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Dieser Artikel ist in der MSZ 5-1990 erschienen.
"Vertrag über gute Nachbarschaft, Partnerschaft und Zusammenarbeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken"
WIE AUS FEINDSCHAFT FREUNDSCHAFT WIRD
Anläßlich des Freundschaftsvertrags zwischen Deutschland und der Sowjetunion ist so gut wie allen Kommentatoren der deutsch-sowjetische Sondervertrag von Rapallo eingefallen, um - wie in Italien, Frankreich und Großbritannien - vor der Gefahr eines "deutschen Sonderwegs" zu warnen oder wie hierzulande - eine solche Gefahr -als unbegründet zurückzuweisen.
Damals, 1922, schloß das Deutsche Reich den Vertrag mit der sozialistischen Sowjetrepublik, um eine Kriegsfolgelast loszuwerden: Sowjetrußland verzichtete auf jegliche Kriegsreparationen und erklärte alle Ansprüche aus der Zeit des Krieges zwischen Deutschland und dem ehemaligen Rußland für erledigt. So hatte auch der Versuch Frankreichs, mittels des Versailler Vertrags russische Vorkriegsschulden gegenüber Frankreich auf das Deutsche Reich abzuwälzen, keine Handhabe mehr. Zugleich sah Deutschland in der diplomatischen Hinwendung zu Sowjetrußland die Chance - und konnte sie auch nutzen -, die von den Siegermächten diktierte Beschränkung der Reichswehr auf 100.000 Mann zu umgehen. Deutschland bildete auf sowjetischem Boden zusätzliche Truppen aus. Nicht zuletzt wurden in der Sowjetunion von der Reichswehr die neue Panzerwaffe und ihr taktischer Einsatz erprobt und entwickelt.
Sowjetrußland ging den Vertrag mit Deutschland ein, um einen imperialistischen Feind erst einmal vom Hals zu haben und die wirtschaftlichen Beziehungen zu Deutschland für den Aufbau des Sozialismus zu nutzen.
Das war "Rapallo". Der Sondervertrag von damals gibt für die Charakterisierung des deutsch-sowjetischen Freundschaftspakts 1990 nichts her. Heute ist die Ausgangslage eine ganz andere: Deutschland, Freund und Partner der kapitalistischen Staaten des Westens, ist endgültig frei von den Folgen der Niederlage im Zweiten Weltkrieg; es hat seine Einheit seine volle Souveränität, die Position der Großmacht in Europa bekommen - im Grunde geschenkt vom Feind von gestern, der Sowjetunion. Die Sowjetunion hat ihre sozialistische Eigenart zu wirtschaften und Staat zu machen aufgegeben. Außenpolitisch ist sie darum bemüht, von sich aus der Feindschaft der NATO jeden Grund zu nehmen: militärischer Rückzug an allen weltpolitischen Fronten; in Europa Aufgabe des Zugriffs auf Ostdeutschland und die Länder Osteuropas und offizielle Anerkennung der neuen Großmacht Deutschland. Was einige sowjetische Generäle für Leichtsinn halten, wird von Gorbatschow praktiziert: Die Sowjetunion gibt freiwillig ihre "Kriegsbeute" aus dem Zweiten Weltkrieg weg. Den Feind der NATO und des deutschen NATO-Frontstaats gibt es nicht mehr.
Aber muß wegen dieser neuen Konstellation aus der gestrigen Feindschaft zwischen den "Revanchisten" in Bonn und den "brutalen Machtpolitikern" im Kreml, die "nur die Sprache der Gewalt verstehen", gleich und sofort eine Freundschaft zwischen Berlin und Moskau werden? Offenbar schon! Offenbar kennt die deutsche Außenpolitik keine hehren Grundsätze, außer dem werten Prinzip, den Hals nicht voll zu kriegen, wenn es darum geht, deutsche Macht und deutschen Einfluß zu mehren. Und offenbar kann sich Deutschland den neuen Partner im Osten schnappen, weil der eine Außenpolitik verfolgt, die jede Normalität imperialistischer Politik auf den Kopf stellt.
Die deutsche Freundschaft - eine seltsame sowjetische Hoffnung
"Dennoch ist der Rapallo- Vergleich deplaziert. Der sowjetischen Seite bedeutet der neue Ausgleich zwischen Russen und Deutschen weit mehr, nämlich die Erwartung einer Osmose, die es uns ermöglicht, mit deutscher Hilfe nach Europa zurückzukehren. Das heißt für die Sowjetunion, eine soziale Marktwirtschaft zu etablieren, die diesen Namen verdient, und das heißt für das vereinte Deutschland, über diese Kooperation eine Großmachtstellung zu erlangen. Schlichte Gemüter hüben wie drüben behaupten immer wieder, nur die verzweifelte Lage des Landes habe Michail Gorbatschow bewogen, seine, deutschen Anteile zu verschleudern wie weiland Zar Alexander II. das kostbare Alaska an die Amerikaner...
Auch in einer noch schlimmeren Lage hätte Moskau um keinen Preis die deutsche Einheit abgesegnet ohne die feste Überzeugung, daß dies seinen nationalen Interessen entspricht." (Portugalow, sowjetischer Deutschland-Experte)
Ein eigenartiges Programm, nationale Interessen zu verfolgen. Die sowjetische Seite handelt nach einem Grundsatz, der für eine Großmacht absurd ist. Sie hält es allen Ernstes für ihren Vorteil, wenn eine andere Staatsmacht, nämlich eben die deutsche, auf ihre Kosten entscheidend stärker wird. Sie verschafft sich noch nicht einmal sichere, von ihr selbst zu kontrollierende Garantien dafür, daß die neue deutsche Größe ihr nützt; sie setzt darauf - eine bemerkenswerte Art von "russischem Roulette".
Die sowjetischen Hoffnungen richten sich vor allem auf zwei Angelegenheiten.
Erstens sind die "Reformer" im Kreml dabei, ihre "Planwirtschaft" zu ruinieren. Sie gefällt ihnen schon lange nicht mehr, weil ihre Erträge dem Staat weniger Reichtum bescheren als der Kapitalismus den westlichen Staaten. Deswegen wollen sie zu "marktwirtschaftlichen Verhältnissen" hin - und dieses "Experiment" bekommt ihrer Volkswirtschaft gar nicht gut. Aber je mehr sie an ihrem System kaputtmachen, um so besser gefällt ihnen das westliche "Modell". Damit sie es schneller hinkriegen, sollen die kapitalistischen Nationen ihnen helfen. Mit Krediten, mit "marktwirtschaftlichem Sachverstand", mit Unternehmern, die in der großen Sowjetunion Großes unternehmen sollen. Dabei setzen diese Strategen vor allem auf Deutschland, für dessen "gewaltiges Wirtschaftspotential" sie nichts als Bewunderung übrig haben - denn wie der Reichtum von Unternehmern und Staatskassen in diesem kapitalistischen Musterland zustandekommt, das interessiert die ehemaligen Kritiker der Ausbeutung schon lange nicht mehr.
Die Krisenpolitiker des Kreml glauben tatsächlich, daß die den Deutschen gebotene Chance, "die Sowjetunion marktwirtschaftlich zu erschließen", das passende Mittel wäre, die Sowjetunion vor der Katastrophe zu bewahren. So als wäre kapitalistisches Geschäft deutscher Art so etwas wie eine freiwillige Feuerwehr.
"Ohne alle Beschönigung: Von der Partnerschaft, ja der Freundschaft mit dem vereinten Deutschland, von der deutschen Wirtschaft und deutschen Privatinvestitionen erhoffen wir die Errettung aus der drohenden Katastrophe." (Portugalow)
Zweitens spekulieren die Weltpolitiker in Moskau offenbar darauf, sie könnten mit der NATO besser klarkommen, wenn sie nicht bloß mit der Führungsmacht des westlichen Militärbündnisses hübsch nachgiebig verhandeln, sondern außerdem der BRD, dem europäischen Vorposten der NATO, alle machtpolitischen Wünsche erfüllen. Dabei sind sie sogar darauf verfallen, der deutschen Seite Wünsche erfüllen zu wollen, die die Macher in Bonn noch gar nicht offen geäußert haben: Einen ständigen Sitz im UNO-Weltsicherheitsrat für das neue Deutschland haben sie ins Gespräch gebracht - so ungefähr die höchste diplomatische Machtposition, die in der Staatenwelt zu vergeben ist. Die sowjetische Berechnung geht anscheinend dahin, so ließe sich zu ihren Gunsten die Konkurrenz im westlichen Bündnis dahingehend ausnützen, daß ab und zu von einem Kontrahenten ein bißchen Fürsprache ausgeht. Eine solche Fürsprache wollen sich die Russen schon jetzt sogar für den Eventualfall eines Krieges vorstellen, und die westdeutschen Diplomaten haben prompt erklärt, daß auch sie sich eine solche Position vorstellen können. So kam es zum Artikel 3:
"Sollte eine der beiden Seiten zum Gegenstand eines Angriffs werden, so wird die andere Seite dem Angreifer keine militärische Hilfe oder sonstigen Beistand leisten... " (Artikel 3)
Die Frage ist müßig, ob die deutsche Diplomatie in eine Zwickmühle geriete, wenn sie sich jemals zwischen NATO-Bündnis und Deutsch-Sowjetischem Vertrag entscheiden müßte. Erst einmal hat sie nur, aber immerhin schon, bekundet, daß sie auch in militärischen Dingen an einer Veränderung der Weltlage arbeitet. Einer Sowjetunion gegenüber, die konsequent ihren Rückzug fortsetzt, will sich ein Genscher einen Schuß Neutralität leisten.
Die sowjetische Freundschaft - eine durchkalkulierte Chance für deutsches Geschäft und deutsche Macht
"Mit der Überwindung des Ost-West-Konflikts wird der Blick frei für die Chancen einer neuen Weltordnung. Die Teilung Europas und der Ost-West-Konflikt haben über Jahrzehnte unsere Kräfte gebunden. Wir wollen sie nun gemeinsam für Europa und für die Welt einsetzen." (Genscher)
Was die sowjetischen Hoffnungen und Spekulationen wert sind, ergibt sich klar und deutlich aus den politischen Chancen und Freiheiten, die die Deutschen für sich daraus machen. Was erstens die Wirtschaftspolitik betrifft, so gefällt es den Brüdern im deutschen Wirtschaftswunderland ganz ausgezeichnet, daß die Sowjetmacht ihr realsozialistisches System wegwirft. Darüber vergessen sie sich und ihre Interessen aber keine Sekunde lang so weit, daß sie sich ans Helfen machen würden. Das gehört nämlich gar nicht zum Beruf des erfolgreichen Wirtschaftspolitikers, und zum Beruf Kapitalist schon gleich nicht. Kredite sind von ihnen zu haben - weil sie Zinsen einbringen und Eigentumsrechte gegen den Schuldner schaffen. Marktwirtschaftliche Ratschläge geben die Inhaber von deutscher Mark und deutscher Macht auch gerne - nämlich vor allem den zu ihren Bedingungen und zu ihrem Vorteil schöne, aussichtsreiche Geschäfte einzuleiten. Wenn dann alles vorbereitet ist und kein Risiko mehr droht, dann gehen deutsche Unternehmer sogar zum Geldverdienen nach drüben und zeigen den Russen, wie man mit willigen Arbeitskräften gute Deutsche Mark verdient, und der deutsche Staat unterstützt sie dabei. Nur kommt dabei eines mit Sicherheit nicht heraus, nämlich die Sanierung ihrer nationalen Wirtschaft, die die Sowjetregierung sich davon erhofft. Für so ein Unternehmen geben weder Kapitalisten noch kapitalistische Staaten ihr Geld aus - an Polen und Ungarn könnten die sowjetischen Reformer diese Wahrheit besichtigen und lernen, daß das grenzüberschreitende Geschäftsleben alles andere ist als ein Mittel für nationale Aufbauprogramme. Aber genau darauf setzen sie, machen ihr Land zu einem einzigen großen Angebot. Die unternehmungslustigen Deutschen nehmen sich die Freiheit, sich daraus die für sie schönsten und ertragreichsten Geschäftsgelegenheiten auszusuchen. Und die deutschen Ostpolitiker setzen einiges daran, ihren Unternehmen vertraglich einen bevorzugten Zugriff - am besten ein Monopol - auf das sowjetische Wirtschaftspotential zu sichern.
"Dieser Vertrag ist der völkerrechtliche Rahmen für die Tatsache, daß das vereinte Deutschland - als Mitglied der europäischen Gemeinschaft - der größte Wirtschaftspartner der Sowjetunion sein wird." (Bundeskanzler Kohl)
Was zweitens die außenpolitische Umarmungsstrategie von Gorbatschow und Schewardnadse betrifft, so verstehen sich Genscher und die deutschen Genscheristen längst prächtig darauf, sowjetische Geschenke zu kassieren, ohne eigene politische Optionen aus der Hand zu geben. Die sowjetische Nachgiebigkeit und der Rückzug der Roten Armee verschaffen ihnen die Sicherheit, daß sie auf die NATO nicht mehr so wie bisher angewiesen sind. Und gleich verfallen die Deutschen auf neue Perspektiven für ihre gewachsene Macht: Der Rahmen der NATO wird ihnen zu eng. Das Beharren der USA auf ihrer unbedingten Vormachtstellung weltweit kommt ihnen wie eine ungerechte Bevormundung vor. Andererseits müssen die großdeutschen Politiker schmerzlich zur Kenntnis nehmen, daß die militärpolitischen Kräfteverhältnisse nun mal so sind - und die entscheiden letztlich darüber, welche Nation wieviel zu sagen hat im Konzert des Weltfriedens. In diesem Dilemma erscheint eine Achse Berlin-Moskau deutschen Politikern als interessante Perspektive. Die Sowjetunion hat ihre Feindschaft zum Westen abgelegt; sie hat auch ihre militärische Macht ein Stück weit zurückgenommen. Aber die zweite militärische Supermacht ist sie immer noch. Sie zum Freund zu haben, kann bei der neuen bedeutenden Rolle, die Deutschland bei der Kontrolle des Weltfriedens spielen will, nur vorteilhaft sein. Die deutschen Friedenspolitiker und glühenden Anhänger der westlichen Werte- und Völkergemeinschaft spechten darauf, die sowjetische 2. Weltmacht gleichsam zu beerben.
Ein klarer Fall von Völkerfreundschaft
also, dieser Freundschaftsvertrag, den die deutschen und sowjetischen Diplomaten da ausgehandelt haben: auf der einen Seite eine absurde Rückzugspolitik; auf der anderen Seite eine Machtpolitik, die ihre Konkurrenzposition nach allen Seiten durchkalkuliert und mit ihrem Weltmachts-Ehrgeiz noch lange nicht am Ende ist. Und beide Seiten zusammen treten gegen Dritte an. Letzteres beweisen sie mit dem Dementi, das die Kunst der Diplomatie dafür vorsieht:
"Dieser Vertrag richtet sich gegen niemanden..." (Artikel 21)