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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1989 erschienen.
Gorbatschows Diplomatie der Dritten Art
DURCH EINSEITIGE ABRÜSTUNG ABRÜSTUNG ERZWINGEN!
Seit Jahren stört die sowjetische Regierung die heile Welt der NATO-Aufrüstung mit Abrüstungsvorschlägen. Sie hat ernstgemacht mit der - eigentlich als Zurückweisung der "Utopie einer atomwaffenfreien Welt" gemeinten - Mahnung des Westens, die Abrüstung im großen müsse erst einmal klein und konkret anfangen, und das Mittelstreckenraketengeschäft durchgesetzt. Sie macht ebenso ernst mit der - eigentlich als Verweigerung bestimmter nächster "konkreter Schritte" gemeinten - westlichen Parole, Abrüstungskompromisse über bestimmte Waffen wären nur als Teil eines Ganzen, im Rahmen umfassender "Gesamtkonzepte" etwas wert, und wartet beinahe Monat für Monat mit neuen Vorschlägen auf, die unleugbar irgendwie zusammenpassen. Durchgesetzt hat sie hier noch nichts. Die Antwort des Westens heißt nämlich stereotyp: So nicht! Und die Nachfrage: Wie dann? wird, wenn überhaupt, dann mit der Forderung nach einseitigen sowjetischen Vorleistungen beim Abrüsten beschieden.
Auf diese Zurückweisung hat die Sowjetführung sehr seltsam reagiert. Den westlichen Bescheid, die NATO könne bei sich überhaupt kein Stück überflüssige oder entbehrliche Rüstung feststellen, "drüben" dafür aber um so mehr, hat sie ebenfalls nicht als die Ablehnung gelten lassen, die er ist, sondern auch noch beim Wort genommen. Die Abrüstung, über die der Westen mit ihr nicht verhandeln mag, macht sie - nicht an der strategisch entscheidenden, aber an der nächstwichtigsten Front, nämlich der europäischen - einseitig selber. 500.000 Mann sollen demobilisiert werden, davon die Hälfte mitsamt 10.000 Panzern, 8000 Artilleriewaffen, 800 Flugzeugen und Pioniergerät im europäischen Teil des sowjetischen Machtbereichs; die an der Westfront stationierten taktischen Atomwaffen werden abgebaut; die Modernisierung dieser Waffengattung unterbleibt. Quasi eine ganze Bundeswehr soll weg, 12% der Roten Armee; der Militärhaushalt soll um 14% sinken, die Rüstungsproduktion um 20%. Eine im Westen unvorstellbare Maßnahme zur "Haushaltssanierung": Modernisierung der Rüstung durch Sparen. Der Bestand an chemischen Waffen kommt gleichfalls ersatzlos weg; eine Vernichtungsfabrik für Gasmunition geht dieses Jahr in Betrieb; der amerikanischen Aufrüstung mit binären Kampfstoffen wird nichts von der Art entgegengesetzt.
Bei der Verkündung und Verdeutlichung dieses Programms, von der UNO-Rede Gorbatschows über die Ankündigungen seines Außenministers bei der Chemiewaffenkonferenz in Genf bis zu denen beim Abschluß der KSZE in Wien, hat sich die sowjetische Regierung durch die westliche Antwort nicht irritieren lassen. Die hat noch jedesmal vom "Begrüßen" und "vorsichtiger Zustimmung" über den Zwischenschritt "ein Schritt in die richtige Richtung" zu dem "Befund" geführt, im Grunde würde die "Bedrohungslage nicht verändert" und schon gar nicht genug, um auch nur eines der materiellen NATO-Vorhaben überflüssig zu machen, die gleichzeitig vorangetrieben werden - als wie den "Jäger 90" für die europäischen Bündnisarmeen, die "Modernisierung" der taktischen NATO-Atomwaffen, die diese zu einer Art Ersatz für die abgerüsteten "eurostrategischen" Mittelstreckenraketen machen soll, die Sicherstellung der Friedensstärke der Bundeswehr auf lange Sicht durch eine vorsorgliche Wehrdienstverlängerung (man stelle sich diesen Schritt bei einem Warschauer-Pakt-Mitglied vor!) usw. Gegen alle diese Zurückweisungen stellt die Sowjetführung sich taub. Was ist da los:
1.
Die Gorbatschow-Mannschaft handelt so einseitig, als ob ihr bei einer Inventur ihrer Militärbestände die Überflüssigkeit eines vollen Achtels davon aufgefallen wäre. Das kann allerdings nicht die Wahrheit sein. Ein so massiver Eingriff in den Bestand und die Absicht eines völligen Abzugs der Roten Armee aus dem osteuropäischen "Vorfeld" der Sowjetunion, das ist keine bloße Um- und Neugruppierung der verfügbaren Kräfte für die alten Aufgaben mit "Rationalisierungseffekten". Hier wird aus dem Aufgabenkatalog der Roten Armee ein ganzes Kapitel gestrichen; und es ist deutlich genug, welches. Bislang sollte die Schutztruppe gegen den Imperialismus in Europa in der Lage sein, einen Angreifer auf sein eigenes Territorium zurückzuwerfen und dort die Schlacht zu entscheiden - Vorwärtsverteidigung auf russisch. Nun soll weg, was für die Erfüllung dieses Auftrags vorgesehen war. Damit ist dieser Auftrag widerrufen.
Fragt sich, warum.
2.
Eines ist klar: Nichts ist überflüssig geworden, weil das Gegenüber, die NATO, sich geändert hätte und ihr in Europa aufgebautes Militär nicht mehr wie bisher ein druckvolles Gewaltmittel der imperialistischen Allianz wäre. Die NATO rüstet auch in Europa auf, ihre Chefs halten sich eine relativ zum Osten gewachsene militärische Stärke zugute und bezeichnen sie als Basis ihrer Politik; die Steigerungsraten ihrer Rüstungshaushalte gelten als Prüfstein für Bündnistreue und liegen als "mittelfristige Finanzplanung" insofern fest, als sie nur überschritten werden können. Nichts gibt da Grund oder Anlaß, die Bedrohung aus dem Westen geringer einzuschätzen und den Aufbau der Sowjetmacht dagegen zurückzunehmen - allenfalls wären "Um-" und "Nachrüstungen" jede Menge fällig. Eine "Wunderwaffe", die dem Warschauer Pakt eine bessere eurostrategische Position verschaffen würde als seine herkömmliche Verteidigung einschließlich ihrer atomaren Kurzstreckenwaffen, haben aber noch nicht einmal die westlichen Geheimdienste "entdeckt".
3.
So einseitig die sowjetische Abrüstung ist: Es fällt auf, daß sie eine "Entsprechung" im Westen hat, und das ist der Katalog der NATO - Beschwerden über die östliche Militärmacht. Bis in Details haken Gorbatschows Ankündigungen ab, was der Sowjetunion seit jeher als "Überrüstung" und seit neuerem als "Invasionsfähigkeit" vorgeworfen wird: die vielen Panzer, die motorisierte Artillerie, das Hilfsgerät für schnelle Vorstöße usw.; daneben die Kurzstreckenraketen, auf deren überlegene Menge insbesondere die Bundesregierung gerne deutet, um gleich anschließend vor einer vertraglich zu vereinbarenden "Null-Lösung" für diese Waffengattung zu warnen. Punkt für Punkt kann die NATO sich ins Recht gesetzt sehen mit ihrem voreingenommenen antisowjetischen "Streitkräftevergleich".
Das kann kein Zufall sein. Worin besteht die Absicht?
4.
Die westlichen Anklagen gegen die sowjetische Rüstung, die größer sei als "zur Verteidigung nötig", sind schwerlich als Tip unter Kollegen mißzuverstehen, wo die Militärplaner drüben problemlos sparen könnten. Diese Vorwürfe erfüllen den Tatbestand politischer Hetze, indem sie die Art und Weise, wie sich die Rote Armee ihren Schutzauftrag für das Sozialistische Lager zurechtgelegt und eingeteilt hat, unmittelbar für den politischen Willen nehmen, dem Westen Gelände zu rauben, also bei Gelegenheit den Frieden zu kündigen und vorwärtszumarschieren. Militärs mögen es, besser wissen, aber die Bedrohungsgemälde der NATO leben alle von dem berechnenden Kurzschluß von der Fähigkeit zum "raumgreifenden Vorstoß" auf eine Aggressionsabsicht des Gegners.
Der Abrüstungsplan, den die Sowjetführung als ihre neue politische Linie für Europa - als Beispiel für "neues Denken" - propagiert und der so aussieht, als hätten die NATO-Ideologen dafür das Drehbuch verfaßt, ist auf diese westliche Anklage der sowjetischen Sicherheitspolitik bezogen. Frühere Regierungen haben die Unterstellung einer Angriffsabsicht zurückgewiesen, ihre schlechten Erfahrungen mit dem Imperialismus geltend gemacht und ihrerseits dem Westen seine vielfach bewiesene Aggressivität vorgehalten. Gorbatschow will statt dessen die NATO-Ideologie von der "roten Gefahr" entkräften. Das ist ein Umsturz dessen, was man im Westen "Sicherheitsphilosophie" nennt. Das sowjetische Abrüstungsprogramm erfüllt den Tatbestand einer Selbstkritik - und so ist es auch gemeint -, die so tut, als hätte der klassische Parteiauftrag zur Vorwärtsverteidigung an der Westfront den westlichen Verdacht auf aggressive Absichten der Roten Armee gerechtfertigt. Ein ganzer Kriegsauftrag ans eigene Militär wird storniert, weil man sich im Kreml dem NATO-Standpunkt nicht mehr verschließen mag, eben dieser Auftrag hätte die europäische Bedrohungslage überhaupt erst - mit - hergestellt, die ihn nötig macht. Wenn man ihn also streicht, dann braucht man ihn auch nicht mehr: Mit diesem selbstkritischen Optimismus gelangt die Sowjetführung zu ihrer einseitigen Auffassung, ein Achtel ihrer Armee wäre allen Ernstes entbehrlich.
5.
Diese Politik ist riskant. Es stimmt zwar, daß Gorbatschow von der letztlichen Gewährleistung sowjetischer Sicherheit ausgehen kann. Es ist aber ziemlich zweifelhaft, ob ausgerechnet dieser "Retter der Menschheit vor dem Atomkrieg" mit dem Ideal der Abschreckung in dem Sinn Ernst macht, daß er für den Fall europäischer "NATO-Abenteuer" die Eskalation des letzten Mittels vorsieht. Was die europäische Front betrifft, mag es auch manchen sowjetischen Kader geben, der schon lang der Meinung ist, die Rote Armee übertreibe es mit ihrem Aufwand. Es gibt auch sicherlich östliche Militärs, die eine westliche Effizienz in Strategie und Rüstungsfragen entdeckt haben, die sie bewundern und an Stelle einer altertümlichen "Tonnenideologie" in die Rote Armee einführen möchten. Das Schlagwort der "Hinlänglichkeit der Verteidigung" macht drüben die Runde. Das alles ist aber nicht ausschlaggebend für den Abrüstungsvorstoß Gorbatschows. Der will einen politischen Neuanfang setzen und die gesamte Bedrohungssituation in Europa von sowjetischer Seite her neu definieren, und zwar praktisch: Die Lage soll weniger gefährlich sein, weil und dadurch, daß man sie - soweit es an der Roten Armee liegt weniger gefährlich macht. Dadurch wird sie natürlich für die Sowjetunion erst einmal gefährlicher; denn die mindert so ja ihr Abschreckungspotential und eröffnet der NATO die Freiheit, in einem geänderten europäischen Kräfteverhältnis neue strategische Chancen zu suchen. Darüber setzt sich Gorbatschow mit seiner Initiative sehr souverän hinweg. Außer einer Sinnkrise bürdet er der Armee die Aufgabe auf, mit deutlich weniger Mitteln womöglich genauso gut klarzukommen wie bisher. Denn immerhin: Gestrichen ist die "Vaterlandsverteidigung" ja keineswegs, auch nicht für die Europa-Front.
6.
Die Rechnung mit einer Entschärfung der Lage durch "Entschärfung" der eigenen Verteidigung kann auch für Gorbatschow nur aufgehen, wenn der Westen sie im sowjetischen Sinn mitmachen, also eine beiderseitige Abrüstung zugestehen würde. Daß die NATO das tut, darauf spekuliert die sowjetische Abrüstungsinitiative in ihrer Einseitigkeit - einerseits -, als wäre das so gut wie sicher. Gorbatschow handelt mit seiner praktischen Kritik am bisherigen Militärkonzept ja so, als nehme er die westlichen Vorwürfe mit ihrer "Ableitung" einer immerwährenden, prinzipiellen sowjetischen Aggressionsdrohung aus dem Arsenal und den Fähigkeiten der Roten Armee, also die Lebenslüge der NATO, für bare Münze - und womöglich tut er das sogar. Damit ist sein einseitiges Vorgehen aber - andererseits - der Versuch einer politischen Festlegung der NATO darauf, daß ihr militärischer Aufbau in Westeuropa nichts als der defensive Umgang mit der westlicherseits gesehenen Bedrohungslage sei. Indem sie das vom Westen definierte Hindernis für gute Beziehungen, nämlich ihre angebliche einseitige Bedrohlichkeit, einseitig außer Kraft setzt, dringt die Sowjetunion auf den Abbau der Konfrontation in Europa, auf die Beseitigung der Feindschaft und auf die Eröffnung neuer Beziehungen auf der Basis prinzipiellen Einvernehmens.
7.
Dieses sowjetische Vorgehen bringt die NATO, gewollt oder nicht, in diplomatische die Wahrung des Gesichts betreffende - Bedrängnis. Denn es ist, gerade weil es nicht als "bloße Taktik" abzubuchen ist, sondern die imperialistische Allianz mit einem substantiellen Eingriff in die militärische Lage konfrontiert, ein Test darauf, ob mit der NATO überhaupt auszukommen ist - oder ob die für ihre Feindschaft gegen die sozialistischen Staaten nicht in Wahrheit ganz andere Gründe hat als ihre offiziellen; Gründe, die durch noch so viel sowjetisches Entgegenkommen gar nicht zu entkräften sind. Die "Testbedingungen" sind so eingerichtet, daß sie kaum ein vieldeutiges Ergebnis zulassen: Entweder kommt so eine innereuropäische Abrüstungsdiplomatie in Gang, die, wie Schewardnadse es bereits reklamiert hat, die einseitige Entschärfung der Konfrontation auf dem alten Kontinent in eine beiderseitige einvernehmliche Annullierung dieses Gegensatzes überführt, - oder überhaupt nicht. Einmal mehr macht die Sowjetunion das Paradox wahr und erpreßt den Westen zu einer "Normalisierung" im sowjetischen Sinn - durch Nachgiebigkeit.
8.
Mit seiner Bedrängnis wird das westliche Bündnis schon wieder fertig. Es hat ja schon Erfahrung darin, die Nachgiebigkeit der Kreml-Mannschaft zu kassieren und für die als Gegenleistung gewährten Verhandlungen gleich einen neuen Preis zu fordern. "Problemfelder" gibt es ja genug. Der Abschluß der KSZE-Folgekonferenz in Wien hat bereits die Weichen gestellt: Ohne Zersetzung des realsozialistischen Systems im Sinne der "Menschenrechtswaffe" und ohne Beseitigung der "Spaltung Europas" müssen die sowjetischen Abrüstungsinitiativen schon wieder "unglaubwürdig" bleiben.
Für diese politische Doppelstrategie der Zurückweisung sowjetischer Verständigungsgesuche und der Zerstörung des gegnerischen Systems hat sich die NATO bislang noch immer auf den unbedingten sowjetischen Willen verlassen können, kein negatives "Testergebnis", keine westliche Zurückweisung der östlichen Versuche einer "Erpressung zum Frieden" als letztes Wort gelten zu lassen. Offenbar ist in der Weltpolitik heute nichts so strapazierfähig wie der Friedenswunsch der russischen Sozialisten.
9.
Es wäre überhaupt nicht verwunderlich, wenn sich das unter oder nach Gorbatschow wieder einmal verändert.