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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1989 erschienen.
Das Kohl-Gorbatschow-Dokument
FRECHHEIT SIEGT
Solche Erklärungen, die als dokumentarische Weihe der Beziehungen von Staaten feierlich unterzeichnet werden, enthalten in der Regel allerlei Allgemeinplätze, die guten Beziehungen und den ernsten Willen zu ihrer Verbesserung betreffend. Besuchen sich Feinde, dann triefen diese Machwerke der Diplomatie nur so von Frieden und Fiedenswillen. Natürlich ist politisch bedeutsam, daß es sie gibt, aber sonst kann man ihnen nicht mehr entnehmen als eben dieses verlogene Geseiche aus der Beziehungskiste von Staaten. Die vorliegende gemeinsame Erklärung der Bundesrepublik und er Sowjetunion ist da anders. Ihr Inhalt reduziert sich nicht auf diplomatische Formulierungskünste. Sie rechtfertigt, von beiden Seiten unterschieben, vor allem Ansprüche der einen.
Gemeinsame Erklärung
"Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl und der Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU und Vorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, Michail S. Gorbatschow, haben am 13. Juni 1989 im Bundeskanzleramt in Bonn folgende Gemeinsame Erklärung unterzeichnet:
I.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken stimmen darin überein, daß die Menschheit an der Schwelle zum dritten Jahrtausend vor historischen Herausforderungen steht. Probleme, die von lebenswichtiger Bedeutung für alle sind, können nur gemeinsam von allen Staaten und Völkern bewältigt werden. Das erfordert neues politisches Denken.
- Der Mensch mit seiner Würde und seinen Rechten und die Sorge für das Überleben der Menschheit müssen im Mittelpunkt der Politik stehen.
- Das gewaltige Potential an schöpferischen Kräften und Fähigkeiten des Menschen und der modernen Gesellschaft muß für die Sicherung des Friedens und des Wohlstands aller Länder und Völker nutzbar gemacht werden.
- Jeder Krieg, ob nuklear oder konventionell, muß verhindert, Konflikte in verschiedenen Regionen der Erde beigelegt und der Friede erhalten und gestaltet werden.
- Das Recht aller Völker und Staaten, ihr Schicksal frei zu bestimmen und ihre Beziehungen zueinander auf der Grundlage des Völkerrechts souverän zu gestalten, muß sichergestellt werden. Der Vorrang des Völkerrechts in der inneren und internationalen Politik muß gewährleistet werden.
- Die Erkenntnisse moderner Wirtschaft, Wissenschaft und Technik bieten ungeahnte Möglichkeiten, die allen Menschen zugute kommen sollen. Risiken und Chancen, die sich hieraus ergeben, verlangen gemeinsame Antworten. Es ist daher wichtig, die Zusammenarbeit auf allen diesen Gebieten auszuweiten, Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen, neue Formen des Zusammenwirkens zu suchen und zum beiderseitigen Vorteil dynamisch zu nutzen.
- Die natürliche Umwelt muß im Interesse dieser und künftiger Generationen durch entschlossenes Handeln gerettet, Hunger und Armut in der Welt müssen überwunden werden.
- Neue Bedrohungen, einschließlich Seuchen und internationaler Terrorismus, müssen energisch bekämpft werden.
Beide Seiten sind entschlossen, ihrer sich aus dieser Einsicht ergebenden Verantwortung gerecht zu werden. Fortbestehende Unterschiede in den Wertvorstellungen und in den politischen und gesellschaftlichen Ordnungen bilden kein Hindernis für die zukunftsgestaltende Politik über Systemgrenzen hinweg."
Man steigt hoch ein: Eine Zeitansage, eine alte Dame namens Geschichte, die auch noch herausfordernd wirken soll, und eine ungehörige Abstraktion, die Menschheit, werden bemüht, um die alles übergreifenden Aufgaben vorstellig zu machen, um die sich diese beiden Staatsmänner unbedingt kümmern wollen. Da soll jeder Krieg verhindert und der Frieden erhalten werden; da sollen eigentümlicherweise sogar die Schöpferkräfte des riesigen vorhandenen Menschenpotentials dafür genutzt werden, daß mehr Frieden und mehr Wohlstand für die Völker dabei herauskommt. Schließlich soll sogar der Mensch, ja das Überleben der Menschheit im Mittelpunkt der Politik stehen. Warum eigentlich, wo sich doch in der ganzen großen Staatenwelt mit den Milliarden trostloser Untertanen sowieso kein Schwein, das etwas zu sagen hat, dran hält?
Und noch etwas ist komisch: Woher nehmen diese beiden Staatsmänner eigentlich das Recht, allen Staaten und Völkern vorzuschreiben, daß sie dasselbe wie sie wollen sollen? Und wieso wissen sich diese beiden Staatsmännern so ohne weiteres zuständig für die ganze Menschheit, gar noch für deren Überleben? Offenbar reicht es Kanzler Kohl nicht, seine ureigenen Untertanen erfolgreich ausbeuten zu lassen und zu deckeln. Und der moderne Russenchef weiß auch Besseres, als einfach mal seine Russen mit brauchbaren Lebensmitteln zu versorgen und darauf aufzupassen, daß sich dabei der Feind im Westen nicht störend bemerkbar macht. Nein, auf die Unverschämtheit, sich als Retter der Menschheit ins Dokument zu schreiben, wollen die beiden hohen Herren nicht verzichten. - Aber irgendwo hört sich selbst auf höchstem Staatenbankett die geheuchelte Gemeinschaftsduselei wieder auf. Die hehren Menschheitsprobleme, um die sich erklärtermaßen die beiden Staatsmänner gemeinsam schwer Sorgen machen, würden - so heißt es wörtlich - neues politisches Denken erfordern.
Kanzler Kohl hat weder vor, noch während des Besuches, hinterher schon gar nicht, bekundet, daß er vorhat, die Richtlinien seiner deutschen Politik zu ändern; von einem Umdenken auf deutscher Seite war keine Sekunde die Rede. Was er als der deutschen Politik förderliches Umdenken unterschrieben hat, ist dies: Daß Gorbatschow in scinem Reformeifer vom kapitalistischen Wirtschaften lernen will, westliche Polit-Methoden einführt, beim Wettrüsten zurücksteckt und die osteuropäischen Staaten partiell aufgibt. Der Kanzler setzt darauf, daß diese Reformen den russischen Laden samt Block ganz schön destabilisieren und weich machen für westdeutsches Anspruchsdenken. Deshalb steht Kohl auf "neues politisches Denken". Solche russischen Ideen unterschreibt ein deutscher Kanzler gerne, weil er "Perestroika" mit "Öffnung" übersetzt (Kohl im ARD-Fernsehen).
Als gegen das russische Reich gerichtet fassen die Deutschen auch die Sache mit dem "Recht aller Völker und Staaten...", sowie die niedergeschriebene Betonung des "Völkerrechts" auf. Noch immer ist für den Westen die Sowjetunion eine Verletzung des Völkerrechts und ein "Völkergefängnis"; erst recht seit im Osten nationale Bewegungen aufblühen, die die Sowjetunion als Probleme bewertet, als Fragen der Berücksichtigung des Rechts der Völker. Vom Standpunkt des Westens aus ist jetzt von Moskau die Rechtmäßigkeit dieser imperialistischen Anklage unterschrieben. Und die Westdeutschen sehen höchstoffiziell ihre Forderung nach Öffnung der Ostblockstaaten bestätigt. Ihre Betreuungswünsche, ihre Zuständigkeit, ihr Zugriff sind keine Anmaßung mehr, sondern ein vom Kreml-Chef zugestandenes Recht.
Den "beiderseitigen Vorteil", wo es um Handel und Wirtschaft geht, verstehen die Deutschen ebenso in ihrem Sinne. Wenn da steht, daß "Handelshemmnisse jeglicher Art weiter abzubauen" sind, ist sich die deutsche Seite ganz bestimmt keiner Schuld bewußt. Wenn sie mit dem Willen eines Weltmeisters im Export ins Ausland geht und das Angebot für Importe sichtet, stellt sie Bedingungen. "Hemmnisse" kommen da immer nur von der anderen Seite, und im Fall der Russen verlangt die politische Ökonomie des Kapitalismus vom Feind politische Vorleistungen, durch die sich die Geschäfte mit dem Osten doppelt lohnen.
Daß sich die Russen dazu bereiterklären, gemeinsam mit dem westlichen Vorposten der freiheitlichen Gewalt den "internationalen Terrorismus" bekämpfen zu wollen, hat ebenfalls Gewicht für die in Bonn. Was im Westen seit einem Jahrzehnt als "internationaler Terrorismus" definiert wurde, verbunden mit dem Vorwurf der Drahtzieherschaft an Moskau, ist nun höchstoffiziell der Sowjetunion unrecht. Gegenüber dem deutschen Kanzler distanziert sich Moskau von der Unterstützung von Unternehmungen, die ihm früher, zumindest in manchen Fällen, als berechtigt und befreiungsbewegt gegolten haben. Wenn das kein Erfolg ist, daß die Weltmacht Nr. 2 sich jetzt an den diesbezüglichen Aufräumungsarbeiten sogar beteiligen will?
Insofern ist die abschließende diplomatische Geste besonders feinsinnig: Systemunterschiede sollen kein Hindernis sein für die systemübergreifende zukunftsgestaltende Politik. Mit allem formalen Respekt vor der großen Sowjetunion wird da deutsche Politik gemacht. Gebessert hat sich wieder einmal die andere Seite.
II.
"Bei der Gestaltung einer friedlichen Zukunft kommt Europa eine herausragende Rolle zu. Trotz jahrzehntelanger Trennung des Kontinents ist das Bewußtsein der europäischen Identität und Gemeinsamkeit lebendig geblieben und wird zunehmend stärker. Diese Entwicklung muß gefördert werden.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen und so zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit - einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen europäischen Hauses - in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann. Die KSZE-Schlußakte von Helsinki in allen ihren Teilen und die Abschlußdokumente von Madrid und Wien bestimmen den Kurs zur Verwirklichung dieses Zieles.
Europa, das am meisten unter zwei Weltkriegen gelitten hat, muß der Welt ein Beispiel für stabilen Frieden, gute Nachbarschaft und eine konstruktive Zusammenarbeit geben, welche die Leistungsfähigkeiten aller Staaten, ungeachtet unterschiedlicher Gesellschaftssysteme, zum gemeinsamen Wohl zusammenführt. Die europäischen Staaten können und sollen ohne Furcht voreinander und in friedlichem Wettbewerb miteinander leben.
Bauelemente des Europas des Friedens und der Zusammenarbeit müssen sein:
- Die uneingeschränkte Achtung der Integrität und der Sicherheit jedes Staates. Jeder hat das Recht, das eigene politische und soziale System frei zu wählen. Die uneingeschränkte Achtung der Grundsätze und Normen des Völkerrechts, insbesondere Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker.
- Die energische Fortsetzung des Prozesses der Abrüstung und Rüstungskontrolle. Im Atomzeitalter müssen die Anstrengungen nicht nur darauf gerichtet sein, Krieg zu verhindern, sondern auch den Frieden zu gestalten und sicherer zu machen.
- Der dichte, alle sowohl traditionellen als auch neuen Themen der bilateralen und multilateralen Beziehungen umfassende Dialog, einschließlich regelmäßiger Begegnungen auf höchster politischer Ebene.
- Die Verwirklichung der Menschenrechte und die Förderung des Austausches von Menschen und Ideen. Dazu gehören der Ausbau der Städtepartnerschaften, der Verkehrs- und Nachrichtenverbindungen, der kulturellen Kontakte, des Reise- und Sportverkehrs, die Förderung des Sprachunterrichts als auch eine wohlwollende Behandlung humanitärer Fragen einschließlich der Familienzusammenführung und Reisen in das Ausland.
- Der Ausbau von direkten Kontakten zwischen der Jugend und die Verpflichtung der nachwachsenden Generationen auf eine friedliche Zukunft.
- Die umfassende wirtschaftliche Zusammenarbeit zum gegenseitigen Vorteil, die auch neue Formen der Kooperation einschließt. Die Gemeinsame Erklärung zwischen der Europäischen Gemeinschaft und dem Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe vom 25. Juni 1988 und die Normalisierung der Beziehungen zwischen der Europäischen Gemeinschaft und den europäischen Mitgliedstaaten des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe sowie der begonnene politische Dialog zwischen der Sowjetunion und den zwölf Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft eröffnen neue Perspektiven für eine gesamteuropäische Entwicklung in diese Richtung.
- Der stufenweise Aufbau gesamteuropäischer Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen, insbesondere des Verkehrswesens, der Energiewirtschaft, des Gesundheitswesens, der Information und Kommunikation.
- Die intensive ökologische Zusammenarbeit und die Ausnutzung von neuen Technologien, die im Interesse der Menschen insbesondere die Entstehung von grenzüberschreitenden Gefahren verhindert.
- Die Achtung und Pflege der geschichtlich gewachsenen Kulturen der Völker Europas. Diese kulturelle Vielfalt ist einer der großen Schätze des Kontinents. Nationale Minderheiten in Europa mit ihrer Kultur sind Teil dieses Reichtums. Ihren berechtigten Interessen gebührt Schutz.
Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion fordern alle Teilnehmerstaaten der KSZE zur Mitarbeit an der künftigen Architektur Europas auf."
Europa, diese harmlose geographische Bezeichnung, kennt inzwischen jeder Wähler aus den Fernseh-Spots als den Inbegriff für den Weg der Bundesrepublik, ihre ökonomische Macht auszudehnen und zu mehren und ihren politischen Einfluß im westlichen Lager zu stärken. Europa, der östliche Pfeiler der NATO mit seinem westdeutschen Anspruch gegenüber dem feindlichen Ostblock, die politischen Ergebnisse des 2. Weltkriegs nicht auf sich beruhen zu lassen! Europa, das Mittel und der Titel für lauter imperialistische Ansprüche und eine klare Feindschaftserklärung an den sowjetischen Machtbereich insbesondere: Diesem imperialistischen Monstrum kann das "neue politische Denken" in Moskau offenbar auch gute Seiten abgewinnen. Europa das soll auch das nützliche und somit friedliche Zusammenwirken von lauter selbständigen und selbstbewußten Nationalstaaten sein, die gerade deshalb, weil sie es so gut miteinander können, sich nicht alles von der westlichen Führungsmacht, den USA, sagen lassen. Die Sowjetunion schätzt den Aufstieg der zweiten imperialistischen Weltmacht vor ihrer Haustür, die mit den USA auch mal konkurriert, offenbar so sehr daß sie die Feindschaft gegen sich, die dieshezügliche Kooperation mit den USA, für gering erachtet.
Deswegen steht von der eigenartigen Frontstellung der beiden unterzeichnenden Kontrahenten nichts in der Erklärung. Beide Seiten haben sich zu "Europa gut!" schonungslos bekannt. Läßt sich eigentlich in diesem Dokument übersehen, wer aus dieser realistischen Einschätzung diplomatisch das Beste für sich gemacht hat?
Gorbatschow weiß offenbar nicht, daß Tradition - wieso reichen eigentlich 45 Jahre nicht aus, daß etwas Traditionelles draus wird? - kein Argument für nichts ist, sondern nur ein Anspruch der Deutschen. Ihm kommt auch nicht der Verdacht, daß Trennung nur für den einen Grund zum Zusammenkommen hergibt, der sich schlecht bedient fühlt und mehr will - von dem anderen. Jetzt unterschreibt er auch schon den Unsinn, daß Europa unter den zwei Weltkriegen gelitten hat...
Die Deutschen hingegen wissen, was sie wollen. Sie kommen von "Tradition", "Identität" und "Trennung des Kontinents" (Geographie als ideologischer Hebel) schnell bei dem an, was sie gern unterschrieben haben möchten: "Überwindung der Trennung Europas". Und das heißt ja nicht weniger, als daß die Sowjetunion ihre osteuropäischen "Satelliten" loslassen soll, damit die sich am westdeutschen Zugriff er freuen können. Die Russen haben es unterschrieben.
Dafür lassen die Deutschen sogar Gorbatschows verrückte Redewendung von der Idylle eines "europäischen Hauses" - sie respektieren eben die fortschrittliche Bilderwelt der Russen - gelten und setzen sie mit ihrer Vorstellung von einer "europäischen Friedensordnung" gleich, wobei es selbstverständlich ist, daß im deutschen Entwurf der Hausordnung die USA und Kanada als Hausmeister unentbehrlich sind. Die Deutschen nehmen diesen europäischen Rohbau gleich als Gelegenheit, ihn mit "Bauelementen" zu versehen, so daß jede statische Berechnung über den Haufen geworfen wird. Wenn man endlich mal das blöde Bild vom europäischen Haus verläßt, handelt es sich bei den im Dokument niedergelegten Bauelementen um lauter Anschläge auf den politischen Einfluß und die Souveränität des Systemfeindes im Osten:
- Zwar gibt es keinen Staat auf der Erden, den sich ein Volk eingerichtet hat; aber wenn die Bundesrepublik von der Sowjetunion die Unterschrift unter die "Achtung des Selbstbestimmungsrechts der Völker" bekommen hat, dann ist die Sachlage klar. Der westdeutsche diplomatische Angriff hat die Aufbrechung des Ostblocks im Sinn. Das kann man sich daran klarmachen, daß das Selbstbestimmungsrecht des Volks der DDR keinen Pfifferling mehr wert ist, wenn die Sowjetunion ihre schützende Hand von diesem deutschen Teilstaat zurückzieht.
- In Sachen Menschenrechte kommt es gar nicht darauf an, welcher Staat der Würde des trostlosen Untertanen hüben wie drüben mehr entspricht. Es steht nun einmal fest für den Westen, daß die Oberen im Osten ihr Menschenmaterial nicht in Freiheit deckeln, also nicht so wie hier. Deshalb ist die gemeinsame Unterschrift unter die Aufgabe "Verwirklichung der Menschenrechte" ein einseitiger Angriff auf die Systemgewohnheiten der Russen. Die haben sich zu ändern - wie man hört und liest, sehen die das auch noch ein.
- "Zusammenarbeit" soll fraglos immer gut sein, wenn Staaten miteinander verkehren. In diesem Fall aber sind es über die normale Konkurrenzsituation hinaus erklärte Feinde, die sich zusammentun. Und in diesem Fall spechtet die militärisch der Sowjetunion kaum gleichrangige Bundesrepublik auf die Ausnutzung ihrer ökonomischen Überlegenheit über den Ostblock. Zusammenarbeit, das ist auf allen in der Erklärung genannten Gebieten das Angebot der Westdeutschen die genauso eigentümliche wie unterlegene Ökonomie des Ostblocks so von sich abhängig zu machen, daß ihre politischen Verwalter erpreßbar werden und noch die letzte Einmischung anerkennen. Zusammenarbeit hat nichts mit beiderseitigem Vorteil zu tun, sondern gerät zur einseitigen Sammlung von Rechten.
- Daß "nationale Minderheiten" ein Schatz sind, ausgerechnet wegen ihrer blöden Kultur, glaubt eigentlich niemand. Das tut der Botschaft, die sich die Deutschen von dem Russen ins Stammbuch schreiben lassen, aber keinen Abbruch. Zwar haben nationale Minderheiten in Westeuropa allenthalben nicht die geringste Chance, wenn sie sich verselbständigen wollen, aber wenn es in der UdSSR noch Wolgadeutsche gibt, hat die Sowjetmacht gefälligst zu berücksichtigen, daß da ein klarer Betreuungsfall für die BRD vorliegt. "Wir" lassen uns von den Russen unterschreiben, daß da eine Sorte Sowjetbürger ohne den Einfluß westdeutscher Instanzen menschenrechtlich nie bedient ist.
So weit reicht die "Architektur Europas".
III.
"Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion erklären, daß man eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Sicherheit anderer gewährleisten darf. Sie verfolgen deshalb das Ziel, durch konstruktive, zukunftsgewandte Politik die Ursachen für Spannung und Mißtrauen zu beseitigen, so daß das heute noch gegebene Gefühl der Bedrohung Schritt um Schritt von einem Zustand gegenseitigen Vertrauens abgelöst werden kann.
Beide Seiten erkennen an, daß jedem Staat, unabhängig von seiner Größe und seiner weltanschaulichen Orientierung, legitime Sicherheitsinteressen zustehen. Sie verurteilen das Streben nach militärischer Überlegenheit. Krieg darf kein Mittel der Politik mehr sein. Die Sicherheitspolitik und Streitkräfteplanung dürfen nur der Verminderung und Beseitigung der Kriegsgefahr und der Sicherung des Friedens mit weniger Waffen dienen. Das schließt ein Wettrüsten aus.
Beide Seiten streben an, durch verbindliche Vereinbarungen unter wirksamer internationaler Kontrolle bestehende Asymmetrien zu beseitigen und die militärischen Potentiale auf ein stabiles Gleichgewicht auf niedrigerem Niveau zu vermindern, das zur Verteidigung, aber nicht zum Angriff ausreicht. Beide Seiten halten es insbesondere für erforderlich, die Fähigkeit der Streitkräfte zum Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive auszuschließen.
Die Bur:desrepublik Deutschland und die Sowjetunion treten ein für
- eine 50prozentige Reduzierung der strategischen nuklearen Offensivwaffen der USA und der Sowjetunion,
- einvernehmliche amerikanisch-sowjetische Lösungen bei den Nuklear- und Weltraumverhandlungen; dies gilt auch für die Einhaltung des ABM-Vertrages,
- die Herstellung eines stabilen und sicheren Gleichgewichts der konventionellen Streitkräfte auf niedrigerem Niveau sowie für die Vereinbarung von weiteren Vertrauens- und Sicherheitsbildenden Maßnahmen in ganz Europa,
- ein weltweites, umfassendes und wirksam nachprüfbares Verbot chemischer Waffen zum frühestmöglichen Zeitpunkt,
- die Vereinbarung eines zuverlässig verifizierbaren nuklearen Teststopps im Rahmen der Genfer Abrüstungskonferenz zum frühestmöglichen Zeitpunkt. Bei den laufenden Gesprächen zwischen den USA und der Sowjetunion ist ein schrittweises Herangehen an dieses Ziel wünschenswert,
- die Schaffung weiterer Vertrauensbildender Maßnahmen, mehr Transparenz der militärischen Potentiale und der Militärhaushalte sowie wirksame internationale Mechanismen des Krisenmanagements, auch für Krisen außerhalb Europas."
Waffen sollen "Vertrauen" schaffen. Wie das geht, wenn'sich Feinde in Beziehung setzen und sich gegenseitig "legitime Sicherheitsinteressen zugestehen", ist keine Frage: Der jeweils andere Staat müßte im Rüsten und in seiner militärischen Bedrohung zurückstecken. Also kommt so zwischen Feinden überhaupt keine Vertrauensbildung zustande. Tatsächlich aber haben sich die beiden Kontrahenten auf so etwas geeinigt. Das liegt nicht daran, daß die Bundesrepublik und ihre NATO die Politik der Stärke aufgegeben hätten, sondern daran, daß die Sowjetunion das Ziel Frieden ernst nimmt und für ihre diesbezügliche Glaubwürdigkeit auch zu einseitiger Abrüstung bereit ist.
Damals, 1981, hatte Breschnew in Bonn noch erklärt:
"Es wird von uns verlangt, daß wir einseitig abrüsten, während Hunderte gegen unser Land sowie gegen unsere Verbündeten gerichtete boden- und seegestützten Raketen, Flugzeuge mit Atombomben an Bord, dieses ganze drohende Arsenal, das den USA und anderen NATO-Ländern im Raum Europas gehört, unberührt bleiben soll. ... Es ist klar, daß sich die Sowjetunion mit einer solchen Variante niemals einverstanden erklärt."
Jetzt, nachdem das Rüsten im Westen ungebrochen weitergeht, bietet die Sowjetunion Vorleistungen an - sie setzt nämlich wirklich auf Abrüstung. Die diplomatische Frechheit der Bundesrepublik besteht darin, dies als Beweis für ihre Kritik an der sowjetischen "Überrüstung" und an der "Offensivfähigkeit" der Truppen des Warschauer Pakts zu nehmen. Die bis an die Zähne bewaffnete Bundesrepublik mit der NATO und vor allem der Atommacht USA im Rücken hält ihre und der NATO Waffenmacht für völlig legitim, das Streben nach Überlegenheit, wie es die westliche Militärplanung bestimmt, für Gerechtigkeit, die die Verteidigung der Freiheit erfordert. Und mit dem Trick, die westeuropäische Front theoretisch abzukoppeln von der Führungsmacht der NATO, machen die Westdeutschen den anspruchsvollen militärischen Vergleich Westeuropa - Warschauer Pakt auf, so daß alle einseitigen Abrüstungsschritte der Sowjetunion und ihres Pakts nie und nimmer genügen können.
Wenn also, wie es in der Erklärung heißt, beide Seiten anstreben, "Asymmetrien zu beseitigen" und die Fähigkeit zum "Überraschungsangriff und zur raumgreifenden Offensive auszuschließen", so enthält diese Übereinkunft das unverschämte Verlangen der Bundesrepublik, die Sowjetunion habe sich gefälligst militärisch zurückzustutzen, und zwar sie allein. Denn bei sich und in der NATO will die Bundesrepublik ja keine Überrüstung entdecken, und daß das westliche Bündnis nur auf Verteidigung aus und zu nichts anderem fähig ist, soll ja auch fraglos gelten.
Wer soviel Zugeständnisse einstreicht, wird auch großzügig: Kanzler Kohl hat sich herbeigelassen, seine Unterschrift unter ein Dokument zu setzen, das auch Aufträge für ihn beinhaltet. Er läßt sich von sich und den Russen beauftragen, die Amerikaner zu beraten. Die sollen, einvernehmlich mit der Sowjetunion, rüstungsdiplomatische "Lösungen" anstreben. Der Wunsch geht sicher in Erfüllung.
IV.
"Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion sind sich angesichts der europäischen Geschichte und der Lage Europas in der Welt sowie angesichts des Gewichts, das jede Seite in ihrem Bündnis hat, bewußt, daß eine positive Entwicklung ihres Verhältnisses zueinander für die Lage in Europa und für das West-Ost-Verhältnis insgesamt zentrale Bedeutung hat. In dem Wunsch, ein Verhältnis guter und verläßlicher Nachbarschaft dauerhaft zu begründen, wollen sie an die guten Traditionen ihrer jahrhundertelangen Geschichte anknüpfen. Ihr gemeinsames Ziel besteht darin, die fruchtbare Zusammenarbeit fortzusetzen, weiterzuentwickeln und zu vertiefen und ihr eine neue Qualität zu verleihen.
Der Moskauer Vertrag vom 12. August 1970 bleibt die Grundlage für das Verhältnis beider Staaten. Beide Seiten werden die in diesem Vertrag und anderen Abkommen angelegten Möglichkeiten voll ausschöpfen.
Sie haben beschlossen, die vertraglichen Grundlagen der Beziehungen und die partnerschaftliche Zusammenarbeit in allen Bereichen auf der Grundlage des Vertrauens, der Gleichberechtigung und des beiderseitigen Vorteils konsequent weiterauszubauen.
Berlin (West) nimmt an der Entwicklung der Zusammenarbeit unter strikter Einhaltung und voller Anwendung des Viermächte-Abkommens vom 3. September 1971 teil."
Gern läßt sich die bloße Mittelmacht Bundesrepublik vom mächtigen Hauptfeind im Osten hofieren und Respekt entgegenbringen als bedeutsame Militärmacht im westlichen Bündnis. So ist die gute Nachbarschaft zur Sowjetunion eine politische Aufwertung der Bundesrepublik. Und bei der Verbesserung der Beziehungen zum Feind hat sie nicht in einer Hinsicht zurückstecken müssen. Sogar der westdeutsche Revanchismus wird vom Nachbarn im Osten als berechtigtes nationales Interesse anerkannt. Zum Moskauer Vertrag gehört der "Brief zur deutschen Einheit" der beinhaltet, daß der Vertrag nicht im Widerspruch steht zum politischen Ziel der Bundesrepublik, die Wiedervereinigung zu erreichen. Das Symbol des Antikommunismus und des Anspruchs auf deutsche Einheit steht auch im Dokument.
V.
"Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion sind entschlossen, ihre Beziehungen im Vertrauen in die langfristige Berechenbarkeit der beiderseitigen Politik auf allen Gebieten weiterzuentwickeln. Sie wollen der Aufwärtsbewegung ihrer Beziehungen Stabilität und Dauer verleihen. Diese Politik berücksichtigt die beiderseitigen Vertrags- und Bündnisverpflichtungen, sie richtet sich gegen niemanden. Sie entspricht dem tiefen und langgehegten Wunsch der Völker, mit Verständigung und Versöhnung die Wunden der Vergangenheit zu heilen und gemeinsam eine bessere Zukunft zu bauen.
Bonn, den 13. Juni 1989
Helmut Kohl Michail Gorbatschow"
Damit die fruchtbaren Sonderbeziehungen Bonns mit Moskau von den westlichen Bündnispartnern nicht falsch verstanden werden, wird auf die Bündnisverpflichtungen der Bundesrepublik hingewiesen. Die Kunst der Diplomatie erfordert es offenbar auch, daß am Schluß die Behauptung aufgestellt wird: Die deutsche Ostpolitik "richtet sich gegen niemanden". Einerseits glaubt das niemand, andererseits hat die Sowjetunion es jetzt unterschrieben.
Inzwischen sind beide Parteien in die Phase der Deutung eingestiegen. Die westdeutsche Beurteilung deckt sich in diesem Falle voll und ganz mit der der MSZ: Was wir nicht leiden können, werten sie als ihr Verdienst. Durchbruch jede Menge, die Russen haben Dinge zugegeben, sich zu Prinzipien bekannt, die gestern noch "undenkbar" waren. Das Selbstlob macht die Stimmung und begeistert alle Parteien, die sich schwer tun, Unterschiede zwischen sich aufzumachen. Der Gestank ist aber auch in diesem Falle nicht zu vermeiden. Die Unterschrift der Russen ist nämlich nie und nimmer die Leistung der BRD, sondern ihre eigene.
Es ist die chronische Sucht der Sowjetunion nach Verständigung, die Einbildung, das Bemühen um Kompromisse sei die passende Antwort auf Feindseligkeiten aller Art, was diesen deutschen Erfolg hervorgebracht hat. Die sowjetische Diplomatie hat das Nachgeben als Mittel für Verständigung entdeckt, und Verständigung gilt ihr inzwischen als eigentümlicher Zweck des diplomatischen Verkehrs. Vor- und Nachteilsrechnungen werden dadurch zu einer Angelegenheit, die nur noch der Westen betreibt: "Dem tiefen und langgehegten Wunsch der Völker" entspricht das zwar genausowenig wie die Streitigkeiten von gestern. Dem Erfolg der westlichen Volks- und Völkervertreter aber schon.