mit den Transparenten, die in den Anfängen der Demonstrationsbewegung von den Initiativen getragen wurden, und den Reden der Wortführer des "Neuen Forvms" von "selbstbestimmter" Politik, einem "eigenen Weg" der DDR konnten zunächst einmal diejenigen DDR-Bürger nichts anfangen, die trotz des "demokratischen Aufbruchs" nicht "Wir bleiben hier!" skandierten, sondern nach Westen abhauten. Die, die dablieben, gingen bald schon mehrheitlich mit schwarzrotgoldenen Fahnen auf die Leipziger Montagskundgebung und drängten die Bewegung an den Rand, die schließlich größtenteils der von ihr selbst initiierten Manifestation des Volkswillens fernblieb. Ihr emphatisches Ideal vom Volk als der "Basis", an der sich das Gute, Wahre und Schöne gegen die große Politik aufbewahrt, weswegen sie "autonom" bleiben muß, hatte sich schon bald vom real existierenden Volk entfernt. Dem folgten die "Realpolitiker" aus der Bürgerinitiativszene und boten ihm, was ankam: Politische Parteien mit BRD-Paten und Anschlußperspektiven im Programm.
Während der "Demokratische Aufbruch" die "Allianz für Deutschland" schloß, diskutierten die Basisidealisten des "Neuen Forums", ob man überhaupt Partei werden sollte. Das Ergebnis war der Kompromiß, der am "Runden Tisch" den noch regierenden Blockparteien abgehandelt wurde, daß man sich als "Bürgerbewegung" an den Wahlen beteiligen durfte. Ebenfalls am "Runden Tisch", aber schon ohne praktische Konsequenz, erreichten - die Bürgergruppen eine Empfehlung, Wahlkampfhilfe aus der BRD nicht zuzulassen. Ein letztes Aufbäumen der Basisdemokratie gegen die "Fremdbestimmung" der DDR von außen. Und in klarem Widerspruch gegen die politische Willensbildung einer überwältigenden Mehrheit im Volk, die gerade Kohl, Vogel und Genscher "zum Anfassen" wollte, weil nicht Basisdemokratie gefragt war, sondern die BRD-Demokratie und ihre Marktwirtschaft.
Mit den Wahlen fand auch dieses andere Betätigungsfeld der basisdemokratischen Bewegung ihr perspektivisches Ende: die Beteiligung an der Regierung. Daß ausgerechnet Vertreter des Ideals von der Politik als moralischer Erneuerung in das Regierungsgremium einer nationalen Verantwortung aufgenommen wurden, verdankte sich dem Interesse der SED/PDS, ihrer politischen Wende für jeden sichtbar Glaubwürdigkeit und Bürgernähe zu verleihen. Mehr war sie aber auch nicht, die Beteiligung der Basisdemokratie an der Macht. Und mit der Wahl hat das Volk dokumentiert, daß es solche seltsamen Politiker gar nicht will.
Nach den Wahlen erwies sich die "Basis" dann als unbeirrbar demokratisch und gratulierte. dem Volk dazu, daß es seinem Willen Ausdruck verliehen hat:
"Das waren die ersten freien Wahlen in der DDR. Darauf bin ich zuerst einmal stolz." (Jens Reich)
So kann man auch die "große Enttäuschung" und die "tiefe Sorge" darüber ausdrücken, daß die "Menschen in der DDR" nach 40 Jahren "politischer Unmündigkeit" unter der SED sich jetzt ihrer Freiheit nicht "würdiger" zu bedienen wissen, als mit einem "Votum für das große Geld".
Die Stunde des Demonstrierens ist endgültig Geschichte. Jetzt geht's ums Politikmachen. Und zwar nicht um irgendeine. Deswegen setzte der Wähler in der DDR auf die Profis der Politik mit der stärksten Verankerung in den Parteien der BRD. Die Basisdemokraten machen sich jetzt damit gegenseitig Mut, daß man wieder ganz am Anfang stünde und "wie vorher" und "an der Basis" neu aufbauen muß. Sie machen sich allerdings auch hier noch Illusionen, wenn sie meinen, sie könnten da neu beginnen, wo letztes Jahr "alles angefangen" hat. Ihre Lage hat sich nämlich gründlich geändert: Damals waren sie die einzige Opposition gegen die SED-Regierung und genossen so die Beachtung, Wertschätzung und Förderung aus der BRD. Jetzt dagegen geraten sie in die Position von Dissidenten gegen den reibungslosen Anschluß und kriegen daher tendenziell den gleichen Stellenwert zugewiesen, der in der Demokratie radikalen Minderheiten vorbehalten ist. Sie stören die Parteienlandschaft und werden allenfalls der Beachtung des Verfassungsschutzes für würdig befunden. In einer eingerichteten Demokratie ist nämlich der ewige Ruf nach mehr Freiheit und Selbstbestimmung fehl am Platz.