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KSZE-Gipfel
EINE SIEGERKONFERENZ NEUEN TYPS
Am Konferenztisch in Paris säßen, so erklärte Frankreichs Präsident Mitterrand, "weder Sieger noch Besiegte, sondern 34 in ihrer Würde gleiche Länder". Tatsächlich haben lauter souveräne und gleichberechtigte Staaten gemeinsam den Beginn eines neuen Zeitalters verkündet und sich gegenseitig versprochen, in Zukunft nurmehr friedlich miteinander verkehren zu wollen.
"Das Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas ist zu Ende gegangen. Wir erklären, daß sich unsere Beziehungen künftig auf Achtung und Zusammenarbeitgründen werden.
Europa befreit sich vom Erbe der Vergangenheit. Durch den Mut von Männern und Frauen, die Willensstärke der Völker und die Kraft der Zdeen der Schlußakte von Helsinki bricht in Europa ein neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit an." (Pariser Charta)
Das heißt aber gerade nicht, daß es keine Sieger und keine Besiegten gäbe. Die Politik der Nichtachtung gewisser Staaten und ihrer systematischen Zersetzung hat ihr Werk getan; die Konfrontation ist weg, nachdem die eine Seite kapituliert hat. Von wegen "Zeitalter"! Wer hat denn welches Erbe aus Europa verbannen wollen? Welche Staaten (die mutigen Frauen und Männer und die willensstarken Völker lassen wir lieber dort, wo sie in der feinsinnigen Sprache der Diplomatie hingehören) kriegen sich denn gar nicht mehr ein ob des Erfolgs, daß jetzt überall in Europa Demokratie ausbricht? Welche Prinzipien, Staat zu machen und zu wirtschaften, haben sich denn durchgesetzt im "neuen Europa"? Und wer gibt denn im "Europa der Einheit" den Ton an?
I
Das gab es noch nicht; schon gar nicht gab es das so konkret, wie sich jetzt die KSZE-Staaten für ein System als Grundlage und Form ihrer Souveränitäten erklären. So gut wie alle Staaten Europas (Kanada und die USA sowieso) verpflichten sich auf Kapitalismus und auf die Demokratie als die zu ihm gehörende Staatsraison.
"... unerschütterliches Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit...
Wir verpflichten uns, die Demokratie als die einzige Regierungsform unserer Nationen aufzubauen, zufestigen und zu stärken...
Wir betonen, daß die wirtschaftliche Zusammenarbeit auf der Grundlage der Marktwirtschaft ein wesentliches Element unserer Beziehungen darstellt und einen entscheidenden Beitrag zum Aufbau eines prosperierenden und geeinten Europa leisten wird..." (Pariser Charta)
Für die Freiheit der Staaten, sich ihr ökonomisches und politisches System selbst herauszusuchen, ist in diesem neuen Europa kein Platz. Ob es sich da nicht um einen internationalen Totalitarismus handelt? Das ursprüngliche Soll der KSZE, mit der Menschenrechtswaffe und dem Dringen auf sogenannte gesellschaftliche Grundfreiheiten eine Zersetzung des Systems des Realen Sozialismus zu erreichen, ist übererfüllt. Die Länder des ehemaligen Ostblocks gestehen nicht nur ihre Niederlage im Systemvergleich ein. Sie unterwerfen ihre Gesellschaften den Prinzipien der westlichen Wertegemeinschaft: Kapitalismus und bürgerliche Herrschaftsform. Und es ist Schluß mit der Beschränkung der Zugriffsmöglichkeiten der kapitalistischen Industrienationen des Westens auf den "Ostblock". So endgültig, daß die ehemaligen Staatswirtschaftsländer zum Zweck der restlosen Beseitigung des Sozialismus ihre Wirtschaft gründlich ruinieren und um "wirtschaftliche Zusammenarbeit" betteln, also den potenten Industrienationen des Westens ihre Länder und ihre Leute zu jeder Bedingung zur Benutzung anbieten. So sieht eben die Hilfe für "demokratische Länder, die sich auf dem Weg zur Marktwirtschaft befinden" (Charta), aus. Auch für Probleme, die sich aus der noch fehlenden Reife für die Demokratie in Osteuropa ergeben könnten, hat man in Paris vorgesorgt.
"Wir beschließen, in Warschau" (wieso eigentlich nicht in Schleswig-Holstein?) "ein Büro für freie Wahlen einzurichten, um Kontakte und den Informationsaustausch im Zusammenhang mit Wahlen in den TeiLnehmerstaaten zu erleichtern." (Charta)
Wir werden euch helfen! - Dieses Programm der westlichen Wertegemeinschaft haben in Paris alle beteiligten Nationen unterschrieben. Natürlich hat der besiegelte Sieg einer bestimmten Sorte Länder der KSZE der gleichen Würde aller betroffenen Staaten keinen Abbruch getan.
II
Im Zentrum - Deutschland. Zwei nicht unbedeutende Staaten Nordamerikas und die 32 Staaten Europas (Albanien hätte sich sicherlich angeschlossen, wenn es gedurft hätte) haben auf dem Gipfel in Paris einen Primus auserkoren für das "neue Europa". Das haben lauter Gleiche, die gemeinsam an einem neuen Zeitalter stricken, zustandegebracht.
"Wir nehmen mit großer Genugtuung Kenntnis von dem am 12. September 1990 in Moskau unterzeichneten Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland und begrüßen aufrichtig, daß das deutsche Volk sich in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Schlußakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und in vollem Einvernehmen mit seinen Nachbarn in einem Staat vereinigt hat. Die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands ist ein bedeutsamer Beitrag zu einer dauerhaften und gerechten Friedensordnung für ein geeintes demokratisches Europa, das sich seiner Verantwortung für Stabilität, Frieden und Zusammenarbeit bewußt ist." (Charta),
Welche Macht, welchen Einfluß und welche Rechtsansprüche muß die BRD zusammengewirtschaftet haben, daß ihr Zugewinn um einen ganzen Staat allenthalben Anerkennung gefunden hat? Welche mächtige Rolle ist Deutschland mit der Wiedervereinigung und nach dem Zerbrechen des Ostblocks zugewachsen, daß Nordamerika und alle Staaten Europas dem deutschen Staat eine derartige Ehre erwiesen wie auf der Konferenz in Paris. Der Verlierer des Zweiten Weltkriegs nahm praktisch als Siegermacht am Pariser Kongreß teil. Kanzler Kohl war regelrecht aufgekratzt und strahlte ob des von allen anerkannten deutschen Erfolgs. Vor einem Jahr hätte er es noch nicht geglaubt, daß Deutschland bald keine Feinde mehr haben werde, bemerkte er. Und er sah drei Zentren der Weltpolitik auf sich zukommen: Nordamerika, Südostasien um Japan und, mindestens gleichgewichtig, Europa mit der EG als Zentrum und als Zentrum der EG - Deutschland.
Offiziell hat keiner der Teilnehmerstaaten der KSZE dieser Vision des deutschen Kanzlers widersprochen.
III
Das Wesentliche der Konferenz von Paris waren aber nicht die gemeinsamen Erklärungen für ein einiges, marktwirtschaftliches und demokratisches Europa und die diplomatischen Verbeugungen vor der Sonderstellung Deutschlands. Der herausragende Ertrag des KSZE-Gipfels bestand auch nicht darin, daß für das "neue Europa" lauter neue Institutionen geschaffen wurden: vom "Rat" der Außenminister über ein "Konfliktverhütungszentrum (KVZ)" bis zum "Büro für freie Wahlen" und "Expertentreffen über nationale Minderheiten" etc.
Die Quintessenz dieses Kongresses lag in Beschlüssen, die die Gewaltfrage betreffen. Gemeint sind nicht die Erklärungen zum Gewaltverzicht und die gemeinsame Verkündigung des Endes der Feindschaft in Europa.
"Die Unterzeichnerstaaten erklären feierlich, daß sie in dem anbrechenden neuen Zeitalter europäischer Beziehungen nicht mehr Gegner sind, sondern neue Partnerschaften aufbauen und einander die Hand zur Freundschaft reichen wollen." (Pariser Erklärung der Mitgliedsstaaten von NATO und Warschauer Pakt)
Gemeint ist der "Vertrag über konventionelle Abrüstung in Europa", der ebenfalls in Paris unterzeichnet wurde. Dieser Vertrag beinhaltet nämlich das Novum, daß für einen ganzen Kontinent und fast alle seine Staaten die Quantität der konventionellen militärischen Gewaltmittel festgeschrieben wird. Dabei ist die Sowjetunion mit ihren Sicherheitsinteressen in Europa im KSZE-Prozeß aufgegangen. Künftige Interessen und Kompetenzen sind ab jetzt gemeinsamer Verhandlungsgegenstand sämtlicher am KSZE-Prozeß beteiligter Staaten. Das Militärbündnis der SU, der Warschauer Pakt, hat seinen letzten militärpolitischen Dienst geleistet. Er wurde in völligem Widerspruch zur tatsächlichen Lage als Einheit betrachtet, um seinen Waffenarsenalen und damit - darauf kam es an - denen der Sowjetunion die gewünschten Schranken aufzuerlegen.
Ganz anders wieder einmal der Freie Westen. Das NATO-Bündnis gibt es nicht nur noch, es hat sich auch vorbehalten, getrennt von der KSZE und zusätzlich zu seinem Mitmischen in ihr seine eigene Sache weiter zu verfolgen. Mit den Schranken, in die sie eingewilligt hat, ist die NATO in Europa die konkurrenzlose Militärmacht.
Das ist übriggeblieben vom sowjetischen Projekt einer Auflösung beider Militärbündnisse in politische. Zum Ausgleich hat die Sowjetunion auch kein politisches Bündnis mehr.
IV
Mit den Vereinbarungen über konventionelle Abrüstung in Europa hat die NATO mehr erreicht, als sie ursprünglich im Sinn hatte mit den Wiener Verhandlungen über konventionelle Streitkräfte in Europa. Ihr ging es darum, unter wohlweislicher Abstraktion von der NATO-Führungsmacht USA ein "militärisches Gleichgewicht" zwischen Westeuropa und dem Warschauer Pakt zu erreichen. Die NATO war also darauf aus, die konventionelle Überlegenheit der Sowjetunion in Europa abzubauen. Zumindest sollte eine Verdünnung der in Osteuropa und bis zum Ural stationierten sowjetischen Streitkräfte erreicht werden. Ideologisch wurde dieses Verlangen der NATO mit der Behauptung begründet, die Massierung sowjetischer Streitkräfte in Osteuropa gehe weit über das zur Verteidigung Notwendige hinaus; sie sei für die Offensive gedacht und ermögliche dem Warschauer Pakt einen "Überraschungsangriff".
Dieser Vorwurf an die Sowjetunion wird im Westen von niemandem mehr erhoben. Die neue politische Lage hat alle alten Abrüstungsideale weit überholt. Auf dieser Grundlage bekommen die alten Gleichgewichtsideale, die jetzt Wirklichkeit werden, eine ganz neue Bedeutung. Sie bewirken eine Zuteilung der militärischen Kräfte an die verschiedenen Staaten, die mit Gleichgewicht überhaupt nichts zu tun hat:
1. Die Abrüstungsvereinbarungen sehen für das Gebiet der NATO und des Warschauer Pakts bis zum Ural jeweils folgende Höchstgrenzen an Waffensystemen vor: 20000 Kampfpanzer, 30000 Schützenpanzer, 20000 Artilleriegeschütze, 6800 Kampfflugzeuge und 2000 Kampfhubschrauber. Das bedeutet aber, daß die NATO lediglich 2100 Kampfpanzer verschrotten, allein die Sowjetunion aber rund 12000 Kampfpanzer, 12000 Schützenpanzer, 5000 Geschütze und 3000 Kampfflugzeuge eliminieren oder hinter den Ural zurückziehen muß.
Die Aufteilung der Menge an Waffensystemen in den jeweiligen Bündnisgebieten geht noch von einer Frontlage aus, die es gar nicht mehr gibt, so als bestehe noch eine Front mitten in Deutschland und Europa. Waffenquanta werden Zonen zugeordnet; Zentralzone, Aufmarschzone, rückwärtige Zone, Flankenzone; wobei nach der Logik, daß es darum ginge, einen Überraschungsangriff endgültig auszuschließen, die Waffensysteme in der Zentralzone besonders vermindert werden sollen. Nach dem Vertrag und seinen Zahlen erfährt die Konzentration der Waffensysteme in der Zentralzone/West (Deutschland, Benelux-Staaten) eine erheblich geringere Minderung als die in der Zentralzone/Ost (Polen, CSFR, Ungarn). Dieses Verhältnis gilt im Prinzip auch für die anderen Zonen: Der Vertrag legt die einseitige Verdünnung der Streitkräfte auf dem Gebiet des Warschauer Pakts fest. Für die Sowjetunion kommt die Absurdität hinzu, daß ihr europäisches Territorium bis zum Ural in 3 Zonen mit jeweils vorgeschriebenen Waffenquanta aufgeteilt ist: Aufmarschzone (die Militärbezirke Baltikum, Weißrußland, Karpaten), rückwärtige Zone (die Militärbezirke Moskau, Ural, Wolga), Flankenzone (die Militärbezirke Leningrad, Kiew, Odessa, Nordkaukasus, Transkaukasus). Wo sich welche Nationalitäten aufhalten, mag jeder selbst nachschlagen. 2. Unabhängig davon, welche Truppenreduzierungen bzw. Festlegungen von Soldatenmengen für die beiden Bündnisgebiete noch beschlossen werden - die Wiener Verhandlungen über konventionelle Abrüstung befassen sich als nächstes mit dieser Materie -, tut Moskau auf diesem Feld Dinge, die nach der Aufrechnungsart früherer Rüstungsdiplomatie gewaltige einseitige Vorleistungen gewesen wären: Die Sowjetunion ist dabei und fest entschlossen, alle ihre Truppen aus den osteuropäischen Ländern ab- und hinter die Curzon-Linie zurückzuziehen. Demgegenüber steht die - wenn auch verminderte - Präsenz von Truppen der USA und Kanadas in Westeuropa nicht in Frage.
3. Während der Warschauer Pakt sich auflöst, hat die NATO weiterhin Bestand. Die Genehmigung dazu hat sie sich in Paris schriftlich geben lassen. Die Staaten der NATO und des Warschauer Pakts "bekräftigen erneut das Recht jedes Staates, Vertragspartei eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein." (Pariser Erklärung)
V
Die bedeutende militärische Schwächung der Sowjetunion - mag sie auch die zweite Atommacht der Welt bleiben - hat den Militärmächten Westeuropas auch ein Stück Unabhängigkeit verschafft von der anderen Supermacht. So wie bisher brauchen sie die USA nicht mehr. Es gibt den Feind im Osten nicht mehr.
Andererseits kommen die EG und ihre Mächte an der konkurrenzlosen Militärmacht der USA nicht vorbei. Und die ist darauf bedacht, die militärpolitischen Ordnungs- und Unterordnungsverhältnisse des Bündnisses, dessen unangefochtene Führungsmacht sie ist, aufrechtzuerhalten. So kommt das Kuriosum zustande, daß ein Kriegsbündnis weiterbesteht, obwohl es seinen erklärten Feind nicht mehr gibt, ja das Bündnis überhaupt keinen bestimmten Feind kennt. Zweck des Militärbündnisses soll erklärtermaßen sein "Krisenbewältigung weltweit" und, konkreter, die Wappnung gegen "Instabilitäten in Osteuropa".
"Innenpolitische Instabilität und eine neue Teilung Europas nach reich und arm könnten nationalistische Tendenzan und ethnische Konflikte explosionsartig zum Ausbruch kommen lassen." (NATO-Generalsekretär Wörner)
Bei so viel Verantwortung, die sich die NATO herausnimmt, sind die europäischen NATO-Staaten um eine Stärkung ihrer Rolle im Bündnis bemüht, um eine "Europäisierung des Bündnisses".
"Eine größere Beteiligung der Europäer am Entscheidungsprozeß wird sich aus der erweiterten Verantwortung der Europäer ergeben." (Wörner)
Einige "Europäer" müssen schlechte Erfahrungen mit der Golfkrise gemacht haben, an der ihnen ihre Ohnmacht im Vergleich zur Führungsmacht offenbar geworden ist, wenn der Generalsekretär der NATO verlangt,
"nach der Golfkrise müßten das Krisenmanagement und die Krisenverhinderung der NATO verbessert werden."