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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1990 erschienen.

Systematik

Truppenabbau in Europa
STATIONEN UND DOKUMENTE EINER DAS MILITÄRISCHE KRÄFTEVERHÄLTNIS IN EUROPA UMWÄLZENDEN RÜSTUNGSDIPLOMATIE

Alle "Abrüstungs- und Rüstungskontrollverhandlungen" zwischen den USA und der Sowjetunion, die zu einem vertraglichen Ergebnis geführt haben, bedeuten keine nennenswerte Veränderung des militärischen Kräfteverhältnisses zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt. Weder der beiderseitige Verzicht auf Raketenabwehrsysteme in SALT I, noch die Begrenzung der Interkontinentalraketen mit ihren atomaren Sprengköpfen in SALT II, noch die im INF-Abkommen vereinbarte Verschrottung aller Mittelstreckenraketen in Europa haben eine der beiden feindlichen Seiten eine verhältnismäßig größere militärische Potenz verschafft. Das Ideal der Rüstungsdiplomatie, per Verhandlungen zu einer Schwächung der Militärmacht des Gegners bzw. zu einer Minderung der feindlichen Bedrohung zu gelangen, wurde logischerweise auch nur ein Stück weit erreicht. Die Ziele der verhandelnden Feinde - die USA verfolgten die Strategie: Rüsten und Verhandeln; die Russen ihr Programm: Rüsten, damit Entspannung und Abrüsten erzwungen werden kann - ließen etwas anderes auch gar nicht zu.

Anders verhält es sich bei der Rüstungsdiplomatie, die sich mit der Abrüstung der Streitkräfte konventioneller Art in Europa befaßt. Da stehen derzeit Abkommen in Aussicht, die das militärische Kräfteverhältnis zwischen den Blöcken in Europa entscheidend verändern.

Verhandlungen über ausgewogene Truppenreduzierungen in Mitteleuropa (MBFR)

Sowjetischen Vorschlägen, eine europäische kollektive Sicherheit zu schaffen durch beidseitigen Truppenabbau, kam Ende der 60er Jahre die NATO insofern entgegen, als sie sich bereit erklärte, in Verhandlungen über einen ausgewogenen Truppenabbau in Europa einzutreten. Das Ergebnis war, daß die 1973 begonnenen MBFR-Verhandlungen 14 Jahre stattfanden und Wien über 40 Verhandlungsrunden erlebte. Sonst nichts! Die gegensätzlichen Interessen ließen keine Einigung über einen substantiellen Truppenabbau zu. Dem sowjetischen Interesse, die Truppenkonzentrationen der NATO in Westeuropa zu mindern, stand das der NATO gegenüber, die aus ihrer Sicht ungerechte konventionelle militärische Überlegenheit der Sowjetunion in Europa zu brechen. So kam bei dieser Dauerbeschäftigung von Rüstungsdiplomaten nichts zustande.

Schon der geographische Raum, über den in Sachen Truppenabbau verhandelt wurde, war ein Produkt der unvereinbaren gegensätzlichen Interessen und belegt selbst, warum die Verhandlungen fruchtlos blieben.

Der für den Truppenabbau festgelegte Reduzierungsraum in Zentraleuropa war für beide Seiten so etwas wie das Aussparen des eigentlichen Problems aus den Verhandlungen. Für die Sowjetunion mußte es grundsätzlich unbefriedigend sein, daß der größte Teil der europäischen NATO, Island, Norwegen, Großbritannien, Dänemark, Portugal, Italien, später auch Spanien, vor allem aber Frankreich, gar nicht Gegenstand der Verhandlungen über einen Truppenabbau waren. Für die NATO ließ der ausgemachte Verhandlungsraum im Zentrum Europas den geostrategischen Vorteil der Sowjetunion, ihre Truppenstärken im Aufmarschgebiet vom Ural bis zur Curzon-Linie, unangetastet und damit die vom Westen als die eigentliche Bedrohung definierte konventionelle Übermacht von vornherein bestehen.

So dümpelten die Wiener Verhandlungen dahin. Allesamt sollten sie unter Datenstreitigkeiten, unwahren Informationen und dem Unwissen darüber, wo die beweglichen Truppen jeweils stehen, gelitten haben.

Zum Beispiel die 31. Runde 1982:

"Die Wiener Gespräche haben einen kritischen Punkt erreicht. Nach zehn Verhandlungsjahren, in denen Fortschritte in einer Anzahl von Fragen erzielt worden sind, liegen jetzt von beiden Seiten Abkommensentwürfe auf dem Tisch ... Die vom Osten und Westen vorgelegten Abkommensentwürfe sehen beide ein Endergebnis vor, bei dem beide Seiten je insgesamt 900.000 Mann Land- und Luftstreitkräftepotential in Europa haben würden. ... Bedauerlicherweise stimmen Ost und West nicht darin überein, wieviel östliche Streitkräfte sich gegenwärtig in Mitteleuropa befinden." (Presseerklärung der westlichen Teilnehmer)

Zum Beispiel die 43. Runde 1987:

"Anstelle der Suche nach einem leichten 'Ausweg' aus diesen Verhandlungen sollten wir weiterhin versuchen, grundsätzliche Probleme zu lösen. Im Vordergrund stehen dabei die östliche Streitkräfteüberlegenheit, die militärische Gesamtposition des Ostens, das Erfordernis wirksamer Verifikation sowie die geographische Asymetrie." (Presseerklärung des westlichen Sprechers)

Zum Beispiel die 46. Runde 1988:

"Die Nordatlantische Allianz bleibt besorgt über die Fähigkeit des Warschauer Pakts zum Überraschungsangriff und zu raumgreifenden Offensiven auf Grund der starken Konzentration vorwärts dislozierter sowjetischer Streitkräfte.

Östliche Sprecher haben argumentiert, daß das zahlenmäßige Ungleichgewicht ausgeglichen werde durch westliche technologische Vorteile. Allerdings hat jedoch der Warschauer Pakt während der Dauer dieser Verhandlungen in zunehmenden Maße moderne Technologie für seine Streitkräfte eingesetzt. Der Westen kann somit nur die vom Osten immer wieder aufgestellte Behauptung eines bereits bestehenden ungefähren militärischen Gleichgewichts zwischen den Bündnissen zurückweisen und die Notwendigkeit unterstreichen, das bestehende Ungleichgewicht zu beseitigen." (Presseerklärung des westlichen Sprechers)

Verhandlungen über konventionelle Stabilität in Europa (VKSE)

Moskaus Bereitschaft, seine militärische Position in Europa neu zu definieren, brachte Leben in die rüstungsdiplomatische Wiener Bude. Gorbatschow begann, die bisherige sowjetische Militärstrategie für Europa als Hindernis einer erfolgversprechenden Außenpolitik anzusehen. Er kündigte einseitige Truppenreduzierungen auf dem Gebiet der Länder Osteuropas und in der Sowjetunion bis zum Ural an und erklärte die Bereitschaft, sich an der ewigen Kritik der NATO an der russischen Überlegenheit in Europa anzunehmen und dementsprechend zu handeln.

"Nachdem die Sowjetunion einseitige Streitkräftereduzierungen und die Bereitschaft zu einem asymetrischen Abbau der östlichen Überlegenheit in Europa erklärt hatte, war eine Erfolgsperspektive geöffnet, die der früheren Verhandlung in Wien über Truppenabbau in Mitteleuropa von 1973 bis 1988 versagt geblieben war. Auch die in Moskau vor Verhandlungsbeginn veröffentlichten amtlichen Zahlenangaben über Land- und Luftstreitkräfte des Warschauer Pakts westlich von Ural und Kaukasus erleichtern die Verhandlung, weil sie zum ersten Mal die östliche Überlegenheit wirklichkeitsnah widerspiegeln, obwohl noch Differenzen zwischen östlichen Angaben und westlichen Annahmen bestehen und die Definitionskriterien, also die Zählgrößen beider Seiten, noch nicht bei allen Waffensystemen übereinstimmen.

So liegen die östlichen Zahlen für Kampfpanzer bzw. 'Panzer' um etwa 8000 für beide Bündnisse in Europa über den westlichen: 59.470 WP zu 30.690 NATO gegenüber 51.500 WP zu 22.000 NATO einschließlich des NATO-Depotbestands von 5.800. Als Konsequenz dieser Diskrepanz zwischen höheren östlichen und niedrigeren westlichen Zahlen müßte der Osten nach seiner Berechnung fast 40.000 Panzer außer Dienst stellen und zerstören, nach westlicher aber nur etwa 31.000, um auf die im Prinzip schon vereinbarte gemeinsame Obergrenze bei je 20.000 Panzern abzurüsten." (Lothar Rühl, 1989)

AUS MBFR wurde VKSE. Letztere Verhandlungen begannen 1989. Alle Staaten der NATO und des Warschauer Pakts, also insgesamt 23, sind beteiligt. Der entscheidende Fortschritt dieser Verhandlungen , besser: der Durchbruch der NATO bei diesen Verhandlungen, besteht darin, daß das Kerngebiet der Sowjetunion bis zum Ural in den zu verhandelnden Truppenabbau einbezogen ist. Die Sowjetunion hat den Vergleich ihres bis zum Ural stationierten konventionellen Truppenpotentials sowie ihrer konventionellen Waffen der europäischen NATO zugestanden, so daß dann auf Grundlage dieser Zählweise ausgewogene Truppenreduzierungen zustandekommen können und sollen.

Wie kompliziert die Einteilung und Aufteilung der unterschiedlichen Militärbezirke oder Zonen auch immer erscheinen mag, das Bahnbrechende ist der Reduzierungsraum: "vom Atlantik bis zum Ural". Selbst Frankreich mag da mitmachen, wo es darum geht, der Sowjetunion ihr militärisches "Gleichgewicht" in Europa abzuhandeln.

Rüstungsdiplomatie für Rückzugsdiplomatie

Folgende Tabelle stellt - aus der Sicht der NATO - die überzogene Bedrohung der gesamten östlichen konventionellen Streitmacht für das westliche Bündnis vor. Zahlen und Räume, in denen sie ihre Wirksamkeit entfalten können, sollen das ungerechte Ungleichgewicht der militärischen Konstellation in Europa belegen.

Offensive Strategie Bisheriges Bedrohungspotential

1,83 Mio. 2,5 Mio.

82 Div. 100 Div.

24.000 Pz. 30.000 Pz.

4.750 KFlgz. 2.700 KFlgz.

Tab.: Bisherige Stärke der WP-Streitkräfte im Vorfeld und in der Sowjetunion bis zum Ural

Inzwischen ist selbst für die Propaganda der NATO dieses Bild nicht mehr haltbar. Der von den Russen zugelassene, also auch gewollte, Zerfall des Warschauer Pakts, der militärische Rückzug der "russischen Besatzer" aus den Ländern Osteuropas hat eine Lage geschaffen, der die NATO-Strategen erst überrascht, dann ungläubig, schließlich begeistert gegenüberstehen. Sie nehmen den für einen Machtpolitiker unglaublichen Vorgang zur Kenntnis, daß die Sowjetunion mit der Zurücknahme ihrer militärischen Streit- und Bündnismacht in Europa auch ihren Willen, mit Gewalt zu streiten, wenn der Feind dazu zwingt, zurücknimmt. Sie stellen fest, daß der Feind im Osten tatsächlich politische Lösungen will.

"Verblüfft registrierten die ranghöchsten Militärs der NATO, die sich vorige Woche in Wien erstmals mit den Ost-Kameraden zum Meinungsaustausch trafen, die gewaltigen Veränderungen beim einst so gefürchteten Gegner:

- Bis zum Jahresende, so Moskaus Pläne, sollen einseitig mindestens 500.000 Soldaten, 10.000 Panzer und 8.500 Artilleriegeschütze außer Dienst gestellt sein. Der sowjetische Wehretat wird spürbar beschnitten, die Rüstungsproduktion geht erkennbar zurück. Ausgemusterte U-Boote wurden zum Verschrotten gar gen Westen verfrachtet.

- Ungarn und Bulgarien wollen über ein Drittel ihrer Streitkräfte heimschicken, die CSFR ein Viertel. Auch in Polen und der DDR ist der Truppenabbau bereits abgelaufen.

- Die Spitzenmilitärs der Pakt-Staaten, einst ergebene Vasallen Moskaus, vertreten neuerdings vorrangig nationale sicherheitspolitische Interessen. Mit dem verblassenden Feindbild schwindet in der Truppe jegliche Motivation.

- Budapest, Warschau und Prag fordern, möglichst bis Jahresende, den Abmarsch der insgesamt rund 180.000 Sowjetsoldaten aus ihren Ländern - über dreimal mehr, als der Kreml einseitig zurückziehen wollte.

- Die DDR setzt, wie Ungarn, die Wehrdienstzeit auf zwölf Monate herab und legt ganze Truppenteile still, weil Soldaten vorzeitig entlassen oder in die Produktion abkommandiert werden." (Der Spiegel 4/1990)

Zudem hat die Sowjetunion die von den USA verlangten Obergrenzen für amerikanische und sowjetische Soldaten in Mitteleuropa akzeptiert: Die USA dürfen in der Bundesrepublik, den Beneluxstaaten und Dänemark 195.000 Mann ihrer Truppen weiter stationieren. Dieselbe Zahl an Truppen ist die Sowjetunion nach dieser Vereinbarung berechtigt, in den Warschauer-Pakt-Staaten DDR, Polen, CSFR und Ungarn, wo bis vor kurzem noch 550.000 russische Soldaten standen, stationiert zu halten. Schon vor der diplomatischen Absegnung dieser Vereinbarung hat Moskau einen Teil der Abmachung erfüllt: Die russischen Truppen in Ungarn und der CSFR sind dabei abzuziehen. Den Vereinigten Staaten wurde darüber hinaus zugestanden - der absurden Begründung entsprechend, daß Amerika "einen Ozean entfernt" ist -, in Großbritannien, Griechenland und Spanien weitere Truppen bis zu einer Obergrenze von 30.000 Soldaten zu behalten. Die NATO behält ferner das Recht, auf dem Gebiet der Bundesrepublik knapp 160.000 Soldaten aus anderen NATO-Ländern zu stationiernen.

Bei dieser merkwürdigen Fortentwicklung der sowjetischen Militärpolitik kommt den laufenden VKSE-Runden ein nicht minder merkwürdiger Charakter zu:

1. Die militärischen Bedingungen sind schon vor einem Abkommen über Truppenabbau in Europa zugunsten der NATO verändert: Moskau reduziert seine Streitkräfte oder zieht sie aus den Ländern Osteuropas zurück.

2. Die militärische Substanz, der militärpolitische Zusammenhalt der Warschauer-Pakt-Staaten in Osteuropa nimmt rapide ab. Trotzdem wird die Fiktion eines noch funktionierenden Warschauer Pakts aufrechterhalten, mit dem in Wien verhandelt wird und mit dem Abkommen geschlossen werden sollen. Die NATO will so den Rückzug der Sowjetunion aus Europa und den Zerfall des östlichen Bündnisses vertraglich und mit Zustimmung aller Staaten der beiden Bündnisse festschreiben. Von der Sowjetunion wird ihr Pakt noch genutzt, um über vereinbarte ausgewogene Streitkräftereduzierungen Sicherheitsgarantien zu erhalten in Europa, aus dem man sich zurückzieht.

3. Da hat die Rüstungsdiplomatie - das ist neu - einen substantiellen Inhalt. Wien II besiegelt das Ende der militärischen Dominanz Rußlands in Europa.

"Erst mit der Unterzeichnung eines Vertrags in Wien wird die Veränderung der militärischen Lage in Europa auf der Ebene der militärischen Potentiale - als Instrumente der Politik und Strategie - eingeleitet. Und erst mit dem Vollzug des Vertrags und Reduzierung der Streitkräfte auf ein numerisches Gleichgewicht in Europa kann die kurz- und mittelfristig nicht mehr reduzierbare Umgestaltung der Strategie als vollzogen betrachtet werden. ...

Die Veränderungen der militärischen und damit auch der sicherheitspolitischen Lage in Europa durch einen Gleichgewichtsvertrag über die konventionellen Streitkräfte in Europa werden dann allerdings tiefgreifender Natur sein.

Um dies zu verdeutlichen, scheint es angebracht, auf das Ausmaß der zu erwartenden Reduzierung der WP-Streitkräfte hinzuweisen: Diese Streitkräfte werden um mehr als die Hälfte ihres bisherigen Bestandes verringert. Was dies bedeutet, erkennt man erst, wenn man sich die Zahlen vor Augen hält.

Reduzierung der Streitkräfte im Warschauer Pakt durch einen VKSE-Vertrag

Personal: um ca. 2,65 Mio (von ca 4 Mio auf 1,35 Mio)

Panzer: um ca 50.000 (von 70.000 auf 20000)

Artillerie: um 46.000 (von 70.000 auf 24.000)

(Gerhard Hubatschek, Wandel der sicherheitspolitischen und strategischen Bedingungen in Europa, in "Soldat und Technik", 3/1990)

4. Per Rüstungsdiplomatie wird ein militärischer Gewinn der NATO eingeholt. Man beachte auch die enorme Verbesserung der geostrategischen Position des westlichen Militärpakts.

Die Nato ist ihrem Ideal, die europäische Landmacht Sowjetunion zu einer europäischen Randmacht zurückzustufen, ein gutes Stück nähergerückt.