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DIE NEUE GENERALLINIE
Die beabsichtigten Erfolge der Perestrojka stellen sich nicht ein. Ihr Erfolg fällt ganz anders aus: Sie greift die Substanz des Staates an - seine ökonomischen Grundlagen, die Staatsautorität in Gestalt der Partei, die Staatseinheit in Gestalt des Unionszusammenhangs und sogar die Geschlossenheit und Tauglichkeit der Armee. Und das notwendigerweise. So inhaltsleer und formell die Kritik der politischen Neuerer nämlich angelegt ist, mit der sie den politischen Verhältnissen auf die Sprünge helfen wollen, gerade darin hat sie einen radikalen Inhalt: Sie stellt praktisch alle bisher gültigen Staatsverhältnisse infrage, ohne taugliche neue an ihre Stelle zu setzen. Statt den ökonomischen Ertrag zu mehren, ruiniert die Wirtschaftsreform die Reichtumsquellen, statt den Staat zu konsolidieren, untergräbt die politische Umgestaltung seine Ordnung und mündet folgerichtig in lauter Notstandsfragen. Die Anwälte der Umgestaltung haben deshalb allenthalben mit den unbeabsichtigt destruktiven Folgen der Perestrojka und der von ihnen selber ins Werk gesetzten Staatskrise zu kämpfen.
Seit das gedachte Aufbruchprogramm für eine bessere Zukunft mehr und mehr den Charakter eines Krisenbewältigungsunternehmens angenommen hat, ist seine andere, verpflichtende Seite in den Vordergrund getreten. Aus dem politischen Versprechen, mit mehr Freiheit und allseitigem Einsatz einen alle zufriedenstellenden Fortschritt auf die Beine zu stellen, ist zunehmend der Anspruch geworden, daß jedermann sich für den Fortbestand der Perestrojka stark zu machen hätte, unabhängig davon, ob sie ihn zufriedenstellt.
Erstens haben die selbstgeschaffenen Probleme und notwendigen Enttäuschungen den Standpunkt befördert, daß es bei allen Umbauanstrengungen vor allem anderen um eine bessere, d.h. staatsdienlichere Ordnung zu gehen hat. Die öffentlich vorgebrachten und gewürdigten Versprechungen, Einwände und Erwartungen richten sich inzwischen weniger auf die ursprünglich projektierten materiellen Errungenschaften als auf die Bewahrung und (Wieder-)Herstellung eines funktionierenden Staatslebens. Um dessen Zustand soll sich jeder im Verein mit der Staatsführung Sorgen machen. Die Macher der Perestrojka beharren zweitens darauf, daß alle staatsschädlichen Folgen des Umbauprogramms nicht auf das Konto der Perestrojka gehen, sondern für sie sprechen. Die Frage, wer schuld ist am beklagten Zustand, wird auf bewährte Art beantwortet: Es sind die Sünden der Vergangenheit, der "Stagnationsperiode", die der Perestrojka das Leben schwer machen und nur durch noch mehr Perestrojka zu bewältigen sind. Der offizielle Standpunkt, daß die beklagten Zustände, die mit der Perestrojka eingerissen sind, nur immer neue Indizien für die Schwere der krisenhaften Erblast und damit für die Notwendigkeit eines noch radikaleren Umbaus sind, will also von einer Kritik am neuen Kurs nichts wissen. Statt dessen ist er der Auftakt dazu, das eingerissene Durcheinander, die aufgebrochenen Gegensätze, die zunehmende Unzufriedenheit und sich verschärfenden Klagen als eine einzige Belastung und Gefahr für die Perestrojka zu behandeln, der man nur durch mehr Einsatz eines jeden für die Perestrojka begegnen könne.
Dafür werben die Staatsmacher, indem sie die perestrojka-gebeutelte Bevölkerung immerzu mit dem Dilemma vertraut machen, in dem sie sich - als Politiker, die sich der Stabilität des Staates verpflichtet wissen - sehen: daß die öffentliche Ordnung und das Wirtschaftsleben aus den Fugen geraten, daß sie aber partout nicht in den vorgeblichen Fehler des alten Systems verfallen und alles nur mit Gewalt regelr wollen. Diejenigen, die immerzu mit den Freiheiten prahlen, die sie dem Volk beschert haben, beklagen einerseits, daß im Gefolge des Umbaus entscheidende Elemente der alten Ordnung verlorengegangen sind, für die nichts anderes spricht, als daß sie für die Erhaltung der staatlichen Ordnung irgendwie ganz brauchbar waren:
"Ryschkow beklagte eine 'Entideologisierung der Gesellschaft' durch die Nachlässigkeit der zuständigen ZK-Sekretäre... Der 'Mangel an Richtlinien'aus der Parteizentrale führe zu einer Destabilisierung im Lande." (SZ, 22.7.89)
"Nachdem man das überkommene administrative Kommandosystem verurteilt hat, stellt sich heraus, daß der Sozialismus keine organisatorisch-sozialen Fundamente hat, auf denen man weiter aufbauen kann. Wie hatten wir das nicht sehen können." (Antonowitsch, Gesellschaftswissenschaftliche Parteiakademie, SZ, 6.2.)
Daß sie beim Einsatz der Gewalt taktieren, um den Nimbus der Perestrojka nicht zu zerstören, soll deswegen andererseits um so mehr für sie und gegen alle Kräfte sprechen, gegen die sie mit dem Einsatz der Staatsmacht kalkulieren. Solche "Kreise" machen nicht ihrer Unzufriedenheit Luft, sondern bekämpfen mutwillig und in böser Absicht die Perestrojka, indem sie Unordnung stiften, um die Reformer zu einer "Politik der harten Hand" zu provozieren und damit von ihrem Demokratie-Kurs abzubringen:
"Rechtsgerichtete Kräfte, die zusammen mit ultralinken Radikalen viele destabilisierende Prozesse hochschaukeln, bringen derzeit immer absichtsvoller die Gesellschaft zu dem Gedanken, daß sie eine harte Hand brauche, die eine eiserne Ordnung einzuführen vermag. Ein Teil der Gesellschaft beginnt, die Demokratie dafür verantwortlich zu machen, daß die Kriminalität auf alltagswirtschaftlicher und zwischennationaLer Grundlage wächst." (Iswestija, SZ, 25.1.)
Gemäß derselben Logik macht Gorbatschow für die Krise die "Schattenwirtschaft" im Verein mit "Chauvinisten" verantwortiich, die unpopuläre Ordnungsmaßnahmen provozieren und damit die Perestrojka kippen wollten. Als ob ausgerechnet diese beiden Parteien an einer "Politik der harten Hand" interessiert sein könnten. Der Anspruch, die freigesetzten Interessen hätten sich auch automatisch staatsnützlich zu betätigen, macht die Vertreter der Perestrojka offensichtlich nicht nur weitgehend immun gegen die Schäden, die sie anrichten. Er macht die Propagandisten des Rechts auf Kritik auch einigermaßen rücksichtslos in der Zurückweisung unliebsamer Beschwerden und Umtriebe: Die bringen den Umbau nicht voran, sondern stellen seine Propagandisten vor die Gewaltfrage und schaden damit der Sache, um die es allen gemeinsam zu gehen hat.
Gorbatschow selber bewährt sich als Meister in der billigen Technik, mit radikaler "Ehrlichkeit" der wachsenden Unzufriedenheit den Wind aus den Segeln zu nehmen und die Kritiker selber an den Pranger zu stellen. Erstens bekennt er sich freimütig dazu, dem erwartungsvollen Volk kein Programm seiner Besserstellung beschert zu haben, sondern ein staatliches Experimentierwesen, dem seine ruinösen Folgen nicht vor-, sondern zugutezuhalten sind weil es dem Volk Bevormundung erspart:
"Einige Leute versuchen uns vorzuwerfen, daß wir keinen klaren detaillierten Plan zur Verwirklichung des Konzeptes der Perstrojka haben. Es wäre jedoch ein theroetischer Fehler und ein Charakterzug des Stalinismus gewesen, der Gesellschaft fertige Pläne aufzuzwingen. Wir handeln nach Lenins Prinzipien. Das bedeutet, das Wachstum der Zukunft aus der heutigen Realität zu studieren und unsere Pläne entsprechend zu entwerfen. " (SZ, 27.11.89)
Zweitens gibt er offenherzig immerzu denselben "Fehler" zu, das Notwendige nicht richtig gemacht zu haben, um dann mit dem schlagenden Argument, seine Kritiker seien Schädlinge an der nationalen Sache, blindes Vertrauen in sein Staatsprogramm einzufordern. Je handgreiflicher die Schäden, umso mehr ist nämlich jedermann zum Optimismus verpflichtet, der tätigen Einsatz garantiert.
"Dennoch haben wir Fehler beim Ergreifen erforderlicher Maßnahmen geduldet, uns damit verspätet und nicht die Synchronisation der Prozesse, vor allem bei der Wirtschaftsreform gesichert... Das bedeutet aber nicht, wir müßten in Panik geraten und schreien: 'Helft uns!' Der eine sagt: 'Ein prosperierender Staat ist zugrunde gerichtet worden', ein anderer etwas ähnliches. Freilich versichern sie danach, sie seien für die Perestrojka, seinen keineswegs Panikmacher. Sie sind es aber! Denn das sind defätistische Stimmungen. " (ZK-Plenum 7.2.)
Da läßt sich der Staatsführer von falschen Anwälten der Perestrojka nichts vormachen: Die wichtigste Aufgabe der Politik ist nicht, der Unzufriedenheit auf den Grund zu gehen, sondern den schwindenden Glauben an die Perstrojka zu sichern. Deshalb beweist Gorbatschow in seinen Reden mit ausführlichen Schilderungen, wie schlimm die Lage ist, daß der groffe Führer alles weiff und im Griff hat, und beschwört sein Volk, nur ja nicht in Panik, d.h. den Panikmachern zu verfallen.
Es ist unübersehbar, daß das russen- und menschheitsbeglückende Projekt alle Züge eines neuen Dogmatismus trägt, einer politischen Linie, die auf fraglose Gültigkeit dringt; die für das Ausbleiben der versprochenen Segnungen politische Bösewichter, Verschwörer und sonstige Schuldige verantwortlich macht; die Zustimmung einfordert und Kritikern vorwirft, Unzufriedenheit zu schüren, statt zu beseitigen und für die richtige Staatsmoral zu sorgen. Perestrojka, das ist also nicht bloff eine politische Methode, kein Mittel zum Zweck, dessen guten Grund, nämlich frtrag, jedermann erfahren und prüfen kann und soll, sondern die gültige Staatsdoktrin, an der jedes Interesse und jeder Einwand sich zu messen hat und der Zustimmung gebührt, mögen die Erwartungen, die durch die radikale Abkehr vom "Alten" erfüllt werden sollten, auch noch so sehr enttäuscht werden. Je mehr die Perestrojka unliebsame Wirkung zeigt, um so mehr wird dem Volk ihre Rettung zur Pflicht gemacht. Längst heißt es nicht mehr, daß es die Perestrojka braucht, damit alles besser wird; jetzt gilt die Umkehrung, daß alles endlich besser werden muß, jedermanns Einsatz verlangt ist, damit die Perestrojka gerettet wird. Das ist das neue Krisenbewußtsein.
Wie der Einsatz auszusehen hat, und ob ihn die in seinem Namen angetretene Führung richtig organisiert, darüber streiten sich die Verantwortlichen - so inhaltsleer, wie es zur neuen Staatsräson paßt; so moralisch und verlogen, wie es sich für einen ideologischen Kampf gehört, bei dem alle der Perstrojka gegen ihre falschen Vertreter und verkappten Feinde zum Erfolg verhelfen wollen, sprich: im Namen desselben Ideals ihre gegensätzlichen politischen Interessen anmelden; so erbittert, wie es der konstatierte politische Notstand und die jeweilige Parteinahme für endlich neu geordnete Staatsverhältnisse verlangen; und so erfolgreich, wie es der starke Mann Gorbatschow und das politische Kräfteverhältnis erlaubt. Ganz wie in früheren Zeiten - bloß in aller Öffentlichkeit; mit bekannten Folgen für Auf- und Abstieg konkurrierender Figuren - bloß nicht mehr ausschließlich entschieden durch die oberste Parteispitze, sondern daneben durch erfolgreiche Fraktionsbildung in der Partei und Wahlerfolge.
Daß die Perestrojka wie alle Auf- und Umbrüche im realen Sozialismus im ideologischen Kampf um das rechte Verständnis und um die staatsfördernde oder schädigende Qualität der Gorbatschowschen Generallinie endet, ist gar kein Wunder. Es beweist, daß die Sowjetunion keine vor allem Parteienstreit feststehende und allen politischen Entscheidungen zugrundeliegende Staatsraison und keinen unverrückbar guten materiellen Grund für ihre Weltmacht besitzt. Die politischen Gemeinwesen des Westens gründen sich auf die Erfordernisse der bürgerlichen Gesellschaft, des Privateigentums und der Geldvermehrung: Mit dem Erfolg des Kapitals steht und fällt der Nationalreichtum und damit die Basis der öffentlichen Gewalt. Die Förderung des Wirtschaftswachstums, die Verwaltung einer brauchbaren Arbeiterklasse, der Staatszusammenhalt nach innen und die Ausdehnung des Einflusses nach außen entspringen nicht ideologischen, sondern handfesten Bedürfnissen. Die stehen daher auch nicht zur Debatte, sondern, wenn durch innere oder äußere Feinde gefährdet, steht ihre wehrhafte Verteidigung an und sonst nichts. Ideologische Streitigkeiten bestimmen nicht die Entscheidungen der Politik - deren Sachnotwendigkeiten stehen für jedermann fest -, sondern sind Beiwerk und dienen der nachträglichen Legitimierung bzw. parteilichen Selbstdarstellung für das demokratische Publikum. Im realen Sozialismus ist das anders. Die politischen Absichten und Ideologien seiner Macher bestimmen den politischen Kurs, weil den politischen Entscheidungen kein getrennt von ihnen gültiges ökonomisches Interesse vorausgesetzt ist, sondern das Ideal einer gerechten und dadurch dem Kapitalismus überlegenen Staatsreichtumsproduktion den guten Grund und die Leitlinie der Gewaltausübung liefert. Ein solcher Staat, der sich aus dem Interesse seiner Macher konstituiert, das bessere, weil volksdienlichere Gemeinwesen zu organisieren, läßt sich auch durch die Selbstkritik seiner Macher und durch neue Erfolgsideologien reformieren - und praktisch i n Frage stellen. Wie weit, ist die Frage!