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KRITIK - WIE GEHT DAS?
An kritischen Zeitgenossen mangelt es wahrlich nicht. Durch Rundfunk und Fernsehen, durch den "Spiegel" und die "Bild"-Zeitung, durch die freie Wissenschaft und die konkurrierenden Parteien aufgeklärte Erdenbürger machen es sich geradezu zur Pflicht: kritisch zu sein. Diese Haltung gilt als ebenso modern wie ehrenwert. Dabei erklärt sie das Kritisieren zu einem Anspruch, der immer und überall fällig und berechtigt ist - als ob es nicht ein wenig davon abhinge, was einer vor sich hat, wenn er Einwände vorbringt. Mit der Allgegenwert des "kritischen Bewußtseins" hat freilich auch nicht die Kritik ihren Aufschwung genommen: populär geworden ist der kategorische Imperativ, Gott und die Welt mit Verbesserungsvorschlägen zu überschütten. Die begründete Ablehnung einer Sache - jenes theoretische Handwerk, das den Namen 'Kritik' verdient - ist so gut wie ausgestorben. Weil sich die mündigen Bürger, als Zeitungsleser, Gewerkschafter, Fußballtrainer und Frau jedes Nachdenken über ihre kleinen und großen Lebensumstände ausschließlich als Sorge u m sie zurechtlegen. Die ganze nationale demokratische Mannschaft übt sich pflichtbewußt in der absurden Disziplin der konstruktiven Kritik, ganz als ob es das selbstverständlichste von der Welt wäre, daß aus Einwänden Verbesserungsvorschläge folgen. An allem, woran rechtschaffene Bürger Anstoß nehmen, wollen sie auch hilfreich mitwirken. Im Geiste konstruktiver Kritik zeigen die Medien Verständnis für die "Probleme" des weltweiten Mord und Totschlags, für jedes Dilemma der Macher beim Staatshaushalt und Stimmenfang - um dann beim Wetterbericht radikal-kritisch zu werden - "für die Jahreszeit zu kühl"!
Das muß man sich erklären.
1. Motiv und Durchführung von Kritik
Insofern Kritik die Unzufriedenheit zum Ausdruck bringt, die sich einstellt bei den Erfahrungen der verschiedensten Art - mit anderen Leuten, mit Gegenständen des Bedürfnisses, mit natürlichen und gesellschaftlichen Umständen - ist sie allgegenwärtig; auch in Litauen und Rußland. Sie zeugt davon, daß mit dem Gebrauch des Verstandes noch jedes moderne Individuum sich den Genuß nicht nehmen läßt, sich zumindest theoretisch zum Richter über die kleinen und großen Affären der Welt aufzuschwingen. Hinz und Kunz, Papst und Präsident prüfen alles nach ihren Maßstäben; vom Kondom über die Arbeits- resp. Freizeit bis zur Weltraumfahrt.
Alle Lumpen, aber auch alle sittlich intakten Zeitgenossen sind in der Lage,
- erstens einen Vergleich anzustellen zwischen ihren Bedürfnissen, Erwartungen und Interessen auf der einen Seite - und dem, was die Welt dafür hergibt.
- zweitens diesen Vergleich nicht als solchen anzumelden und die Willkür des persönlichen Maßstabs zu betonen, sondern als Urteil über die Sache vorzutragen, die einem nicht paßt.
So sehr also ein verletztes Interesse, eine enttäuschte Ewartung oder ein zu kurz gekommenes Bedürfnis das Motiv von Kritik abgibt, so wenig wollen die Kritiker aller Länder und Stände sich darauf beschränken, nach guter Gong-Manier ein Protokoll auszufüllen, das aus den beiden Sparten "was ich mag" und "was ich nicht mag" besteht. Dergleichen wäre eine Auskunft über die Vorlieben, den Geschmack, die "Persönlichkeit", den "Charakter" dessen, der besagten Vergleich anstellt, aber keine Kritik an etwas. Wenn das Kritik ware, bliebe sie allemal untergeordnet unter die Selbstdarstellung des Subjekts, das die Welt sichtet. Wo nicht die Form des Urteils bemüht wird, sind auch die Maßstäbe der Kritik, ihre Kriterien nebensächlich. Sie mögen sonstwie beschaffen sein, als gültigen Einwand will solche Selbstdarstellung sich nicht präsentieren, und als solche wird sie auch nicht mißverstanden.
Umgekehrt geht mit der Form des Urteils das subjektive Moment keineswegs verloren. Daß da ein "Ich" etwas auszusetzen hat, leidet nicht darunter, daß es die "Sache" für seine Beschwerde verantwortlich macht - im Gegenteil: s o erst verleiht man einem Einwand Gewicht, indem man ihm das Odium der bloß partikularen Stellungnahme nimmt. Statt zu sagen: "Mir schmeckt das nicht"; "ich finde keinen Gefallen daran".. ergeht der Befund: "Es taugt nichts!". Ein bißchen Anspruchsdenken ist immer dabei, wenn ein Kritiker am Werk ist. Wo der Vergleich zwischen seiner Subjektivität und dem Rest der Welt nicht aufgeht, soll das gegen die Welt sprechen und nicht gegen ihn. Objektivität wird so zum Ausweis der Berechtigung dafür, daß sich das Subjekt nicht einverstanden erklärt. Wissen um das Objekt der Kritik wird zur Bedingung dafür, daß sie sitzt. So schwer geht Kritik. Kein Wunder, daß da laufend Fehler gemacht werden. Absicht und Durchführung stehen da laufend auf Kriegsfuß miteinander.
2. Die Ernennung des praktischen Gefühls zur kritischen Instanz
Jedermann vertraut ist diese Art der Auseinandersetzung mit den Umständen, unter denen man sein Tagwerk verrichtet, sein Pflicht- und Kürprogramm abwickelt. Es wäre nach dem bisher Gesagten eigentlich gar nicht der Mühe wert, das banale Verfahren zu würdigen, das dauernd und überall zur Anwendung gelangt. Die Rede ist von der Elementarform des Vergleichs, in der das praktische Gefühl als Maßstab in Anschlag gebracht wird, aber gar nicht erst die Anstrengung unternommen wird, zum Urteil überzugehen. Eine kleine Analyse lohnt sich jedoch insofern, als diese Elementarform als Kritik salonfähig geworden ist und als quasi kritische Haltung anerkannt wird.
Etwas als angenehm oder unangenehm zu empfinden - sei es das Wetter, die "Atmosphäre" auf einer Vernissage oder auf einer politischen Veranstaltung, ein Mädchen oder einen Mann etc. -, dergleichen hat für sich genommen nur einen Grund: man selbst ist sich Maßstab geworden, aber man hat noch keinen bestimmten. Ein Individuum hat sich verglichen mit seiner Umgebung, in dem sich einstellenden praktischen Gefühl konstatiertes Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung. Die Begutachtung gilt allein dem Verhältnis, ein Befund über das Objekt ist noch gar nicht ergangen. Und dennoch: Soll damit wirklich nur gesagt sein: "Das Mädel paßt nicht zu mir "? oder nicht doch schon: "So ein Krapfen!"? Der Übergang: "So ein nettes Mädel, und ich habe so einen schlechten Geschmack!" ist jedenfalls ziemlich selten. Die Absicht der Kritik ist unverkennbar, die Schuld für die Nichtübereinstimmung soll aufs Objekt der Begierde geschoben werden und tatsächlich geht so etwas ja auch als Kritik durch. Aber sie ist gar nicht durchgeführt.
Auf den wackligen Charakter dieser Technik der Begutachtung vereisen schon die individuellen Unterschiede - dem einen kommt's ganz "nett" vor, dem anderen "unmöglich" -, die sich in den jeweiligen Stellungnahmen niederschlagen. Ganz unbegründet passieren da erst einmal die persönlichen Vorlieben, die "Wellenlänge" etc. als das vergleichsweise Entscheidende; mit dem Anspruch, der werten Persönlichkeit möge alles gemäß sein. Warum eigentlich? Nicht daß dieser Anspruch moralisch vewerflich wäre - der fragliche Vergleich wird allemal angestellt, wo einer seinen Verstand auf die Welt richtet -, aber eine Kritik kommt eben nicht zustande, wenn einer das Repertoire seiner Urteilskraft in "ich finde"-Sätzen erschöpft.
Das alles wäre locker zu vernachlässigen, wenn nicht laufend Schindluder mit dieser für sich wenig bedeutsamen Betätigung der Eitelkeit getrieben würde. Sie ersetzt unter manchen Umständen Kritik, weil - und dort, wo - die Berufung auf die mißachtete Partikularität, die Forderung, andere möchten dem eigenen Gemüt entsprechen, für Aufrichtigkeit gehalten wird. Und für den Beweis, daß da wirklich jemand gute Gründe hat, Einspruch zu erheben.
So hat es sich eingebürgert, daß leibhaftigen Menschen so ab dem 16. Lebensjahr geläufig ist, etwas "irgendwie" "echt bescheuert" zu finden. Das etwas mag ein Auto sein, eine Vorlesung oder die Mama, jedenfalls entspricht es nicht den Vorstellungen. Der Vergleich wurde also angestellt, und nicht nur das. Es ergeht ein ablehnendes Urteil über die Sache. Was an der kritikabel ist, sagt das Urteil allerdings gar nicht - sie ist, "irgendwie" kritikabel. Eine Kritik ist intendiert, deswegen wird die Form des Urteils gewählt. Aber statt eines Inhalts, der die Kritik begründen könnte, wird eine Leerstelle angeboten. In der Tat war also nur der Vergleich am Werk, aber der wird als fertige Kritik vorgetragen.
Wo schon die Jugend solche Künste beherrscht, da ist einem Politiker vom Schlage unseres Oppositionsführers die Anwendung dieser Technik eine leichte Übung. Der fängt nicht jeden zweiten Satz mit "ich finde..." an, sondern mit "ich finde es unerträglich, daß...". Hier tritt ein Mensch an, der in aller Bescheidenheit zu Protokoll gibt, daß er sich als das Argument seiner Kritik versteht. Dem Mann ist es zur lieben Gewohnheit geworden - das hängt mit seinem Beruf zusammen -, daß seinen Ansprüchen genüge getan wird und er darauf ein Recht hat; und deswegen hält er es für gar nicht peinlich, als lebende Heulboje, als personifizierte politische Rechtschaftenheit das pure Faktum der Unangemessenheit zu bekräftigen.
Solche Unart ist überall am Werk, wo die eigene Betroffenheit als Einwand daherkommt. Und das geschieht leider ziemlich häufig. Wo immer es in dieser Repuhlik etwas zu protestieren gibt - gegen die Gesundheitsreform, Tiefflüge, Rüstung oder Atomanlagen - melden sich Leute zu Wort, die sich schwer darauf verstehen, sich als beleidigte Kreaturen vorzuführen, und damit meinen, ihr Soll an Kritik schon erfüllt zu haben. Dabei haben sie, statt über den Laden zu reden, der ihnen mißfällt, nur über ihren Gemütszustand Auskunft gegeben.
Die psychologische Seite solcher Beschwerdeführung kennzeichnet die zum Protest angetretenen Bürger als Zeitgenossen, die ausdrücklich auf Kritik wenig Wert legen. Mit der Beteuerung ihrer "Betroffenheit" zitieren sie lediglich den Ausgangspunkt für Einwände; sie demonstrieren, daß sie geschädigt sind und "nur" deswegen eine Wortmeldung wagen. Deren Inhalt kürzt sich auf den Nachweis der moralischen Berechtigung der Klagen zusammen, die Pose des Opfers wird zum Argument - für die Glaubwürdigkeit, an deren Inszenierung so enorm viel zu liegen scheint. Die Mitteilung, die da an regierende und maßgebliche, an regierte und unmaßgebliche Adressaten ergeht, ist entsprechend beschränkt. Gebeten wird um den Nachvollzug einer durch und durch berechtigten Empörung über zweifelsfrei verletztes Interesse.
Die politische Seite, die das Verfahren offenbart, ist kein Geheimnis. Wer möglichst viel "konkrete Betroffenheit" in die Waagschale wirft, setzt auf ein unausgesprochenes Argument und dessen Anerkennung, insbesondere bei denen, die "Verantwortung" tragen. Die Unvereinbarkeit der zitierten Leiden mit allem, was in Staat und Gesellschaft gilt, was rechtens ist, Auftrag der Instanzen, die das Sagen haben, ist allemal gemeint. Und das ist insofern eine Absage an Kritik, als die Unvereinbarkeit der Interessen mit den geheiligten Prinzipien und den politischen wie wirtschaftlichen Grundrechnungsarten, die in Kraft sind, gar nicht in Betracht gezogen wird. Die Ehrbezeugung vor der geschätzten Ordnung, der man die Herstellung der eigenen Betroffenheit gar nicht zugetraut hätte und eigentlich auch nicht zur Last legen will, ist die Kehrseite des bestürzten Deutens auf die schlechten Erfahrungen. lnsofern verweist das landesübliche Betroffenheitsgetöber in lokalen wie nationalen Bürgerprotesten stets auf die Anstrengung, das Vertrauen in die Instanzen gerade nicht kündigen zu wollen.
Und der Ausgangspunkt der kritischen Umtriebe, die Unzufriedenheit wegen erlittenen Ungemachs, entpuppt sich als Anlaß für den Verzicht auf Kritik - statt als Stachel für ihre Durchführung zu dienen. Die Gewißheit des praktischen Gefühls, das vergleichend zu Werk geht, wird ersäuft in der idealistischen Formulierung eines Antrags, der ohnehin nichts anderes verlangt als das, was einem zusteht. Weil es nämlich Iängst gewährt wird und nun blöderweise eine schlechte Erfahrung vorliegt, die Zweifel an der Einlösung erhaltener Versprechen rechtfertigt.
Das verletzte Interesse kommt auf diese Weise nur noch bedingt zu Wort. Es ist einem vertretbaren Maßstab untergeordnet, der seine Bedienung verheißt.
3. Der Ersatz des Urteils durch den vorgebrachten Maßstab
"Betroffene" rechnen erst gar nicht mit der Frage "Was paßt dir denn nicht?" - und die Frage bleibt auch aus. Entweder, weil die Zeugen der Beschwerde einen Inhalt heraushören, den das beleidigte Subjekt zu seiner Sache gemacht hat, oder weil sie ihn gleich teilen auch noch. Sie merken, als was sich empört wird.
Solider wirkt freilich ein kritischer Standpunkt, der sich offenbart; der ein Kriterium angibt, das im Kritiker seinen Verfechter gefunden hat. Besser wird es allerdings dadurch auch nicht. Das "als" - "Ich als Liebhaber der schönen Künste"; "als Arbeitsloser" usf. - unterstreicht ja nur, daß es der subjektiven Einstellung zu verdanken ist, wie die Kritik ausfällt. Es ist, als wollte der Standpunkt seine Beschränktheit bekennen: "Mit dem von mir ins Spiel gebrachten Interesse, oder auch nur mit ihm, ist folgendes verwerflich, böse und verkehrt!" Leider ist solches Bekenntnis weder Absicht noch die Seite, die wahrgenommen wird.
Wie reagiert denn das Publikum, wenn der Ärzteverband, die Gewerkschaft der Polizei oder die Amtskirche aufjaulen, bloß weil in irgendeiner Schwarzwaldklinik einer der Ihren seinem Stand keine Ehre gemacht hat? Wird denn der Anspruch zurückgewiesen, Unterhaltungssendungen mögen sich als Anstalten gelungener Standeswerbung und entsprechender Volkserziehung bewähren? Muß solch ein Einwand überhaupt rechnen mit der Entgegnung: "Endlich mal eine gute Sendung, die Polizisten schlechtmacht. Ich als Verbrecher..."? Das ganze Argument steht und fällt mit der Anerkennung, die dem Standpunkt entgegengebracht wird, von dem aus die Welt kritisch gesichtet wird. Es findet nach wie vor ein bloßer Vergleich statt, der den Mangel der inkriminierten Sache gar nicht an ihr festmacnt. Das Beurteilen ist reiner Schein, der Maßstab ist alles.
Dieser Logik des Vergleichs verdankt sich jede Kritik, die ihren Gegenstand negativ kennzeicnnet, ihn als "unsozial", "undemokratisch", "grundgesetzwidrig" etc. brandmarkt. Allemal lernt man nur das Subjekt der Kritik kennen ; das je nach dem viel von "der Gesellschaft" oder der Demokratie hält oder hinter dem Grundgesetz steht. Berechnet ist solche Vorstellung heuchlerisch auf die Billigung des Anliegens, als dessen Verfechter man sich präsentiert. Die Unwidersprechlichkeit von gemeinhin respektierten Gewerben, Staatsregeln und Sorgeobjekten gibt das ganze Argument ab. Und das tut der Kritik gar nicht gut. Das Ich, dem etwas nicht paßt und das deswegen einen Einwand loswerden will, hat nämlich vor dem als zurückzutreten, will es die Wucht allgemeiner Anerkennung für sich in Anspruch nehmen. Bei der Auswahl des Kriteriums wird daher schwer darauf geachtet, daß es nicht "bloß" als partikulares daherkommt. Und das hat einen Haken: Wer sich beispielsweise in der Absicht, gegen Wakkersdorf ein schlagendes Argument ins Feld zu führen, zum Anwalt demokratischer Verfahrensweisen macht und als solcher auf dem 'undemokratisch' herumreitet, der hat mit der Zurückweisung zu rechnen, daß die WAA vor diesem Maßstab in Ordnung geht, weil sie demokratisch beschlossen wurde. Und, spricht das nun für sie oder gegen das Kriterium?
Es ist das Motiv der Verallgemeinerung des Standpunkts, der Wille, Kritik nicht als Begründung eines Gegensatzes (der allemal unterstellt ist), sondern als Tour der Vereinnahmung durchzuziehen, der Kritik zu ihrer eigenen Karikatur werden läßt: Da treten Leute im Namen des Menschen an, bloß um sich sagen zu trauen, was ihnen nicht schmeckt. Bloß um keinen Gegensatz aufkommen zu lassen, werfen sie munter Verursacher und Betroffene, Herrschaft und Untertan, Nutznießer und Benutzte in einen Topf, aber dann werden sie - gegen wen eigentlich noch? - kritisch! Das heißt: nicht sofort. Erst müssen sie noch den Verdacht ausräumen, ihnen ginge es doch bloß um durch dies und das geschädigte Menschen. Also müssen sie vorher noch ein wenig allgemeiner werden und über die "Menschheit", "die Zukunft" usf. daherfaseln... So daß ihre Kritik garantiert nicht des 'Egoismus' verdächtigt werden kann.
Was wird eigentlich gewonnen gegenüber dem platten Einsatz des praktischen Gefühls? Derselbe Mangel erhält einen Inhalt, welcher das Verhältnis der Unangemessenheit, die man erlebt haben will, bekräftigt; und zwar durch den werbenden Zusatz, so könnten es doch wohl alle sehen; als ob eine Kritik dadurch stichhaltiger würde. Der Kritiker beruft sich auf ein Sollen, an dem sich die Welt blamiert; er konstruiert sein Interesse zum Kriterium zurecht, dem er sich unterwirft, was er dann auch von jedermann verlangen kann, dem es ebenfalls um echt unpersönliche Anliegen zu tun ist. Ein paar Fallbeispiele für diesen zweiten Typus von Kritik:
a) "Das war keine Werbung für den deutschen Fußball." - Und wenn sie nur verloren haben, weil die anderen besser waren? Vielleicht haben sie ja auch Fehler gemacht und sich von einem Konter überraschen lassen - das ist aber nicht die Kritik. Es heißt auch nicht einfach: "Mir hat das Scheißspiel nicht gefallen." Hier spricht ein Nationalist. Den Standpunkt seines Vergnügens stellt er zurück hinter das Nationalinteresse, und weil er das tut, hat er auch ein Recht darauf, daß auch die begutachteten Kicker dem nachkommen. Von diesem Gesichtspunkt aus wird er kritisch: Die haben sein Recht vergeigt; Fußball spielt man doch nicht zum Spaß...
b) "Der Jäger 90 ist zu teuer und funktioniert nicht richtig." - Hier spricht schon wieder ein Mann der Nation, der ideell ihre Sicherheit und ihren Geldbeutel verwaltet. Zu welchem Preis ginge er denn in Ordnung? Gibt's wirklich nichts Schöneres als eine preiswerte Aufrüstung mit Waffen, die alles verläßlich in Schutt und Asche legen, wenn's verlangt ist? Das Anliegen soll nicht vertreten werden - und doch ist es zum hilfreichen Maßstab von auf Glaubwürdigkeit erpichter Kritik erkoren worden. Zu dem bequemt sich einer, der es für einen Mangel des Einwands hält, wenn e r ihn hat. Deswegen begibt er sich ideell in die Führungsspitze des Staats, um seine Kritik als Sorge um den Staatshaushalt und die Funktionstüchtigkeit der Armee vortragen zu können. Er mag sich dabei sehr "realistisch" vorkommen - was er vermeldet, ist purer Nonsens: Waffen blamieren sich nicht an ihrem Preis. Es wäre ja noch schöner, wenn ein Staat ausgerechnet seine Kriegsmittel mit den kleinlichen Bedenken belegen würde, die einem sparsamen Bürger bei seinem Geldbeutel einfallen.
c) "Die Russen haben mehr Waften, als zur Verteidigung nötig." - Das sagt einer, dem die Russen nicht passen! Um das zu sagen, nimmt er deren Position ein und tut so, als hätte er geprüft, was es zur Verteidigung Rußlands an technischem Gerät braucht. So einer käme sein Lebtag nicht auf die Idee, dem Westen Übles nachzusagen, aber um etwas gegen die Russen in der Hand zu haben, läßt er es sich kurzzeitig einmal einleuchten, daß man sich auch vor dem Westen vorsehen muß, und daß es dazu schon einiges an Kriegsapparaten braucht. So hat er seinen "vernichtenden" Einwand beisammen, der die Russen wehrlos machen soll. Die können nun wirklich nichts mehr gegen ihre Entwaffnung sagen, wenn sie so russenfreundlich begründet wurde.
d) "Kohl ist intellektuell gesehen eine Null." - Ein ganz und gar niveauloser Einwand. Er unterscheidet ja noch nicht einmal nach 'wesentlich' und 'unwesentlich' richtig. Für vernachlässigenswert hält er alles, was den Beruf des Politikers auszeichnet, was für ein Geschäft das ist, welchen Zwecken es gehorcht, welche Karrieren es verspricht usf. Für entscheidend hingegen, daß ein Politiker geistreich ist, immer ein Bonmot auf Lager hat und seinen Goethe zitieren kann. Die banalste Erinnerung an das, was ein Politiker tut, beißt sich mit diesem Einwand. Braucht man denn Geist und intellektuelle Bravour fürs Rentenkürzen und Wehrdienstverlängern? Ist denn das Ausüben von Macht und das Erlassen von Vorschriften, an die sich die anderen dann halten müssen, wirklich so eine anspruchsvolle Tätigkeit? Ist denn umgekehrt etwas gewonnen, wenn ein blitzgescheiter Bundeskanzler diese Tätigkeit ausübt? - Ein Kriterium wird da in Anschlag gebracht, das völlig sachfremd ist: "Ich als Bürger möchte durch ganz kluge Geister bedient werden, wenn ich mich schon von ihnen deckeln lasse..."
Sicher lassen sich auch solche reifen Leistungen mündiger Bürger noch mit der Formel "ich finde..." einleiten. Daß sie jedoch mit der unbefangenen Stellungnahme des praktischen Gefühls nichts mehr zu tun haben, zeigt sich am Gewand, in das das "ich" schlüpft, um seine Ablehnung vorzubringen. Es tritt auch nicht mehr in der Rolle auf, die es im gesellschaftlichen Leben hat und deren Anliegen es als sein prüfendes Interesse vorbringt. Der Maßstab der vollzogenen Prüfung ist ein konstruierter - ihn erfährt der Zeuge dieser Kritik und dafür nichts über das der Untauglichkeit geziehene Objekt: Es entspricht schlicht und einfach nicht dem Gesichtspunkt, den sich der Kritiker zugelegt hat.
4. Von der Moralität, indbesondere des freien Meinens
Dabei kann von Willkür in der Wahl des Standpunktes, vor dem sich Ereignisse, Personen und ihre Leistungen etc. blamieren, keinesfalls die Rede sein. Subjektiv sind die Kriterien der in der Demokratie zirkulierenden Mängelrügen nur in der Hinsicht, daß die mündigen Bürger sie sich zurechtgelegt haben. Spontaner Ausdruck eines "einfach so" vorhandenen Interesses sind sie aber nicht, mit der Freiheit ihres kritischen Meinens nehmen es wohlerzogene Demokraten nicht so ernst. Sie tragen durchgängig ihre Kritik im Namen eines unabhängig von ihrer Entscheidung bereits in Kraft befindlichen Standpunkts vor. Als wollten sie betonen, daß die Schädigung ihrer eigenen Anliegen nie und nimmer einen guten Grund für Kritik abgeben könnte, postulieren sie stets allgemeine Interessen, für die sie sich stark machen - quasi u m kritisieren z u dürfen. Und es macht ihnen gar nichts aus, das sie mit diesem Verfahren so ganz nebenbei zu Protokoll geben, wie wenig für sie ihr besonderes Interesse zählt. In der Berufung auf menschheitlich-nationale Ehrentitel - in deren Namen längst die Herrschaft ihre Politik sprachgeregelt "verkauft" - entdecken sie die Stärke ihrer Kritik. Der sittlich gültige Maßstab - ein öffentlich-rechtlich beglaubigtes Interesse, ein anerkannter Wert soll die Überzeugungskraft ihrer Bedenken garantieren. Schließlich begeben sie sich mit solchen Vor- urteilen, angelegt an den Gegenstand ihrer Klage, in Übereinstimmung mit vielen anderen, sogar mit dem Objekt ihrer Anklage. Dessen Grund und Zweck wird rücksichtslos dem geheiligten allgemeinen Grundsatz zugeschlagen, so daß heute nichts mehr passiert, ohne daß es den Arbeitsplätzen, der Umwelt, dem Frieden und uns Deutschen insgesamt gewidmet oder abträglich ist.
Diese Kritik wähnt sich unwidersprechlich im Nachweis, daß der Kritisierte dem Kritiker lässig zustimmen könnte; das er gegen seine eigenen Maßstäbe verstößt und sich damit am meisten schadet. Die Konstruktion solcher "Interessen" durch ein Kriterium, in dessen Namen Bürger ihre Einsprüche wagen, macht freilich eher die Schwäche ihrer Kritik aus. Wenn sie so Widerspruch einlegen, kritisieren sie nicht den Gegenstand, der ihnen nicht paßt, sondern rechtfertigen ihre Unzufriedenheit. Beständig führen sie den Beweis, daß sie es gut meinen mit ihrer Kritik, daß wirklich niemand dagegen etwas haben kann, weil ihr Interesse sich grundsätzlich im Einklang mit dem Rest der Welt befindet. Das wird gar nicht zufällig zum Hebel der Gegenseite, die im Opportunismus dieser Sorte Kritik leicht das schwächliche Echo auf die kräftigen Prinzipien bemerkt, die sie vewaltet. Denn die Kritiker, die es nur mit der Welt und ihren anerkannten Prinzipien halten, verpflichten sich schließlich damit selber auf ihren Dienst an der Sache und werden von den Anwälten des Kritisierten entsprechend geprüft. Der Kritiker wird auf den Standpunkt seines Einwands verpflichtet und muß sich die Frage gefallen lassen, ob e r in die Landschaft paßt. Und diese Umkehrung hat allemal mehr Gewicht. Denn die zur Kritik beanspruchten Maßstäbe fallen ja in die Zuständigkeit der Gegenseite; an der darf sich der Kritiker blamieren. So machen sich demokratische Kritiker mit ihrer Übersetzung des Interesses in einen gültigen Standpunkt zum Blödel derjenigen, die diesen Standpunkt qua ihrer Macht glaubhaft vertreten. Noch jeder Titel, unter dem in dieser Republik Kritik angemeldet worden ist - Frieden, Frauen, Umwelt, Arbeitsplätze -, ist so als schlagendstes und durch die Kritik geläutertes Mittel der Blamage jeden Einwands in die offizielle Propaganda eingegangen.
Insofern ist dieser Typus von Kritik seiner Natur nach bei "denen oben" am besten aufgehoben, weil ihr genuines Handwerkszeug. Wenn sie im Namen von Werten, Idealen und Gemein-Sinn alle besonderen Interessen wie Verstöße gegen Notwendigkeiten und gerechte Sachzwänge behandeln, befinden sie sich nämlich i m Recht - auch wenn kein Wort wahr ist. Ob sie gegen friedenslustige Idealisten einen "Wehrwillen" einklagen, der Jugend zu Sinn und Fleiß raten, den Arbeitslosen zu eifrigem Lernen, den Menschen insgesamt zu weniger Staatsverdrossenheit und ordentlichem Wählerverhalten; ob Unternehmer ihre Belegschaften wegen zu hoher Lohnkosten tadeln oder die Gewerkschaften wegen zu wenig Arbeitszeit, ob sie Lohn und Leistung für den nationalen Standort fordern: ob Grundbesitzer die Mieter um mehr Mietzins wegen des Wohnungsmarkts und -baus angehen - immer bewährt sich die Berufung auf allgemeine Interessen. Das kommt daher, daß die besonderen Interessen, für die da gemeinwesentlich geheuchelt wird, die gesellschaftlich gültigen sind. Diese Gültigkeit verdankt sich freilich nicht der Schlüssigkeit der einschlägigen Argumente, sondern ihrem gewaltsamen Schutz. Weswegen Kritik "von unten" regelmäßig auch mit der "Gewaltfrage" konfrontiert wird. Für sie und ihre Versuche, die Moral als Waffe einzusetzen, ist festzuhalten: Das unfreie Meinen ist am Werk, sooft die Entgegensetzung von Interesse und Objekt der Kritik zugunsten der "Vereinnahmung", der erfolgversprechenden Heuchelei, aufgegeben wird. Und zwar nach zwei Seiten hin:
- Erstens relativiert sich das Interesse, das als verletztes immerhin das Movens war, sehr grundsätzlich: Es will sich ja nur nach Maßgabe des bereits waltenden Anspruchs durchsetzen; nur so weit, wie es im "Recht" ist, als Vertreter des Ideals der Sache wird es aktiv.
- Zweitens ist die Sache umgekehrt allein als ihr Ideal gegenwärtig. Das Grundurteil lautet: "Sie müßte keinen Gegensatz zum verletzten Interesse abgeben". So ist die Sache gar nicht Gegenstand der Kritik. Ihrem Ideal sind sämtliche Anstrengungen gewidmet. Statt sie einer Prüfung auszusetzen, wird sie a priori betreut.
Dieser Doppelfehler ist in der Demokratie als ihr Diskussionsprinzip organisiert. Zum einen rechtlich, damit keine polizeiwidrigen Standpunkte zirkulieren. Da gibt es auf dem Feld der Meinungsäußerung und des Pressewesens einiges zu verbieten, zu beaufsichtigen und zu verfolgen, was die Ehre der Nation verletzen, also Prinzipien des, "Gemeinwesens" berühren, und in praktischer Konsequenz das Gewaltmonopol des Staates bestreiten würde. Zum anderen moralisch, als Imperativ zum konstruktiven Kritisieren. Wo kritisiert wird, soll herausgehört werden können, daß sich der Kritiker um das Objekt seiner Unzufriedenheit sorgt. Wo solches nicht zu erkennen ist, da fragen bürgerliche Zeitgenossen allen Ernstes nach: "und was wollt Ihr denn" - getrennt von und zusätzlich zu einer vollzogenen Kritik. Als wäre es nicht die einfachste Übung, das eben der Kritik zu entnehmen.
Wo die konstruktive Gesinnung zur Gewohnheit geworden ist, da wird die noch so wohlbegründete Ablehnung einer Sache tatsächlich nicht "verstanden". Sie enthält ja auch kein Angebot, mit dem ein positiv gesonnener Geist etwas anfangen könnte. Ein wenig verlogen ist solch eine Nachfrage allerdings schon. Schließlich soll mit ihr der Kritiker darauf getestet werden, in welcher Hinsicht er sich auf die Sorge u m die Angelegenheit, die er nicht mag, verpflichtet. Getrennt von allen seinen Argumenten findet ein Test auf seinen guten oder bösen Willen statt. Mit dem Unverständnis ist deswegen allemal die Toleranzfrage auf dem Tisch: Die betrifft die Erlaubnis zum Kritisieren und den Verzicht darauf, aus einer Meinung je mehr machen zu wollen. Die Armseligkeit dessen, was die Elite der Nation "politische Kultur" nennt, faßt sich schlicht in der Allgegenwart des Gebotes zusammen, gerade beim Kritisieren nicht negativ zu werden. Abweichende Auffassungen vom Lauf der Dinge haben sich darin zu bewähren, daß sie auf lauter Beiträge zu den ökonomischen und politischen Affären hinauslaufen, die einem zu schaffen machen. Noch den letzten Mist, von der Gegenwartsliteratur über den Fußball bis zur Bundeswehr, soll man durch wohlwollende Verbesserungsvorschläge befördern - und statt Kapitalismuskritik soll, schon der Arbeitslosen wegen, Anlage- und Investitionsberatung, hilfreiche Krisenvermeidungsstrategie und Stärkung der Nation gegen den Rest der Welt befürwortet und betrieben werden.
5. Der Maßstab des Interesses bedarf der Objektivität
Ganz nebenbei hat sich herausgestellt, wie Kritik geht. Wenn sie ihren Grund in zu kurz gekommenen Interessen hat, dann besteht ihr Zweck in nichts anderem als in der Beantwortung der Frage: Warum werden meine Interessen von anderen Leuten, von den maßgeblichen Herrschaften, von der Wissenschaft... so schlecht oder gar nicht bedient? Sie ist angewiesen auf das objektive Urteil über Grund und Zweck der gesellschaftlichen Einrichtungen und ihrer Agenten, die einem das Leben schwer machen. Nicht das Interesse und schon gar nicht sein Ersatz durch gar nicht existente allgemeine Interessen, Werte und Ideale ist der Hebel, zu tauglichen Urteilen zu gelangen, sondern Wissen um die Sache, die sich als Hindernis geltend macht. Kritik besteht darin, die begriffene Sache am Interesse zu messen. Und von daher ergeben sich zwei Typen von Einwänden:
- Entweder ich teile den gewußten Zweck der Sache, e s liegt i n meinem Interesse, daß es sie gibt - aber ihr Zweck ist schlecht verwirklicht, und darin liegt der Grund, warum sie sich störend bemerkbar macht. Es ist das fällig, was Hegel das Urteil des Begriffs nennt: Die Sache entspricht nicht ihrem Begriff. Sie ist an sich in Ordnung, aber ihre besondere Ausprägung ist unvollkommen - gemessen an ihrem eigenen Begriff. Dann ist auch nicht sie verantwortlich zu machen für die Unzufriedenheit mit ihr, sondern ihre schlechte Verfassung, ihre gegenwärtige Verwaltung, ihre mißlungene Handhabung. Kritik ist dann das konstruktivste Geschäft von der Welt, schließlich hat der Kritiker einen guten Grund, sich um die Verbesserung der Sache zu kümmern. Nicht darin, daß Kritik konstruktiv ist, sondern darin, daß das Funktionieren der Sache sein Interesse befördert.
- Oder das Wissen um die Sache offenbart etwas ganz anderes. Ihr Zweck steht im Gegensatz zu meinem Interesse, die Unangemessenheit meinen Anliegen gegenüber ist notwendig, sie ist in der Natur der Sache begründet, die meine Anliegen ausschließt. Dann ist auch ein anderes Urteil fällig: Die Sache hat nicht einen Mangel, der in meinem Interesse zu beheben wäre, sondern sie ist der Grund meines Schadens. Man macht sich dann besser nicht zum Anwalt ihrer Verbesserung - sie funktioniert ja schon viel zu gut, und ihre "Verbesserung" besteht allemal nur in der theoretischen Konstruktion eines Ideals, das unter einen Hut bringen will, was nicht zusammenpaßt -, sondern zum Anwalt ihrer Beseitigung.
Deshalb hüuten sich Kommunisten, "aus Prinzip" kritisch zu sein. Sie machen nicht wahr, was das bürgerliche Gerücht über sie besagt: sie würden "einfach alles" kritisieren, Denn erstens ist Kritik nicht einfach. Sie besteht weder in der billigen Konfrontation: "Das paßt mir nicht" - noch in der ebenso heuchlerischen wie unterwürfigen Übernahme der gemeinnützigen Gesichtspunkte, unter denen die Demokratie den Totalitarismus ihrer "konstruktiven Kritik" veranstaltet. Sie beruht auf der Erklärung ihrer Gegenstände. Im Unterschied zum kritischen Geist der Nation wollen manche Leute nämlich wissen, woher die Beschränkungen kommen, vor denen eine ganze Latte von Interessen zuschanden werden.