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I. Neues vom Weltmarkt der Ideologien
AFFIRMATIVE VERELENDUNGSTHEORIEN - NEOKOLONIALISTISCHE ZUSTÄNDIGKEITSERKLÄRUNGEN
"Entwicklung" ein imperialistisches Grunddogma und seine Konjunkturen
Die Entwicklungsländer haben ihren Namen von einer politökonomischen Ideologie. Derzufolge handelt es sich bei den Nationen des erfolgreichen Kapitalismus um eine weltgeschichtliche Norm, bei den exotischen Staatskreaturen der kapitalistischen Weltherrschaft um Vorstufen dazu, ausgestattet mit einer naturwüchsigen Tendenz, auch so zu werden wie ihre maßstabsetzenden Vorbilder. Ländern, die ihre Wirtschaft, ihren Außenhandel, ihr Geld und ihre Schulden, in den meisten Fällen sogar die Existenz einer souveränen politischen Gewalt überhaupt dem Interesse und dem Wirken der wichtigen kapitalistischen Mächte verdanken, wird da hoffnungsfroh bescheinigt, in ihre Abhängigkeit und Armseligkeit wäre der "Normalfall" kapitalistischer Staatsmacht bereits eingewickelt und würde sich daraus schon noch entwickeln.
Mit diesem schönen Bild hat sich das bürgerliche Selbstbewußtsein, mit dem demokratischen Kapitalismus weder ein besonders gutes noch ein besonders kritikables Ergebnis, sondern überhaupt den Normalfall von Staat und Wirtschaft, Individuum und Gesellschaft erreicht zu haben, ein Denkmal gesetzt. Es bewältigt damit, bedingungslos affirmativ, seine eigene Kenntnis von der anderen Seite des Erfolgs, mit dem kapitalistisches Geschäft und demokratische Gewalt sich ihre verschiedenen auswärtigen Hilfsquellen herrichten. Daß es sich dabei um die notwendige andere Seite des eigenen Erfolgs handelt, wird im Namen einer schlicht geglaubten Angleichungsperspektive geleugnet.
Mit dieser theoretischen und moralischen Leistung hat sich der Gedanke des "Entwicklungslandes" seinen Stammplatz im bürgerlichen Denken über Politökonomisches erobert. Er ist so sehr zur Selbstverständlichkeit geworden, daß Zweifel ihm nichts anhaben können, weil er im Zweifelsfall in das Reich der "eigentlichen" Realitäten übersiedelt, die bekanntlich von den bloß wirklichen nicht zu widerlegen sind: Die Entwicklungsländer bleiben fürs imperialistische Bewußtsein Vorstufen zur allein menschengemäßen Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftsverfassung, auch wenn sie - trotz, bei oder auch dialektischerweise wegen allen Entwicklungsbemühungen - reichlich "unterentwickelte" Vorstufen bleiben. Als Idee des eigentlich Fälligen übergreift der Entwicklungs-Gedanke alle politischen Lager und überdauert alle Konjunkturen, die er selber durchmacht - er ist nämlich selber sehr entwicklungsfähig.
1.
Als die Entwicklungsländer so getauft wurden, stand ihr Name für ein Versprechen, nämlich Land und Leute aus der Armut in allen ihren vorfindlichen drastischen Formen zu befreien. Mitgedacht war eine Kritik am vorangegangenen Stadium des Imperialismus, am Kolonialismus, der seine Einflußgebiete unter dem eigentlich fälligen Stand, eben: unterentwickelt gehalten hätte. Ein Moment von Selbstbezichtigung der alten Kolonialmächte war darin enthalten und jedenfalls die Idee einer Verpflichtung, die "Sünden der Vergangenheit wiedergutzumachen" und für die Einrichtung der allein "normalen" Verhältnisse zu sorgen. Jedes Eingreifen in diese Länder wurde unter das Ideal der Unterstützung gestellt, die man ihnen schuldig sei, und als Entwicklungshilfe geadelt.
Dabei war freilich nicht nur an die Vergangenheit gedacht, sondern vor allem an die"Gefahr einer Fehlentwicklung", die mit der Existenz einer politischen und ökonomischen Systemalternative gegeben war. Entwicklungshilfe wurde vorgestellt als ein Feld der Systemkonkurrenz, auf dem der freiheitliche Kapitalismus sich mit der überlegenen Effektivität seiner Mittel als das wahre Endziel der Staatengeschichte bewähren sollte. Die Schuldfrage, wenn die verheißenen Ergebnisse auf sich warten ließen, war damit auch schon beantwortet: Mit Zahlungen und Spenden, die im Grunde gar kein Beitrag zur Entwicklung waren, und außerdem mit Subversion und Gewalt brachte der sowjetische Gegner manchen unerfahrenen Staat vom richtigen Weg ab; falsch beeinflußte Staatslenker verstanden ihre Souveränität ganz verkehrt und ließen sich nicht richtig helfen, sondern hatten ihren eigenen Kopf beim Verbrauch von Hilfsgeldern, die dann natürlich bloß verschwendet wurden - für überflüssigen Luxus und für grundsätzlich unproduktive Großvorhaben. Der Glaube an einen vorgezeichneten politökonomischen Weg der ehemals kolonialen Welt ließ also keinen Zweifel offen, daß darin vor allem ein Anspruch auf diese Länder und ihre Entwicklung erhoben wurde.
Diese Spielart des Entwicklungsgedankens stand für eine politische Einstellung der Freien Welt zu ihren freigegebenen Kolonien und verwandten Staatsgebilden: Man war sich ihrer politischen Zukunft tatsächlich so sicher nicht; es mußte erst noch dafür gesorgt werden, daß die Autonomie der Regierungen nicht zum Anschluß an die weltpolitisch gegnerische Seite führte; zumal die Richtlinien des kapitalistischen Weltmarkts und die Vorschriften seiner Aufsichtsorgane noch keineswegs die Festigkeit eines allgemein und bedingungslos, auch im Schadensfall, anerkannten Sachzwangs besaßen. So war die staatsrechliche Freilassung dieser Länder verbunden mit dem festen Willen, ihre souveräne Freiheit in die richtige Richtung zu lenken. Dieses Programm, als Wohltat ausgedrückt, hieß Entwicklungshilfe: Der Westen erklärte sich selbst dafür zuständig, für die Angleichung der selbständig gewordenen Kolonien und anderen unterentwickelten Nationen an seine Staatsräson zu sorgen.
2.
Den Charakter der Verheißung ist der Entwicklungsgedanke im Laufe der Jahre gründlich losgeworden. Schließlich kann ja auch das schönste Zdeal nicht ganz unberührt davon bleiben daß die ökonomischen und politischen Verhältnisse in den Ländern der Kategorie 3 durch lauter energische Entwicklungsbemühungen total umgekrempelt worden sind, ohne daß beim Reichtum der Nationen, geschweige denn beim Lebensstandard ihrer Massen so etwas wie eine Angleichung an den vorbildlichen "Normalfall" der "entwickelten Industrienationen" eingetreten wäre. Wegen solch kläglicher Befunde braucht ein so schöner Gedanke andererseits auch nicht aufgegeben zu werden - wäre die Realität als solche ein Einwand gegen die schönfärberische Ideologie darüber, dann hätte der bürgerliche Sachverstand ja gar nicht erst anzutreten brauchen mit seiner Idee der eigentlich fälligen Entwicklung. Die wurde also fortentwickelt zur fraglosen Grundlage von Theorien darüber, weshalb das angeblich von allen gewünschte und betriebene Ding immerzu doch nicht nach Wunsch eingetreten sei. Diese Suche nach und Aufdeckung von Gründen für das Scheitern der Entwicklung, die eigentlich fällig gewesen wäre, hat - unter anderem - die zeitweise fast tonangebende moralisch-kritische Theorie von der ungerechten Weltwirtschaftsordnung hervorgebracht. Deren sachlicher Gehalt besteht in der Entdeckung, daß die Techniken und Instrumente der Geschäfte, die die kapitalistischen Zentren mit ihrer Peripherie abwickeln, jeder Angleichung der abhängigen an die überlegene Seite brutal entgegenwirken. Kein sehr erstaunlicher Befund und - könnte man denken - eine klare Sache: Dann wird Entwicklung im Sinne einer Angleichung der Lebensverhältnisse oder des Staatsreichtums - oder welcher ökonomischen Kenngröße auch immer - eben nicht der Zweck des Weltmarkts sein, sondern dessen schönfärberisches Ideal. Diesen Schluß mochte die politische Ökonomie der Ungerechtigkeit aber lieber nicht ziehen. Statt dessen hält sie neben ihrem enttäuschenden Befund die Täuschung, Entwicklung wäre doch der wahre und eigentliche Zweck des Weltgeschäfts, ungerührt fest und legt sich das gegenteilige Faktum so zurecht, daß die Weltwirtschaft, so wie sie eingerichtet ist, ihrer eigenen besseren Zwecksetzung widerspräche. Daß die versprochene und geglaubte Wirkung von Welthandel und Entwicklungshilfe nicht eintritt, wird als Beweis dafür genommen, daß das Geschäft mit der 3. Welt andauernd scheitert, und zwar an seinen eigenen schnöden Verlaufsformen.
Der moralisch-kritische Gehalt dieser Ideologie ist damit fertig, daß die Realität des Welthandels gar nicht weiter b e-, sondern eben als Abweichung von einer vorgestellten Norm, als ungerecht verurteilt wird. Skandale, die diese sittliche Empfindung nähren, sind allemal leicht zu finden; man braucht nur immer von neuem die bekanntwerdenden Realitäten neben den eigenen Glauben an eine eigentlich gültige Gerechtigkeit zu halten.
Fortsetzungen in eine mehr theoretische Richtung gibt es auch. Sie drücken die Idee des weltwirtschaftlichen Selbstwiderspruchs an einzelnen Methoden und Instrumenten des Geschäfts mit der 3. Welt aus. Da wird z.B. ein Kredit, der dem Kreditnehmer wirklich helfen würde, von den Schulden unterschieden, die er tatsächlich macht. Oder es wird für Marktpreise plädiert, die das ökonomische Kräfteverhältnis zwischen den ungleichartigen Konkurrenten nicht ausnutzen, sondern korrigieren würden. Und so weiter. Über den moralischen Ansatzpunkt der ganzen Theorie: den Glauben an Entwicklung angesichts dessen, daß sie nicht stattfindet, führt das alles nicht hinaus.
Diese kritische Politökonomie der fehlenden Gerechtigkeit hat einmal voll in die politische Landschaft gepaßt: in der Phase, als die wirklich bedeutenden Mitgestalter der Weltwirtschaft, vor allem in Europa, bei ihrer Führungsmacht die Notwendigkeit von Reformen im internationalen Freihandel sowie beim Geld- und Kreditgeschäft angemahnt und einige Neuerungen mit durchgesetzt haben. Bei diesen Reformen ist es zwar nie im entferntesten darum gegangen, die Gerechtigkeitsideale einer akademischen Theorie in die Tat umzusetzen; aber so herum passen die wirkliche Lage und ihre ideologische Betrachtung ohnehin nie zusammen. Umgekehrt hat die Beschwerde über falsche Weltmarktverhältnisse etwas von der wirklichen weltpolitischen Konjunktur erwischt; insofern nämlich, als da Veränderungen durchgekämpft wurden und dafür ein Rechtfertigungsbedarf zu decken war. Kein Interesse in der bürgerlichen Welt verlangt Verschiebungen der Konkurrenzverhältnisse zum eigenen Vorteil, ohne sich auf eine höhere Gerechtigkeit zu berufen oder auch auf die nur allzu gerechtfertigten Beschwerden Dritter.
Außerdem waren nicht bloß zwischen Dollar und D-Mark einige Umstellungen fällig. Das 3.Welt-Geschäft selbst war nach erfolgter Entwicklung in eine Schuldenkrise geraten, die neuartige Vereinbarungen - vor allem der Gläubiger untereinander - über Umschuldungen, Finanzkredite, Liquiditätshilfen usw. verlangte sowie entschieden mehr Kontrolle über die Wirtschaftspolitik der Schuldnerstaaten: Das ideologische Genörgel an der Weltwirtschaftsordnung samt dem Gerücht vom "Nord-Süd-Konflikt" und der Warnung vor drohenden Katastrophen stand somit für die Entdeckung, daß die Macher des Weltmarkts selbst nicht mehr weitermachen konnten wie zuvor, gerade u m weitermachen zu können, also weiterhin wachsenden Nutzen aus der 3. Welt zu ziehen. Mit diesem wirklichen "um zu" der fälligen Umstellungen brauchten sich die Ankläger weltwirtschaftlicher Ungerechtigkeiten gar nicht einverstanden zu erklären; sie haben sich damit auch nicht weiter befaßt. Sie hatten Konjunktur als Ideologen der Notwendigkeit von Reformen überhaupt.
3.
Seither sind die Weltwirtschaftsmächte und die Entwicklungsländer miteinander schon wieder ein gutes Stück vorangekommen. Die Zweite Welt ist erst recht nicht mehr das, was sie zu Zeiten der Weltwirtschaftskrise noch war, nämlich aus westlicher Sicht der möglicherweise "lachende Dritte". Und prompt hat sich die Ideologie der Entwicklung um einige Varianten angereichert, die schon wieder "auf der Höhe der Zeit" sind. Sie streichen nämlich aus dem Ideal der Angleichung der 3. Welt an die 1. jeden ökonomischen Inhalt überhaupt heraus, wollen von mehr Reichtum und höherem Lebensstandard für die größere Hälfte der Weltbevölkerung und ihrer Staaten gar nichts mehr wissen, kritisieren sogar entsprechende fromme Wünsche als Irrweg. Als maßstabsetzende Vorbilder sind die Demokratien des Nordens ihren Nachzüglern im Süden nicht Geld und Gut schuldig, sondern vormundschaftliche Betreuung in den wirklich entscheidenden Fragen der Gegenwart: wie man ein echtes Parlament wählt und den Regenwald rettet. Diese Ideologie der "einen Welt für alle" steht für den Triumph des Imperialismus, den Globus tatsächlich "wiedervereinigt" zu haben: von der ärgerlichen Alternative im Osten bereinigt, und schon allein mit den Mitteln des Finanzkapitals im Griff.