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DIE ANTWORT DES FREIEN WESTENS
auf die Unruhen in China hat Anlaß zur Kritik wegen der "Halbherzigkeit und Inkonsequenz" der Regierung gegeben. Nach der blutigen Niederschlagung der Proteste haben aufgebrachte Demokraten und manche Journalisten den entschiedenen Einsatz derjenigen vermißt, die von einem "sinnlosen Akt brutaler Gewalt" (Kohl) oder einem "Rückfall in die menschenverachtende Zeit des Totalitarismus" (die Bundesregierung) gesprochen haben. Sie haben entschiedenes Eingreifen verlangt - von den Zuständigen in Bonn und anderswo. Als hätten die sich mit ihrer Kundgabe von "Bestürzung", "Abscheu" und "tiefer Trauer" (Genscher) zu einer Politik im Dienste der Humanität und der Menschenrechte verpflichtet. Als wäre dafür die Stornierung von Geschäften, Waffenlieferungen und guten Beziehungen haargenau das passende Mittel. Als dienten und weckten die politischen und wirtschaftlichen Verbindungen, die deutsche Wirtschaftsbosse und Politiker von Strauß bis Vogel seit Jahren gepflegt haben, nicht Interessen ganz anderer Art als das nach mehr demokratischen Freiheiten für unzufriedene chinesische Studenten oder Arbeiter. Und als hätte nicht Kanzler Kohl unlängst wegen der Vorfälle in Tibet verkündet, es wäre keine ordentliche Außenpolitik mehr möglich, wollte er immerzu die Menschenrechtsfrage in Anschlag bringen.
Einmal abgesehen davon, daß die Anhänger demokratischer Sitten rund um den Globus mit solchen Vorwürfen ausgerechnet diejenigen zu entschiedenerem Eingreifen gegen "die Gewalt" ermuntern wollen, deren Weltpolizistenanspruch bei anderer Gelegenheit ziemlich gewalttätig zu Werke geht: Der Westen hat sich offenkundig entschieden, mehr mit "moralischem Druck" als mit Sanktionen zu reagieren. Es ist unübersehbar: Unsere offiziellen Beschwerdeführer geben sehr berechnend ihre Empörung im Bundestag und anderswo zu Protokoll, nachdem sie versichert haben, die Botschafter nicht abziehen und auch sonst erst einmal keine weiteren "Strafmaßnahmen" ergreifen zu wollen. Mit feindseligen diplomatischen Schritten und der Stornierung von Geschäften gehen sie äußerst zurückhaltend und ganz und gar nicht irgendwie betroffen zu Werke. Sie warten dafür mit heuchlerischen Begründungen auf; die ihnen bei anderen Gelegenheiten wie Afghanistan gar nicht einfallen wollen. Auch die mächtigen USA mit ihren Besuchsabsagen und dem Versprechen, IWF und andere internationale Kreditinstitutionen zur Zurückhaltung bei Krediten an China zu bewegen, sieht sich ganz und gar nicht wie bei Libyen zu ein paar gewalttätigen Klarstellungen herausgefordert. Die Oberwächter über die freie Welt behandeln also die chinesische Führung keineswegs wie einen Hort des "menschenverachtenden Kommunismus" und "Weltterrorismus" und haben keine ernsthafte Infragestellung der Beziehungen im Sinn. Aber mit Inkonsequenz oder bloßer moralischer Heuchelei hat das nichts zu tun.
Es geht bei den ergriffenen wie unterlassenen diplomatischen Maßnahmen um Höheres, als irgendeinem Menschenrecht, dem Wunsch nach gerechteren Verhältnissen oder demokratischen Zuständen machtvoll zum Durchbruch zu verhelfen.
"Die Hinrichtungen sind barbarisch. Aber die USA können sich nicht pur auf den Standpunkt der Menschenrechte stellen, weil sie wirtschaftliche, politische und militärische Interessen in China haben. " ( US-Außenminister Baker)
Es geht um das Menschenrecht des Westens auf den Fortgang seiner Geschäfte und um das Interesse an entsprechend geordneten und stabilen politischen Verhältnissen in China. Viel ernster zu nehmen als das öffentliche Lamento über die blutige Unterdrückung und menschenverachtende Todesurteile sind also die Sorgen westlicher Instanzen, die sich mit dem aktuellen und künftigen Gang der Geschäfte, der weiteren Brauchbarkeit Chinas, der Souveränität seiner Regierung, der Verläßlichkeit der dortigen Machthaber befassen. Solche Sorgen werden mindestens genauso breit getreten wie die demokratische Empörung über die Leichen - und für angebracht, aber erträglich befunden. Man weiß nämlich, was man an Deng hat: den Vertreter einer "Entwicklung", die China braucht, weil sie uns recht ist. Vor der Niederschlagung der Massendemonstrationen machte man sich deshalb Sorgen, ob die Umtriebe der Studenten nicht die wohlgeordneten Verhältnisse ungebührlich stören, ob die Regierung mit ihnen fertig wird oder es vielleicht überhaupt an der notwendigen Durchsetzungsfähigkeit für die Zukunft unseres Entwicklungslandes fehlen läßt:
"Die Ankündigung Dengs, bis 2049, dem 100. Jahrestag der Bildung der Volksrepublik, den Status eines mittleren entwickelten Landes erreicht zu haben, erscheint durchaus realistisch. Aber selbst diese moderate Langzeitperspektive setzt voraus, daß die seit 12 Jahren behutsam eingeleiteten Reformen weitergehen. Um dies zu erreichen, sollte mehr als bisher sowohl auf Zusammenhänge wie Folgen der einzelnen Reformabsichten und -maßnnhmen geachtet werden, auf ihre Systemlogik und -adäquanz. Dazu gehört auch, daß die Zentrale ihre Fähigkeit zur landesweiten Durchsetzung der Reformpolitik wieder unter Beweis stellt. Chinas traditionell zentrifugale Kräfre machen sich immer dann störend bemerkbar, wenn die Zentrale sich nicht durchzusetzen scheint." (Prof. Wilhelm Hankel, Per Fischer, ehem. Botschafter in Peking, "Frankfurter Rundschau ", 3.5.)
Auch nach dem beklagten Massaker war die ernsthafte Betroffenheit, Aufregung und Beruhigung entsprechend sachlicher Natur:
"Nach den blutigen Ereignissen in der chinesischen Hauptstadt wächst in der deutschen Wirtschaft die Sorge, daß die Geschehnisse zu folgenschweren Korrekturen der bislang von der Pekinger Regierung betriebenen Politik der Öffnung führen werden... daß die Zusammenstöße in Peking das gesamte chinesische Wirrschaftsleben stören werden und dadurch bestehende Verträge nur unzureichend erfüllt werden." (Süddeutsche Zeirung, 6.6.)
"Übereinstimmung herrscht weltweit und auch bei bundesdeutschen Unternehmen darin, daß die Regierung kaum eine andere Wahl als die Fortsetzung der Reformen hat",
weiß die wohlinformierte "taz" alternativ zur "FAZ" zu berichten.
Das ist allerdings bloß die halbe Wahrheit. Einerseits macht es die chinesische Führung dem Westen recht und erfährt dafür Lob aus dem Munde eines befugten außenpolitischen Sprechers der freien Welt:
"Deng wählte einen menschlicheren und weniger chaotischen Kurs, um die in einen solchen System immer vorhandene Stagnation zu überwinden. Er brachte China auf den Weg zur Marktwirtschaft... Außerdem führt eine Marktwirtschafr zur Unzufriedenheit: Einer muß verlieren, einer muß gewinnen." (Henry Kissinger, in der "Welt am Sonntag", 4.6.)
Andererseits aber hat sich die Deng-Mannschaft im Zuge ihrer Säuberungsaktion ziemlich eindeutig und immer entschiedener dagegen verwahrt, sich vom Westen vorschreiben zu lassen, wie sie "Entwicklung", "Stabilität" und "Reformen" zu buchstabieren hat. Die auf ihre nationale Souveränität bedachten Reformer hatten allen Grund, sich gegen ausländische Einmischung zu wenden. Ihnen konnte ja gar nicht verborgen bleiben, daß die Oberdemokraten in Washington, Paris und Bonn die Unruhen zum Anlaß genommen haben, sich nachhaltig zu Wort zu melden. Mit Verweis auf die berechtigten Forderungen der chinesischen Kritiker nach mehr politischer Liberalisierung" haben sie "unseren Mann" und seinen Anhang wissen lassen, daß der Westen sich - in Sachen politische Öffnung, wirtschaftspolitisches Entgegenkommen und vor allem alternative politische Kräfte, auf die man in China setzt - durchaus noch mehr ausrechnet, als Deng und seinem Anhang lieb sein kann. Der Westen hat den Vorwurf des "bürgerlichen Liberalismus" und der "ausländischen Machenschaften" an die Studenten ebenso wie ihre Verurteilung und Hinrichtung trotz aller auswärtigen Begnadigungsaufforderungen genauso aufgefaßt, wie er es mit seiner Parteinahme für freiere demokratische Sitten in China gemeint hatte: Seinen Anspruch, den Schiedsrichter auch in den Fragen der politischen Führung und Regelung der inneren Verhältnisse zu spielen und auf strikte Beachtung westlicher Interessen bei allen innerchinesischen Streitigkeiten zu achten, haben die Machthaber in Peking zurückgewiesen. Mehr nicht, aber das schon.
Das nämlich meldet der Westen als sein gutes Recht und Interesse an, wenn er sich eine prinzipielle Befürwortung der Studentenforderungen erlaubt und das Vorgehen der Partei und Armee hinterher kritisiert. Zwar sind die Studenten für Kohl und Konsorten keine brauchbare, verläßliche und vor allem mächtige Opposition. Aber als Störung der bisherigen Ordnung bieten die Methoden, für Ordnung zu sorgen, Anlaß zur Überprüfung, wie die eigenen Ansprüche in und an China vorankommen. Das ist keine theoretische Frage, deren Klärung man einfach den Machthabern in China überläßt und beobachtend abwartet, sondern Grund genug für parteiliche Einmischung. Die berufenen westlichen Entwicklungshelfer Chinas haben die Vorfälle in Peking und anderswo als ihre diplomatische Gelegenheit ergriffen, praktisch zu überprüfen, wie weit die chinesische Führung westlichen Einmischungsansprüchen recht gibt und sich ihren Umgang mit oppositionellen Kräften und die Erfüllung oder Zurückweisung oppositioneller Forderungen von Washington und Bonn anempfehlen läßt. Den Fanatikern gesicherten Einflusses auf jede Entscheidung eines Landes, das es immer noch endgültig zu öffnen gilt, reicht es eben nicht, daß so schnell keine öffentliche Ruhestörung in China mehr zu erwarten ist und größere Unruhen auch in den Betrieben im Keim erstickt werden. Sie denken weiter und demonstrieren in aller Form, daß sie sich bei aller prinzipiellen Zufriedenheit mit der Entwicklung in China auch politische Alternativen vorstellen und mit denen berücksichtigt werden wollen - auch wenn sie praktisch im Augenblick gar keine durchsetzen wollen. Für dieses diplomatische Anliegen sind die diplomatischen Beleidigungen der chinesiichen Führung, die öffentlichen Formen, "in aller Zurückhaltung" seiner "Verstimmung" und "Sorge" Ausdruck zu verleihen, und die beschlossenen "maßvollen" Strafmaßnahmen und Drohungen die adäquaten Ausdruckimittel. Von wegen inkonsequent und zurückhaltend!