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Mitterand - Chirac - Le Pen
DREI MÄNNER, EIN VERSPRECHEN: "DAS DYNAMISCHSTE LAND EUROPAS"
Die Sorgenfreiheit demokratischer Führungsmannschaften, was die Rücksichtnahme auf Belange ihres Wählervolkes angeht, kennt man ja. Sie sind so frei, den Vergleich ihrer illustren Persönlichkeiten zum alles überragenden Thema zu machen, mit dem sich das Volk zu beschäftigen hat. Sie sind so frei, Staatsgeschäfte und -entscheidungen gerade so zu zitieren, wie sie sich als Auskunft über die eigene staatsmännische Statur gebrauchen lassen können; heißt: Sie machen Wahlkampf immer und überall, weil man sie ja sonst nichts fragt.
Die Franzosen - haben in dieser Hinsicht zwei Jahre lang ein besonderes Spektakel genossen.
Zwei Chefs erfinden Differenzen
Der Sache nach herrschte seit den letzten Parlamentswahlen eine Große Koalition zwischen dem Konservativen Chirac und dem Sozialisten Mitterrand, die auch ausgezeichnet funktionierte. In allen wesentlichen Angelegenheiten der Nation, innen- wie außenpolitisch, herrschte weitgehende Einigkeit, so daß vom Scheitern eines Gesetzes auf Grund widerstreitender Interessen der Koalitionspartner nichts zu hören war - Rangeleien eingerechnet.
Um so spannender erschien allseits die Frage, wie die beiden Führungsfiguren die 'cohabitation' nutzen würden, sich zu profilieren. Die Präsidentschaftswahl vor Augen richtet sich das französische Volk vor seinen Fernsehern darauf ein, in dem anhebenden Dauerwahlkampf auf die beiden obersten Repräsentanten der Großparteien Plus und Minus zu verteilen. Dieser Wahlkampf litt einerseits ein wenig daran, daß so richtig "Zündstoff" in die Debatte nicht kommen wollte, da Behinderung der Regierungsarbeit schließlich das letzte war, was die Koalitionäre wollten - zumal sie auch gleich wußten, daß eine Störung des Bildes dieser Eintracht sich eher negativ auswirken würde. Andererseits wurde dieses fehlende Spannungsmoment leicht aufgewogen durch die damit eröffnete Hemmungslosigkeit, sich in erfundenen Gegensätzen herumzutreiben. Die gestylte Selbstvorführung als gelungene Politikerhaut, die unendliche Reihe hochinteressanter Formfragen, konnte sich um so umstandsloser ausbreiten. Material war reichlich gegeben, die der Demokratie eigentümlichen Abstraktionen "Glaubwürdigkeit" und Handlungsfähigkeit" zu versinnbildlichender Vergleich der für die Herrschaft zuständigen Figuren lief auf Volldampf, und die Meinungsforschungsinstitute hatten alle Hände voll zu tun, regelmäßig die wichtigsten Zehntelprozentverschiebungen in der Wählergunst auszurechnen, damit die Wähler auch wußten, wen sie wieviel mochten.
Mitterand hüllte sich, was seine Kandidatur betraf, bis zum letzten Moment in präsidentiales Schweigen. Er beutete gnadenlos seinen Amtsbonus aus, der in diesem Fall darin seine Würze hatte, einen kleinen, aber feinen Unterschied betonen zu können: Immerhin war er genau eins über dem Amtsbonus von Chirac, da dieser von ihm ernannt worden war und in den allerhöchsten Fragen nicht die Entscheidung treffen konnte. Weswegen als herausragendes Ereignis der Fernsehdiskussion vermerkt wurde, daß Chirac sich über die penetrante Anrede "monsieur le premier ministre" beschwert habe, man diskutiere doch hier von gleich zu gleich, worauf Mitterrand kühl bis ans Herz antwortete: "Sie haben vollkommen recht, monsieur le premier ministre." Chirac legte großen Wert auf die Demonstration besonderer Aktivität, wofür ihm einige Bombenattentate in Paris gerade recht kamen, um sich als großer Meister der "Terrorbekämpfung" hervorzutun. Im Zuge dessen ließ er noch drei Tage vor der Stichwahl eine neukaledonische Höhle stürmen und 20 Kanaken umlegen selbstverständlich zum "Wohle der Geiseln".
Beide ließen keine Gelegenheit aus, "La France" oder "La Nation" unter verschiedensten Umständen und in allen Tonlagen hochzuhalten. Womit sie aber auch schon fast wieder ehrlich wurden - denn um nichts anderes ging und geht es. "Die Stellung Frankreichs in der Welt", genauer: die Durchsetzung seiner Ansprüche und Interessen im Konzert der imperialistischen Großmächte, machte den gar nicht kontroversen "Inhalt" des Wahlkampfes und der Wahl aus - und dabei stellte sich heraus, daß die Franzosen im großen und ganzen diese Sorge teilten und die großen Parteien wählten, aber genau deswegen auch ein nicht unbeträchtlicher Teil unzufrieden ist mit der Mehrheitspolitik.
Le Pen - "Wie konnte es dazu kommen?"
fragt sich die Öffentlichkeit einhellig nach dem ersten Wahlsonntag und kommt ebenso einhellig zu dem Befund, es liege ein Versagen der etablierten Parteien vor, weil sie durchaus berechtigte Anliegen von Le Pen hätten "besetzen" lassen. Das kann man an erfolgreichen Staatenlenkern vorführen:
"Es ist bemerkenswert, daß der amerikanische Präsident und die britische Premierministerin ihren politischen Hegemonieanspruch durchgesetzt haben, indem sie genau die konservativen Werte für sich beanspruchten, die jetzt Le Pen für sich ausnutzt: Ihnen ist es in der Tat gelungen, den aggressiven Nationalismus und reaktionäres gesundes Volksempfinden auf der einen Seite und die industrielle und finanzielle Modernisierung auf der anderen miteinander zu verbinden." (Liberation, 26.4.)
Schlägt man den Le Pen-Wählern noch alle anderen "extremistischen" Wähler zu und nennt sie "Protestwähler", kommt heraus, daß sich Mitterrand/Chirac/Barre ein Drittel des Wäihlervolkes haben entgleiten lassen, weil sie beim Aufzählen und sicheren Vereinnahmen der Ehrentitel "Natur, Arbeit, Nation" gepfuscht haben:
"Fast 30% der Stimmberechtigten haben sich von ideologischen Phantomen fehlleiten lassen: Natur (der Ansatzpunkt der Ökologen), Arbeit (der Ansatzpunkt der Kommunisten und der extremen Linken) und Nation (der Ansatzpunkt Le Pens)." (Ebd.)
"Was hat den Volkstribun aus der Bretagne... groß gemacht? In erster Linie Fehler und Versäumnisse der anderen... Offensichtlich ist es Chirac in seinen zwei Regierungsjahren und während seiner Kampagne nicht gelungen, jene blau-weiß-roten Traditionswerte der Moral, der Ordnung und des Vaterlandes zu besetzen, unter deren geblähten Segeln Le Pen im Rückenwind gleitet." (Süddeutsche Zeitung, 28.4.)
Diese übertreibenden Anklagen gehen von der Maxime aus, alle Regungen des Volkes - von faschistisch über sozialgesinnt bis naturreaktionär - hätten sich im sicheren Griff der Altparteien zu befinden, also ihr Mittel zu sein andernfalls handelt es sich um "ideologische Phantome". Insbesondere Chirac muß sich den Vorwurf mangelnder Skrupellosigkeit, was die "Einheit des bürgerlichen Lagers" angeht, gefallen lassen; wohingegen Mitterrand Komplimente für seine Schläue einheimst, die "Gefahr Le Pen" hochgejubelt zu haben, um seinem Kontrahenten eine stillschweigende Kumpanei mit dem Rechtsaußen zu erschweren. Letztendlich landet der ganze Vorwurf bei einer Stilfrage: Die Politiker hätten sich von der vollmundigen Sprache des Le Pen die Schau stehlen lassen:
"Diese Leute, die ein und dieselbe ewig unerschütterlich technokratische und mit Demagogie vermischte Sprache sprechen, mit Zahlen und abstrakten Begriffen jonglieren, stellen für viele Wähler eine Art Regierungsadel dar. Eine Kaste, der weder Mißerfolg noch das Ausbleiben nachprüfbarer Effektivität etwas anhaben kann - so als wäre sie allein regierungsberechtigt." (Liberation)
"Frankreichs politische Klasse, ob konservativ oder links, denkt oft in Kategorien, die vom Alltag der Wähler weit entfernt sind, spricht gern in einer Sprache, die über die Stirne des Volkes hinweggeht. Wenn sie nicht vor den Kopf stößt: Wer unter Straßenkriminalität leidet, hört nicht gerne er habe einen 'Sicherheitsfimmel'. Bewohner überfüllter lärmerfüllter Arbeitervorstädte mit hohem Ausländeranteil haben es satt, daß Politiker aus großbürgerlichen Nobelquartieren ihnen vorhalten, sie seien 'Rassisten'. Das Überlaufen einstiger roter Hochburgen zu Le Pen, dem großen Vereinfacher, bestätigt diesen Überdruß kleiner Protestwähler an der ständigen Beschwörung des faschistischen Wolfes." (SZ)
Da schlüpfen die Mahner und Warner gern einmal in die Haut des "kleinen Mannes", um denen, die sie nun mal tatsächlich für die allein Regierungsberechigten halten, den Rat mit auf den Weg zu geben, daß wohlkalkuliertes Andienern an - außerhalb des Wahlkampfes so bezeichnete - "niedere Instinkte" des Volkes hin und wieder doch angebracht sei.
Bei soviel Einigkeit in der Sache ist es kein Wunder, daß sich das Erschrecken über den Erfolg Le Pens sehr in Grenzen hält: Es kommt halt auf die Angebote an, die ihm Chirac zu machen hät, um seine Wählerstimmen einzusacken. Die Idee einer Unvereinbarkeit der von Le Pen "demagogisch besetzten Werte" mit dem normalen demokratischen Getriebe kommt gar nicht erst auf, vielmehr mag es ganz heilsam sein, wenn die politische Klasse Frankreichs in Sachen Demagogie und Wählereinseifen ein bißchen dazulernt. Man soll dem Volk aufs Maul schauen - damit es dann auch das Maul hält und nicht irgendwelchen unautorisierten Demagogen nachrennt.
Die "doppelte Herausforderung"
Solche Kritik an der Ungeschicklichkeit französischer Politiker gibt zwar Auskunft über den Geisteszustand demokratischer Meinungsmacher, erklärt aber nicht, wie Le Pen an seine Stimmen gekommen ist. Mangelnde Manipulationskunst ist zwar ein Vorwurf, der von einem gerade in "stabilen Demokratien" leidenschaftlich gepflegten Ideal kündet, nichtsdestotrotz aber falsch ist: Die von Le Pen "Manipulierten" müssen allemal seine Sache für die ihre gehalten bzw. von den Altparteien enttäuscht gesehen haben. Und diese Sache heißt schlicht und einfach: Frankreich kommt z u kurz.
Mit diesem Befund steht Le Pen nicht allein, im Gegenteil: Daß Frankreich einen (Wieder-)Aufschwung braucht, ist geradezu Staatsdoktrin:
"Die Stärkung des europäischen Pfeilers im atlantischen Bündnis, fordern die Programme aller drei Kandidaten... Für ihn (Chirac) muß Europa Frankreich dazu zwingen, 'das dynamischste Land Europas zu werden, ab sofort bis zum Ende des Jahrhunderts'. Auf Grundlage dieses Programms und entlang dieser Vorstellung von Europa schlägt er Reformen in Frankreich vor." (Le Monde, 23.4.)
Das ist - bis auf eine wesentliche Ausnahme "consensus" in Frankreich, deswegen aber noch lange nicht selbstverständlich. Seltsam ist nämlich, daß sich Frankreich von Europa 'zwingen' lassen muß, groß rauszukommen, und daß dieses passive Verhältnis als selbstbewußte Aktivität der Führer aufgefaßt werden soll. Auch nicht selbstverständlich ist die Betonung des 'europäischen Pfeilers', also einer europäischen Gemeinsamkeit in Militärfragen, wo doch die französische Doktrin seit de Gaulle immer auf die Selbständigkeit und die Unabhängigkeit der 'Force de Frappe' pochte. Die Politiker teilen hier dem Volk mit, daß die Nation in doppelter Hinsicht ins Hintertreffen geraten ist - gemessen an den französischen Ansprüchen und Behauptungen hinsichtlich der eigenen Geltung in der Welt:
- Erstens erfährt Frankreich angesichts der Rüstungsfortschritte bei den "Supermächten" (Kampf um den Weltraum) seine militärische Zweitrangigkeit eindeutiger als bislang schon trotz aller Sprüche über die "selbständige Verteidigungsfähigkeit" mittels eigener Atomwaffen. Und weil sich die Großmächte im jetzigen Stadium ihrer Konkurrenz um die atomare Mittelmacht Frankreich nicht einmal mehr groß kümmern, gibt es auch keine diplomatische Sonderrolle Frankreichs "zwischen den Blöcken " mehr. Die gespielte Souveränität eines Mitterrand, der glatt so tut, als ginge ihm das weltpolitische Geschehen weiter nichts an, solange er zwei Atom-U-Boote im Jahr in Dienst stellt, macht da wenig Eindruck. Auch seine Dauerforderung, erst müßten die Supermächte abrüsten - und dadurch Frankreich aufwerten -, dann würde er sich mit ihnen an einen Tisch setzen, schaut zu sehr nach dem billigen Manöver aus, das es ist. Die Einsicht kann nicht ausbleiben, daß "Selbständigkeit" nichts anderes mehr ist als die Notwendigkeit, sich strenger ins atlantische Bündnis einzugliedern, worauf den politischen Führern einfällt, daß durch eine Vereinnahmung Europas mit besonderem französischen Gewicht doch wieder eine neue Sonderrolle verfertigt werden könnte. Aber das ist erst einmal Zukunftsmusik, und über ein bereitwilliges Entgegenkommen der europäischen Partner macht sich gerade ein nationalbewußter Franzose keine Illusionen.
- Zweitens ist in Sachen Anführerschaft Europas ein Abschied von den alten Idealen unvermeidlich. Zumindest ökonomisch ist die BRD eindeutiger Sieger und hat während der Regierungszeit Mitterrands unmißverständlich klargestellt, auf welcher Seite sich die besseren Erpressungsmittel befinden. Die Alternative, nämlich aus der EG auszusteigen, steht nicht zur Debatte, weswegen Chirac zum einen die Europa-Politik Mitterrands nicht kritisiert, zum anderen - doch auch dies ist kein Streitpunkt - meint, das bewußte Aufnehmen der "Herausforderung Europa" müsse dem französischen Führungsanspruch neuen Auftrieb verleihen. Es herrscht Unzufriedenheit mit dem Resultat aller Bemühungen, i n der EG diesem Bündnis den eigenen Stempel aufzudrücken. Mindestens eineinhalb Anläufe in dieser Richtung sind schon steckengeblieben: Das erste "changement" des Herrn Mitterrand, das unter dem Signum "Sozialismus contra konservative Restriktionspolitik" dem bundesdeutschen "Währungsimperialismus" Paroli bieten wollte, ist einigermaßen kläglich gescheitert. Der Franc ist nicht zur gefragtesten Währung Europas aufgestiegen, sondern immer abhängiger von der Deutschen Bundesbank geworden. Und die Ausweitung der Staatsverschuldung hat viel Inflation, aber keine zufriedenstellende Kapitalakkumulation nach sich gezogen. Das von Mitterrand selbst eingeleitete - und von der rechten Parlamentsmehrheit nachdrücklich vorangetriebene zweite "changement", das von der deutschen "Wende" so gut wie nicht zu unterscheiden ist, ist in seinem Erfolg immer noch mehr als zweifelhaft. Die Franzosen müssen im Gegenteil feststellen, daß von den diversen "Liberalisierungen", "Re-Privatisierungen" und "sozialen Anpassungen" immer wieder deutsches Kapital in erster Linie profitiert.
In den Lebensfragen der Nation kann und will die bürgerliche Rechte keine Opposition zu Mitterrand aufmachen. Sie konkurriert ausschließlich mit dem Optimismus, daß der Aufstieg zum "dynamischsten Land Europas" vor der Tür stünde, wenn nur sie die Federführung innehätte. Sie wirbt damit, daß in der Sache Einigkeit herrsche, jedoch sie der aktivere und dynamischere Teil sei, diese Einigkeit durchzusetzen. Die von der französischen Rechten noch vor ein paar Jahren gepflegte nationale Notstandsrhetorik -
"Wie immer, wenn es darum geht, Frankreich zu erniedrigen, ist die Partei des Auslands am Werke - mit friedfertigen und einschmeichelnden Tönen. Franzosen, hört nicht darauf! Das ist die Lähmung, die dem friedlichen Tod vorangeht." (von Mitterrand während der Fernsehdiskussion dem Chirac als frühere Position seines Lagers vorgehalten)
ist aus dem Verkehr gezogen.
"Zuerst die Franzosen!"
Die ganze Leistung Le Pens besteht darin, dem regierungsamtlichen Optimismus einen unverblümten oppositionellen Pessimismus entgegenzuhalten. Einen Pessimismus insofern, als er die von oben eingeforderten und ins Werk gesetzten nationalen Anstrengungen (von Chirac "Reformen" genannt) mit der schlechten "Realität" Frankreichs konfrontiert und fragt: Wo bleibt der Erfolg? Er hat es gar nicht nötig, sich auf ein Pro und Contra zu Europa und NATO einzulassen, reibt statt dessen als einzig relevante Opposition - die sich eben nicht darauf verpflichtet sieht, die vor und nach der Wahl allemal bestehenden Verpflichtungen des Staates in seinen Bündnissen pfleglich einzurechnen - der 'cohabitation' rücksichtslos hin, daß ihr Programm der internationalen Durchsetzung in den Lebensumständen der Franzosen, des "kleinen Mannes", auf jeden Fall keine Entsprechung habe. Er ist der einzig glaubwürdige Parteigänger des "Sozialen" und prangert die Phänomene der unübersehbar um sich greifenden Verelendung an - aber gleich in einer Ausdrucksweise, die keinen Zweifel läßt, was für ihn deren wahrer Grund ist: Immer nur die Ausländer profitieren von den nationalen Anstrengungen. Für die staatlichen Verelendungsprogramme ist er selbstverständlich auch zu haben, aber er kann den nationalen Nutzen, den Zuwachs an nationaler Größe nicht sehen. Auf diesem Hintergrund ist es ihm ein Leichtes, auf der ewig jungen Gleichung "Die Wohlfahrt der Bürger ist abhängig von der Wohlfahrt des Staates" herumzureiten. Ungerechtigkeiten tun sich da en masse auf: Die (schwindenden) Sozialleistungen des französischen Staates werden von Arabern und anderen Mohammedanern beansprucht, obwohl diese doch mit dem Programm der Wiederherstellung französischer Größe absolut nichts zu schaffen haben. Solche Sozialleistungen stünden doch bescheidenen Franzosen zu - wie überhaupt in allem "Zuerst die Franzosen! " ("D'abord les Francais!") dran zu sein hätten, werden ihnen umgekehrt also gestohlen - und das mit Einverständnis des Staates! Damit stehen die Armen der französischen Gesellschaft als Symbole für den niederträchtigen Erfolg ausländischen Kalküls mit französischen Nöten und können unterschiedlos mit EG-geplagten Bauern und steuergeschädigten Kleinhändlern in einen Topf geworfen werden.
Umgekehrt hat der Rassismus der "Front national" seinen Grund nicht im Volkstum und in den Lebensgewohnheiten der Araber, Perser etc., sondern sieht in diesen Elendsgestalten der Vorstadt-Slums minderwertige Abgesandte ausländischer Rancune. Auch sie stehen "nur" für ein Prinzip, nämlich für die geschädigte Nation, deren Schaden aus dem falschen Umgang des Staates mit dem Ausland herrührt. So daß es seine zersetzende Tätigkeit mitten im Herzen Frankreichs ausüben kann.
Es ist keine Schande für Frankreichs Demokratie, wie zartfühlende Geister meinen, daß sich ein Mann wie Le Pen darin so breit machen kann, sondern eine ihr immanente Konsequenz. Aufschlußreich ist nämlich nicht nur die lockere Art, wie die Öffentlichkeit mit dem "Problem des Rechtsextremismus" umgeht, sondern die Stellung Le Pens selbst zu dieser Staatsform. Er mag zwar in mancher Hinsicht Gefallen an Hitler finden - aber zum Sturz der Demokratie ruft er nicht auf. Zu der Behauptung, Frankreich habe sich zum Büttel und Knecht der imperialistischen Weltordnung gemacht und daran sei eine marode Verfassung schuld, versteigt er sich nicht. Im Gegenteil: Er fordert die ungeschmälerte Leistung der Demokratie ein, behauptet, Frankreich sei hinter seinen vorhandenen Möglichkeiten zurückgeblieben.
Da gefällt ihm gerade, daß Frankreich zu den imperialistischen Ordnungsmächten zählt, und er zieht aus dem ungünstiger ausfallenden Vergleich mit den Konkurrenten den Schluß, bei der Staatsführung läge Feigheit vor - nicht ohne den Hinweis auf den Verlust von "Tugenden und Werten, die Frankreich großgemacht haben". Er warnt davor, diese Größe zu verspielen, darin durchaus einig mit seinen Kontrahenten - aber er hat die bequeme Möglichkeit zu behaupten, sie hätten diese Größe überhaupt aufs Spiel gesetzt. Radikaloppositionell ist er eigentlich nur darin, daß er diese Möglichkeit radikal ausnutzt. Sein Vorwurf an die Machthaber läuft darauf hinaus, sie hätten nicht genügend auf die Einheit des Volkes geachtet, seien bei ihrer Verschweißungstätigkeit nicht rücksichtlos genug vorgegangen.
Die Kommunistische Partei Frankreichs
hat dem Appell an den beleidigten Nationalismus nichts entgegenzusetzen. Ihre - abgewanderten - Wähler haben von ihr offensichtlich auch nichts anderes gelernt, als daß das Heil der "sozial Schwachen" in einer starken Nation liegt. Von Mitterrand in die heißersehnte Regierungsverantwortung genommen, hat diese Partei das Alibi für die "notwendigen sozialen Härten" abgegeben und gründlich an dem "Beweis" mitgewirkt, daß Ansprüche "von unten" das Wohlergehen der Nation gefährden. Und sie hat sich auch hergegeben für den "Beweis", daß hinter diesem obersten Ziel alle politischen Differenzen und sozialen Unterschiede zurückzustehen haben - hat also die "realistische Einsicht" endgültig mit durchsetzen helfen, daß Klassenkampf im modernen Frankreich nichts (mehr) zu suchen hat. Den Fadenschein des "Sozialen", der noch ein bißchen die Ungerechtigkeit der Verteilung des nationalen Reichtums bemühte - und dafür durchaus auch und in erster Linie ausländische Machenschaften von Multis und "Imperialisten" verantwortlich machte -, nimmt ihr heutzutage nicht nur keiner mehr ab. Jeder hält ihn für überflüssig und störend. Der letzte Existenzgrund der Partei schwindet dahin, und sie hat es selbst befördert. Den Widerspruch, den sich die KPF mit einem satt blau-weiß-roten "Kommunismus in den Farben Frankreichs" und der gleichzeitigen 'Freundschaft mit der ruhmreichen Brudermacht Sowjetunion" zugelegt hat, will sich dann schließlich auch kaum mehr einer antun. Vielleicht trauert die KPF jetzt den guten alten Zeiten nach, als die ersten Rollkommandos gegen farbige Jugendliche noch von kommunistischen Bürgermeistern angeführt wurden...
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Da die Franzosen reife Demokraten sind, wußten sie, daß sie spätestens im zweiten Wahlgang das Protestwählen wieder bleiben zu lassen haben. Wiederholt erinnerte sie ihr alter und neuer Präsident daran, daß die Einheit noch am besten dadurch gewährleistet sei, daß möglichst viele Stimmen bei einem versammelt sind. Diese tiefe Wahrheit der Demokratie verschaffte Mitterrand ein eindrucksvolles "rassemblement du peuple" und die längere Zeit gepflegte spannende Diskussion über die "Gefahr", die von Le Pen für das "traditionelle französische Parteieingefüge" ausgehen soll, kann sich wiederlegen. Sie hat ja ihre Dienste getan - Frankreich hat wieder eine Führung.