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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1988 erschienen.
Ein Arbeitskampf im Lichte der Wissenschaft
UNIVERSITÄTSPROFESSOREN NEHMEN STELLUNG ZU RHEINHAUSEN
Obwohl Entlassungsaktionen kleineren und größeren Stils zur Tagesordnung unseres Wirtschaftssystems gehören, geriet die Stellenstreichung der Krupp AG in Rheinhausen zu einem Dauerthema der demokratischen Öffentlichkeit. Und zwar wegen der Gegenwehr, die die betroffene Belegschaft mit Unterstützung und Anleitung von verschiedenster Seite versucht hat. Anlaß, Verlauf und Ergebnis dieses Arbeitskampfes waren den diversen öffentlichen Begutachtern jede Menge grundsätzlicher Erwägungen wert: "Darf man, kann man, muß man mit Arbeitern so verfahren?" "Hat dieser Arbeitskampf Signale gesetzt oder Illusionen geschürt?" - "Hat Rheinhausen die politische Kultur im Land verändert?" usw.
Die Redaktion der MG-Hochschulzeitung fürs Ruhrgebiet wollte wissen, wie die Denker des Reviers den Fall und das Lehrstück beurteilen würden. Hier noch einmal die Ergebnisse einer Umfrage unter Universitätsprofessoren des Ruhrgebiets.
I. Der politökonomische Sachverstand
Unternehmer müssen 'Sachzwang und Strukturwandel' verantwortungsbewußt exekutieren Arbeiter müssen das Unvermeidliche einsehen lernen. Gegenwehr von unten muß im Keim überflüssig gemacht werden.
Professor H. Berg (Uni Dortmund):
Wie beurteilen Sie das Ergebnis des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Ich halte es für verständlich, aber für gesamtwirtschafflich nicht sinnvoll und damit auch für wirtschafts-, insbes. für regionalpolitisch nicht wünschenswert, Überkapazitäten hartnäckig "gegen den Markt" zu verteidigen. In diesem Sinne bewerte ich es als positiv, daß eine "Standortgarantie" nicht gegeben wurde."
Für Professor Berg kommt der 'Fall Rheinhausen' offenbar nur für eins in Frage: als Gelegenheit, die volkswirtschaftliche Betrachtungsweise darauf anzuwenden. Dieser zufolge soll in Rheinhausen ein ganz anderer Streit stattgefunden haben als der, den Unternehmen und Arbeiterschaft (unter heftiger Betreuung durch Politiker, Kirche, Gewerkschaft, Medien) gegeneinander geführt haben, nämlich ein Streit für oder gegen "den Markt". In volkswirtschaftlicher Sicht kann offenbar gar nichts anderes strittig sein als die Prinzipienfrage, wieweit einer über allen stehenden, alle umklammernden Notwendigkeit namens Markt gehorcht wird oder nicht - und da können im Prinzip alle Parteien falsch oder richtig liegen. Im Fall Rheinhausen hat nach Herrn Bergs Einschätzung das Unternehmen Krupp Einsicht gezeigt und getan, was der Markt verlangt - Abbau von "Überkapazitäten"; die Politiker haben sich gerade noch dazu durchgerungen, marktwidrige "Standortgarantien" zu verweigern; und nur die Krupp-Belegschaft hat, verständlicher- aber nicht sinnvollerweise, die 'Lage der Dinge' nicht so schnell begreifen wollen.
Wenn es schon so ist, daß "der Markt" noch nicht mal einen sicheren Arbeitsplatz vorsieht (geschweige denn eine solche, der seinem 'Besitzer' bequeme Arbeits- und Lebensbedingungen verschafft), warum sollen die Betroffenen ihm dann Gehorsam leisten und keinesfalls gegen ihn aufbegehren?
Daß der Rheinhausener Protest unliebsame Wirkungen des Marktes unterbinden wollte, ohne grundsätzlich "gegen den Markt" anzutreten, der solche Wirkungen mit Notwendigkeit hervorbringt, mag ein Widerspruch dieses Protests gewesen sein. Für den Wirtschaftsfachmann aus Dortmund soll es dagegen ein Vorstoß gegen jede wirtschaftliche Vernunft sein - trotz aller eingestandenen Härten für gewisse Betroffene -, "dem Markt" in die Quere kommen zu wollen. Das liegt daran, daß er das Dogma verficht, "der Markt" sei identisch mit einem Sachzwang jegliche Wirtschaftens, und seine vernünftige Funktion sei es, allen Parteien des (markt)wirtschaftlichen Ladens zu ihrem Nutzen mitzuteilen, was geht und was nicht, wieviel Stahl z.B. mit welcher Kapazität an Produktionsanlagen und Beschäftigten effizienterweise hergestellt werden soll.
Nun mag es ja so sein, daß für die Unternehmen in einer Marktwirtschaft der Markt wie ein unhintergehbarer Sachzwang aussieht. Das liegt doch aber daran, daß alle anbietenden und nachfragenden Unternehmen mit dem gleichen marktwirtschaftsspezifischen Zweck Gewinnvermehrung - gegeneinander antreten und sich so wechselseitig ihr Interesse wie einen äußeren Zwang aufnötigen (so daß sich dann herausstellt, welche Produktionskapazität Gewinn abwirft, insofern 'vernünftig' ist, und welche nicht). Hieraus folgt doch wohl: der Markt ist nur insofern ein "Sachzwang", als und solange die Produktion nützlicher Güter dem Zweck der Geldvermehrung untergeordnet bleibt. Im übrigen ist die Behauptung, der Sachzwang Markt treffe alle Beteiligten in gleicher Weise, ziemlich haltlos. Es mag ja sein, daß die Lage der Beschäftigten davon abhängt, wie "ihr" Unternehmen mit dem Markt zurechtkomrnt. Daß sie deshalb "im gleichen Boot sitzen", stimmt schon deshalb nicht, weil es sich um eine konstant negative Abhängigkeit handelt, wie nicht erst in Rheinhausen sichtbar wird. Egal, wie ein Unternehmen in der Konkurrenz dasteht, ob gut, mittel oder schlecht: der "Sachzwang" Gewinnsteigerung schlägt notwendig gegen alle Ansprüche auf mehr Lohn, weniger Arbeit - und sogar auf einen garantierten Ausbeutungsplatz aus. Und da soll es "vernünftig" sein, wenn Arbeiter "einsehen", daß ihre "verständlichen" Anliegen objektiv nicht sinnvoll seien, von wegen "Markt"?
Welche Lehren sollten Ihrer Meinung nach die Beteiligten daraus ziehen?
"Die Unternehmensleitungen sollten erkennen, daß Überrumpelungsmanöver Widerstand provozieren; Politiker sollten davon Abstand nehmen, nicht einlösbare Hoffnungen zu wecken; Gewerkschaften sollten klar aussprechen, daß mit Kohle und Stahl im Ruhrgebiet Probleme eher geschaffen als gelöst werden können." Daß die Überparteilichkeit des "gesamtwirtschaftlich" denke den Volkswirts eine scheinbare ist - im Namen des Prinzips "Markt" spricht er sich für die Unterordnung aller Arbeiteranliegen unter das im Kapitalismus herrschende Interesse aus -, wird auch an den "Lehren" deutlich, die er den "Beteiligten" anempfiehlt. Sie lesen sich wie taktische Ratschläge an die Adresse von Unternehmensleitungen, Politikern und Gewerkschaften, wie "Widerstand" seitens der Arbeiter gegen Unternehmensheschlüsse in Zukunft vermeidbar wären. Der 'Realismus' des Professors in dieser Frage ist allerdings bloße Einbildung. Es mag ja sein, daß alle 3 angesprochenen Fraktionen auf ihre Weise für den Erfolg unserer Marktwirtschaft einstehen - deswegcn ist es aber noch lange nicht ihr Daseinszweck, als gemeinschaftliches Sprachrohr für die wirtschaftswissenschaftliche Botschaft durch die Gegend zu laufen, derzufolge jeder Arbeitsplatzsicherungswunsch am Sachzwang Markt wie eine Seifenblase zerplatzen muß. Und dafür, daß die Arbeiter sich in diesem Sinne einseifen lassen und bei rechtzeitiger und prinzipienfester 'Aufklärung' jegliche Gegenwehr selber als "nicht- berechtigt" einsehen, hat auch Herr Berg keine Garantie zu bieten.
Professor N. Eickhof (Uni Bochum)
Wie beurteilen Sie das Ergebnis des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Die Beurteilung hängt von der gewählten Perspektive ab: Für die unmittelbar Betroffenen ist das Ergebnis des Arbeitskampfes durchaus als Erfolg zu werten. War das ursprüngliche Arbeitgeberangebot - gerade hinsichtlich seiner Weiterbeschäftigungs- und Abfindungsvorschläge sowie verglichen mit ähnlichen Fällen - schon relativ günstig, so konnte mit dem teilweisen Aufschub der Betriebsstillegung, insbesondere aber mit der vereinbarten Schaffung neuer Arbeitsplätze noch eine Verbesserung erreicht werden.
Der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets insgesamt haben die Rheinhausener dagegen vermutlich einen Bärendienst erwiesen. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, daß der Arbeitskampf mit all seinen Begleiterscheinungen geeignet war, die ohnehin schon geringe Attraktivität dieser Region für Investoren zu erhöhen."
Auch Herr Eickhof ist auf Überparteilichkeit bedacht. Er ist jederzeit offen für verschiedene "Perspektiven". Aus Sicht der Rheinhausener Belegschaft sieht er (im Gegensatz zu dem, was die selber so meint) gleich einen doppelten Vorteil: Das ohnedies günstige Angebot von Krupp konnte noch verbessert werden. Wie kommt der Professor zu dieser Interpretation der Arbeiterperspektive? Er hält es für so abgrundtief in Ordnung, daß die Arbeiterexistenz eine abhängige Variable der Geschäftskalkulation von Unternehmen ist, daß jeglicher Abwicklungsmodus von Massenentlassungen (Weiterbeschäftigung der Belegschaftsteile, die man noch gebrauchen kann, oder sozialplanmäßige Abfindungszahlungen = die Kosten der Lohnkosten-Streichung) als Geschenk an die Betroffenen erscheint. Denen könnte schließlich noch ganz anders mitgespielt werden, wie der Blick auf andere Produktionsprozesse von Arbeitslosigkeit zeigt. Ganz ohne direkte moralische Verurteilung, nämlich aus 'objektiver' volkswirtschaftlicher Sicht, muß Professor Eickhof 'konstatieren': Die Rheinhausener Belegschaft wurde - im Vergleich zu Kollegen anderer Betriebe und Branchen - "privilegiert" behandelt. Wer einen kleinen Finger gibt, nährt natürlich den Wunsch nach der ganzen Hand: So, und nur so, ist der Arbeitskampf verständlich zu machen. Und wie die Dinge dann so laufen: der Übermut wurde auch noch belohnt! Mit dem Versprechen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sofern die sich rentieren (ein furchtbar arbeiterfreundliches Zugeständnis!)...
Interessant nun allerdings, mit welcher Logik Herr Eickhof den Begünstigten ihren 'Erfolg' doch noch madig macht. Der wirtschaftlichen Entwicklung des Ruhrgebiets sei ein "Bärendienst" erwiesen worden, weil Investoren keinen trouble mögen? Ist das jetzt die andere "Perspektive" oder sollte es den "unmittelbar Betroffenen" nach Eickhof tatsächlich darum gegangen sein, der Wirtschaftsregion einen Dienst zu erweisen? Offenbar meint er, darum hätte es - im eigenen Interesse - gehen müssen! Er hält eben konsequent an der Gleichung fest, daß die einzige dauerhafte Chance für Arbeitskraftbesitzer darin besteht, Investoren zu finden, die ihnen das Ding abkaufen, um es gewinnträchtig zu nutzen. Schlußfolgerung: Arbeiter fahren am besten, wenn sie aus ihrer einseitigen Abhängigkeit vom Unternehmerinteresse die Lehre ziehen, ihre 'Wettbewerbsposition' durch Anspruchslosigkeit zu stärken. Als ob Bravsein des benutzbaren Menschenmaterials einen Grund fürs Investieren abgäbe, als ob Investieren mit Arbeitsplatzsicherung identisch wäre, und als ob Arbeitern nichts Schöneres blühen könnte, als Dienste für Investoren verrichten zu dürfen.
Welche Lehren sollten Ihrer Meinung nach die Beteiligten daraus ziehen?
"Die wichtigste Lehre für alle Beteiligten ist m.E. die, daß der gesamtwirtschaftliche Strukturwandel allenfalls verlangsamt, aber nicht ausgeschaltet werden kann. Und bereits eine Verlangsamung ist nicht "umsonst" zu haben, sondern mit einer Zunahme des zukünftigen Umstellungs- und Anpassungsbedarfs und der damit einhergehenden volkswirtschaftlichen Kosten verbunden. Das haben die Landwirtschaft, der Steinkohlenbergbau, die Textilwirtschaft und die Werften erfahren müssen, und schaft, und zwar so lange, wie auf den relevanten Märkten Überkapazitäten bestehen.
Spektakuläre Einzelaktionen der betroffenen Beschäftigten können jetzt u.U. spektakuläre Einzelreaktionen vor allem seitens diversifizierter Großunternehmen sowie unter vermeintlichem Handlungszwang stehender Politiker bewirken. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen Gerechtigkeit und Sicherheit sind dagegen gesamtwirtschaftlich ausgewogene, auch langfristig durchführbare und in der Wirtschafts- und Sozialordnung verankerte Maßnahmenbündel vorzuziehen."
Der volkswirtschaftliche Sachzwang, den wir uns alle hinter die Ohren schreiben müssen, heißt bei Herrn Eickhof nicht "Markt", sondern "Strukturwandel". Das ist aber auch der einzige Unterschied zu Herrn Berg. Es handelt sich um eine eherne Notwendigkeit, der man nicht Einhalt gebieten kann - und wenn doch ("Verlangsamung"), rächt sich's hinterher, weil dann umso unerbittlicher und kostenträchtiger 'Beschleunigung' ansteht.
An diesem Bild vom kategorischen Imperativ Strukturwandel, dem sich schon Landwirtschaft, Bergbau etc. vergeblich zu entziehen versucht haben sollen, weshalb man ihm besser gleich Gehorsam schenken solle, ist nichts Wahres dran.
Erstens ist das als "Strukturwandel" Gedeutete weder ein eigenständiger Mechanismus, noch etwas objektiv Gebotenes, sondern schlicht das Resultat der unternehmerischen Konkurrenz darum, mit welchem Gebrauchsding die besten Geschäfte gemacht werden können: Ist Stahl durch andere Kunstprodukte moderner Technik ersetzbar, anderswo billiger einzukaufen oder weniger rentabel produzierbar als irgendetwas sonst? - In jedem Fall entscheidet die Gewinnkalkulation des Kapitals, welche "Struktur" die Produktion in einer Region annimmt. Das unternehmerische Geschäftskalkül verhält sich also völlig gleichgültig gegenüber der Idee einer Produktionsstruktur, die in sich ausgewogen sein und technisch fortschrittlichen Standards entsprechen soll. Es wird schlicht gemacht, was sich in DM rechnet. Und auch die Vorstellung, "Überkapazitäten" sollten abgebaut, "Unterkapazitäten" aufgestockt werden, auf daß eine sinnvolle und effiziente Arbeitsteilung der Gewerbe herrsche, hat mit der Realität des Marktes nichts zu tun. Wegen der Konkurrenz um den Markt kommen Überkapaiitäten überhaupt nur zustande, und beseitigt werden sie nur in dem Maße, wie Unternehmen die Spekulation aufgeben, mit ihnen künftig doch noch Gewinne einfahren zu können.
Zweitens handelt es sich bei der unter Volkswirtschaftlern beliebten Deutung; in Branchen wie Landwirtschaft, Bergbau etc. sei der "Strukturwandel" verschlafen worden, weil die Politik mittels Subventionen u.a. 'in den Markt hineingepfuscht' hätte, was "wir" heute mit volkswirtschaftlichen Unkosten bzw. vermehrtem Anpassungsbedarf zu bezahlen hätten, um einen Marktidealismus. Die reale Welt hat jedenfalls noch keinen Markt kennengelernt, der jenseits politischer Vorgaben seine 'immanente Gesetzmäßigkeit' hätte entfalten dürfen oder auch nur können. Natürlich greifen marktwirtschaftlich gesonnene Politiker nie ins freie Kaufen und Verkaufen ein, ohne dazu den Anspruch auf mehr Respekt vor der Freiheit und Eigengesetzlichkeit des Marktgeschehens zu erheben - gegen ihre Konkurrenz auswärts. Die versteht das, je nach der politökonomischen Potenz des jeweiligen Kämpfers für "politikfreie" Märkte, als Drohung,die - je nachdem - als verbindliche politische Vorgabe fürs Kaufen und Verkaufen zu respektieren ist... gerade der freie westeuropäische Stahlmarkt - der übrigens allen schlechten Strukturprognosen vom Jahresanfang zum trotz 6 Monate später boomt wie blöd; was sagen die Fetischisten des (verschlafenen) Strukturwandels eigentlich zu den Gewinnen? - bietet seit Gründung der Montanunion ein Beispiel dafür, wie die Maxime "Der Markt soll regieren!", die im Gründungsbeschluß der EGKS durchaus enthalten ist, verwirktlicht, beherzigt und - politisch durchgekämpft wird.
Was die Gegenüberstellung 'soziale Gerechtigkeit' contra 'spektakuläre Einzelaktionen' beim Strukturwandel-Bewältigen betrifft, muß sich der Leser doch fragen, ob Herr Eickhof die Geschwindigkeit beim Bauernlegen an die des Arbeiterlegens 'gerecht' anpassen möchte oder umgekehrt, oder ob er überhaupt nur in höflicher Phraseologie angedeutet haben wollte, daß Arbeiter die Wirkungen des gewinnsichernden "Umstrukturierungsprozesses" als "soziale Tat" entgegennehmen sollen, die jeweils auf sie zukommen, statt auf Maßnahmen zu verfallen, die laut Eickhof gerechterweise nicht "verankert" sind in unserer schönen Ordnung.
Professor H. Cox (Uni Duisburg)
Was halten Sie vom Ergebnis des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Unabhängig von der Frage, was vom Ergebnis ausdrücklich dem Arbeitskampf zugerechnet werden kann oder nicht, möchte ich generell das Ergebnis beurteilen: Es ist ein Kompromiß, der tragbar ist für beide Seiten. Er trägt zum einen dem notwendigen Strukturwandel in der Stahlindustrie Rechnung (Überkapazitätenproblem), dem sich auch die Stahlindustrie nicht entziehen kann. Dadurch, daß der Ein-Hochofenbetrieb in Rheinhausen bis Ende 1990 aufrecht erhalten bleibt, wird Zeit gewonnen, um die weitere wirtschaftliche Entwicklung abzuwarten (Option). Zum anderen haben beide Unternehmen, Krupp und Mannesmann, zugesagt, durch eigene Aktivitäten und Bemühungen von dritter Seite in Rheinhausen soviele Arbeitsplätze zu schaffen, daß die Zahl der im Hüttenbereich verbleibenden und der neuen Arbeitsplätze ab Ende 1991 mindestens bei 1.500 Arbeitsplätzen liegt. Wichtig ist auch, daß für Umschulungszwecke ein Qualifizierungszentrum für Arbeitnehmergeschaffen werden soll."
Professor Cox ist also der Meinung, daß das Ergebnis des Rheinhausener Arbeitskampfes er deutet diskret an, daß er sich dieses Ergebnis auch ohne Kampf vorstellen könnte (spricht das für das Ergebnis oder gegen den gelaufenen Kampf?) - für beide Seiten "tragbar" ist. Wie schon bei Herrn Eickhof gibt seine Begründung für dieses Urteil recht deutlich zu erkennen, wie überparteilich er als Wirtschaftsfachmann den Parteien Kapital und Arbeit das Ihre zuerkennt.
Was hat ihm zufolge die Arbeiterseite an Zugeständnissen in den"Kompromiß" eingebracht? Sie hat den "notwendigen Strukturwandel", dem sich auch die Stahlindustrie nicht entziehen könne, akzeptiert. Klartext: die Arbeiter haben das Interesse der Gegenseite - auch von Professor Cox als Sachzwang dargestellt, dem sich ein Stahlunternehmen verantwortlicherweise stellen müsse -, über ihre Existenz in freier Kalkulation künftiger Geschäftschancen zu befinden, akzeptieren müssen. Was hat dafür die Unternehmerseite zugestehen müssen? Erstens ein befristetes Fortführen eines Hochofens im Werk Rheinhausen; ein schönes Zugeständnis wenn Herr Cox selber anzuführen, beliebt, daß damit fürs Unternehmen eine Option gewonnen ist, die eventuelle Weiter-Rentierlichkeit dieser Produktion abzuwarten. Zweitens die Zusage, gemeinsam mit Dritten eine gewisse Zahl von (alten und neuen) Arbeitsplätzen im Hüttenbereich zu sichern und dafür Umschulungsaktionen zu unterstützen; ein schönes Zugeständnis auch dies, (wie auch immer beschaffenen und bezahlten!) Arbeitsplätzen nicht abgeneigt zu sein, die den Gewinn von Krupp und Mannesmann auch in Duisburg weiteihin vermehren helfen. Klartext: Das Unternehmen hat sein eigenes Interesse an florierenden Geschäften - im Namen der "sozialen Verträglichkeit" - fest im Auge zu behalten. Aber so ist das eben vorgesehen mit Kompromissen in einer Wirtschaft, in der das herrschende Interesse nicht zuletzt in dem Maße Erfolg hat, wie es auf Kosten der abhängigen Seite geht. Herrn Cox ist es gelungen, dieser harten Wahrheit das Prädikat "geht in Ordnung" zu verleihen, indem er dekretiert, daß Arbeiter mit dem bloßen Faktum, irgendwie 'mitberücksichtigt' orden zu sein, zufrieden zu sein haben.
Welche Konsequenzen sollten Ihrer Meinung nach die Beteiligten aus Verlauf und Ergebnis des Arbeitskampfes ziehen?
"Lösungen können nur auf einer bestimmten Vertrauensbasis und in offenen Gesprächen zwischen den Beteiligten in Form von Kompromissen gefunden werden, wobei selbstverständlich die gesetzlichen Bestimmungen (u.a. Mitbestimmung) eingehalten werden müssen. Die in dieser Hinsicht gemachten Fehler sind künftig zu vermeiden. Mit der Brechstange darf das Überkapazitätenproblem nicht gelöst werden. Die Arbeitnehmerseite muß in ihre Überlegungen einbeziehen, daß die Montanindustrie sich dem Strukturwandel stellen und ihre Produktion umstellen muß, um langfristig wettbewerbsfähig zu bleiben. Daher muß auch Mobilität verlangt werden. Alle Beteiligten sollen sich darüber im klaren sein, daß das eigentliche Ziel für diese Region nur lauten kann: Weg von der Monostruktur hin zu einer diversifizierten Wirtschaftsstruktur. Deshalb bedarf es gemeinsamer Anstrengungen und Programme aller Beteiligten: Bund, Land, Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften."
Professor Cox ist der Meinung, daß ein vernünftiger Kompromiß am besten in friedlichschiedlicher Einigung im Rahmen der gesetzlichen Mitbestimmung zu erreichen sei, ein Arbeitskampf wie der in Rheinhausen also nur aus - vermeidbaren - Fehlern resultieren könne. Ohne irgendeinen konkreten Vorschlag geben zu können, meint er hier ein Rezept anbieten zu können. Ein anderer Stil der Unternehmensführung beim Durchziehen der für heilsam befundenen Entlassungen - eben nicht "mit der Brechstange", sondern über Kungelei mit betriebstreuen Betriebsräten -, gilt ihm als Garantie dafür, daß Arbeiter stille halten. Die haben nämlich gefälligst einzusehen, daß die "Wettbewerbsfähigkeit" der Firma, der sie ihre Beschäftigung "verdanken", über alles zu gehen hat. Nach dem Motto: wenn die Unternehmen unserer Marktwirtschaft ihre Pflicht tun und "sich dem Strukturwandel stellen", den sie veranstalten (Pflicht und Interesse fallen hier zufälligerweise zusammen), dann ist es eben die Pflicht der Arbeiter, sich freiwillig positiv dazu zu bekennen, daß mit ihnen geschäftsdienlich verfahren wird, und das Entlassen-Werden als eigene Tugend zu deuten: "Mobilität". Es handelt sich bei dieser Tugend ausschließlich darum, die Tatsache, sich - nach Unternehmensbeschluß auf dem harten Pflaster des Arbeitsmarkts wiederzufinden und zu entsprechenden Anstrengungen, irgendwo irgendeinen anderen Arbeitsplatz aufzuspüren, gezwungen zu sein, im Sinne eines "anders geht's wahrscheinlich nicht!" zu akzeptieren.
Die gemeinschaftsstiftende Cox-Parole "Weg von der Monostruktur, hin zu einer diversifizierten Wirtschaftsstruktur" zeugt im übrigen auch nicht von besonderer Einfallskraft. Weder dürfte der Wirtschaftsexperte angeben können, was gegen eine Monostruktur sprechen soll - wenn mit "einseitigen" Geschäftsartikeln (wie im Ruhrgebiet jahrzehntelang Usus) Geschäfte gemacht werden, ist doch die volkswirtschaftliche Welt in Ordnung, oder? -, noch ist abzusehen, wie eine Diversifizierung der Produktionssparten von sich aus für die Kapitalvermehrungsqualität, auf die es - regionalwirtschaftlich - doch ankommen soll, geradestehen sollte. Ganz abgesehen davon, daß es gar keine marktwirtschaftliche Instanz gibt, die eine so oder so geartete regionale Produktionspalette anstreben würde - das wäre ja Planwirtschaft!
Diese Geistreichelei des Duisburger Professors dürfte sich also auf das Votum reduzieren, das Kapital (der Region) müsse - womit auch immer erfolgreiche Geschäfte machen. Und: Arbeiter müßten dieses Erfordernis, schließlich sind sie auch Ruhrgebietsbewohner, für furchtbar einleuchtend erachten und sich geschlossen hinter die "Programme aller Beteiligten: Bund, Land, Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften" stellen. Denn selbstverständlich sind die Bedürfnisse unserer "Wirtschaftsstruktur" mit denen von Lohnabhängigen tendentiell deckungsgleich, weil letztere ohnehin nichts zu melden haben...
Ein erstes Fazit
Die Wirtschaftsprofessoren H. Berg, N. Eickhof und H. Cox beweisen, daß Wissenschaftler jederzeit in der Lage sind, zu 'ganz konkreten Tagesereignissen' ein gewichtiges Wörtchen beizusteuern. Auch ein so 'heikles Thema' wie Rheinhausen bewältigen sie mit Sachkenntnis, Prinzipientreue und der gebotenen Unparteilichkeit.
Sachkenntnis: Ihnen ist völlig klar, daß ein Streit zwischen Kapital und Arbeit nur damit zu tun haben kann, daß ein "Sachzwang" zur Bewältigung ansteht, ohne daß dies allen Beteiligten schon völlig klar geworden wäre; außerdem haben sie ihre WAZ gelesen und Fakten und Zahlen im Kopf.
Prinzipientreue: "Verständnis" für das eine oder andere 'subjektive' Interesse haben sie jede Menge, aber das hindert sie in keiner Weise daran, jeden Streitfall unter den dogmatischen Standpunkt "Was nützt dem Marktflorieren?" zu subsumieren.
Unparteilichkeit: Allen Beteiligten werden gleichermaßen im Namen der Beförderung der "Wirtschaftsstruktur" Pflichten und Chancen erläutert; ganz sachlich wird dabei berücksichtigt, daß die einen die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen sichern müssen, die anderen dafür als mehr oder weniger gefragtes Instrument herhalten dürfen.
Kurz: Wissenschaftler haben ihr staatsbürgerliches Verantwortungsbewußtsein präsentiert, indem sie vorgeführt haben, wie elegant sich der Fall Rheinhausen ins volkswirtschaftliche Glaubensbekenntnis einordnen läßt, das die Spielregeln der Marktwirtschaft heiligspricht. Eine Niederlage von Arbeitern gerät da lässig zum Beweis dafür, daß Parteien die bessere Alternative zum Protestieren ist.
II. Der juristische und rektorale Sachverstand:
Die Lösung von Rheinhausen ist nicht optimal, aber vertretbar. Die Beteiligten sollten in Zukunft mehr Ideen haben und alle - längst vorhandenen Möglichkeiten nutzen. Umstrukturierungen sind immer ein Problem, in unserem System werden sie aber am besten bewältigt. Unsere FDGO hat immer recht.
Professor K. Ipsen (Uni Bochum, Rektor)
"Was das Ergebnis der Rheinhausen-Angelegenheit anbetrifft, so muß ich zweierlei dazu sagen, zunächst einmal: Daß das Werk bei einem Minus von jährlich 140 Millionen dauerhaft nicht zu halten war, leuchtet mir ein. Daß hier also eine Umstrukturierung, die die gesamte Stahlindustrie trifft, unvermeidlich war, leuchtet mir ebenso ein."
Ein gelernter Jurist - nach einem Urteil über einen Sachverhalt gefragt - fühlt sich offenbar gleich aufgefordert, seine rechtlichen und moralischen Maßstäbe zu mobilisieren und zu begutachten, ob die Angelegenheit auch in Ordnung gehe. Und siehe da, der gesunde Menschenverstand sagt ihm, was in Rheinhausen passiert ist, hat wohl sein müssen. Schließlich muß ein Unternehmen schauen, daß der Gewinn stimmt, und sich dementsprechende Anlagesphären suchen. Das ist nunmal bei uns so (was übrigens wirklich nicht zu bestreiten ist), und darum leuchtet Herrn Ipsen das Ergebnis der Angelegenheit auch ein. Dieses "darum" zeichnet eben einen "Realisten", wie der Herr Rektor sich wohl bezeichnen würde, aus. Im Unterschied zu den Kollegen von der Ökonomen-Front etwa macht er sich nicht die Mühe, "Sachzwängen" den Schein einer wissenschaftlichen Legitimation zu geben; seines Erachtens hat jeder vernünftig denkende Mensch bei der Beurteilung der Verhältnisse von ihnen auszugehen.
Allerdings ist dieser Standpunkt nicht mit allem, was (und wie es) läuft, zufrieden. Herr Ipsen hat durchaus seine Vorbehalte und Empfehlungen:
"Gleichwohl sehe ich den Zeitraum, in dem Rheinhausen nun geschlossen werden soll, nämlich, wie ich es recht in Erinnerung habe, in zwei Jahren, daß dieser Zeitraum für eine entsprechende Versorgung des dort tätigen Personals mit adäquaten Arbeitsplätzen sehr kurz bemessen ist. Und als Lehre, die aus Rheinhausen zu ziehen ist, meine ich, daß in vergleichbaren Fällen sehr sehr viel frühzeitiger eine konzertierte Aktion stattfinden muß, um Umstrukturierungen langfristig zu planen und mit möglichst wenig Schaden für die Beteiligten, primär natürlich für die Arbeitnehmer, durchzuführen. Das halte ich für ganz entscheidend. Rheinhausen hätte m.E. nicht in diesen kurzen Abläufen passieren müssen, Rheinhausen hätte nicht, wie es sich zunächst abzeichnete, gelöst werden müssen von einem aufs andere Jahr. Denn das jährliche Defizit, das dort auftrat, ist ja auch nicht von heute auf morgen aufgetreten, sondern hat sich über Jahre angekündigt und ganz offensichtlich auch über Jahre gesteigert. Und verantwortliche Beteiligte müßten in einem solchen Fall frühzeitig an eine Umstrukturierung denken, frühzeitig Ideen entwickeln, frühzeitig Rationalisierungen vornehmen und nicht die Arbeitnehmer mit einem Schließungsbeschluß überfallen, der praktisch von einem aufs andere Jahr vollzogen werden soll. "
Fragt sich nur, ob hier der Realist nicht doch etwas arg idealistisch und blauäugig argumentiert, seinen Zuhörern zumindest einige Naivität unterstellt. Der Maßstab, den er für diesen und vergleichbare Fälle aufstellt, lautet, daß das bisher tätige Personal wieder mit adäquaten anderen Arbeitsplätzen versorgt werden soll, und er fordert, künftig dafür mehr Zeit einzuplanen. Also: Wenn man am Fall Rheinhausen etwas auszusetzen hat, dann soll es die Verletzung einer Sorgfaltspflicht seitens der Verantwortlichen sein. Natürlich gibt es diese Sorgfaltspflicht praktisch gar nicht, aber Herr Ipsen führt sie ein, weil er damit klarstellen will, daß die freie Marktwirtschaft - seiner Ansicht nach - ein System ist, in dem an sich keiner zu kurz kommen müßte und dürfte. Wenn es dann trotzdem offenkundig immer wieder eine Reihe von Gelackmeierten gibt, dann spricht das überhaupt nicht mehr gegen diese Wirtschaftsordnung, höchstens dafür, daß es diese Fälle in unserem System eigentlich gar nicht geben müßte und - bei etwas mehr Verantwortungsbewußtsein der Beteiligten - auch nicht gäbe. - Diese Interpretation der Dinge einmal weitergedacht, müßte man sich wohl die Zahl von beinahe 3 Mio Arbeitslosen in der BRD damit erklären, daß die Unternehmen schlicht in einer ganzen Reihe von "vergleichbaren Fällen" zu kurzfristig ihre Umstrukturierungen geplant haben, oder? Doch so weit möchte Herr Ipsen sicherlich nicht gehen. Vielmehr möchte er lediglich seine Sicht loswerden, eigentlich müßten die Unternehmen und das wäre mit ihrem Zweck durchaus vereinbar - die Versorgung der arbeitenden Menschheit mit Arbeitsplätzen bewerkstelligen, das soziale Wohl ihrer Mitarbeiter also zum Maßstab ihrer Kalkulationen machen. Der Grund, den er für diese Auffassung hat, ist einfach der, daß ihm diese Vorstellung von unserer Wirtschaftsordnung nun einmal sympathisch ist.
Und darum verlangt er von den Kapitalisten sogar, sie sollten auf Jahre hinaus vorher sagen, wieviele Leute sie brauchen werden. Sicherlich ein sehr verantwortungsvoller und famoser Vorschlag - nur, wieso sollen sie erstens das vorher schon so genau wissen? Mehr als: "soviel, wie für den Gewinn nötig sind, und darum auch keinen zuviel", werden sie nie und nimmer sagen können und wollen. Da heißt es für sie eben abwarten und "die Chancen des Marktes nutzen". Zweitens, warum sollte eine Firma ihre lieben Mitarbeiter schon so früh darüber aufklären, wen sie wie lange noch zu benutzen gedenkt? Schließlich ist sie doch kein Wohlfahrtsunternehmen, das sich die Sorgen seiner Beschäftigen macht. Im übrigen vertut sich der Herr Rektor auch ein wenig, wenn er das Bilanzdefizit eines kapitalistischen Unternehmens unter seine dem "gesunden Menschenverstand" entsprungene Vorstellung, Löcher in der Kasse hätten die Tendenz, größer zu werden, subsumiert: Wieso soll es denn ziemlich absehbar gewesen sein, daß das Defizit wächst? So blöd wird Krupp wohl nicht gewesen sein, daß es produziert hat, ohne sich auf Dauer einen Gewinn auszurechnen. - Hinterher ist man natürlich viel klüger, vor allem aber läßt sich so die These untermauern: Es hätte nicht sein müssen.
So ist auf jeden Fall klargestellt: Kritik an Rheinhausen kann man (wenn's denn sein muß) durchaus haben, aber nur so, daß die Marktwirtschaft bloß nicht in Mißkredit gebracht wird, sondern daß das Vertrauen in sie gestärkt wird.
Und nachdem der Hauptknackpunkt "frühzeitige Regelung der Angelegenheit" lautet, ist die schließlich beschlossene zeitliche Streckung der Entlassungen immerhin "etwas", was Herr Ipsen durchaus positiv gewürdigt haben möchte:
"Ich meine schon, daß die Arbeiter etwas erreicht haben. Sie haben sicher nicht das erreicht, was in ihrem Sinne verständlicherweise das Optimalziel gewesen wäre, nämlich Erhaltung ihrer Arbeitsplätze, das ist klar."
Ja, wann erreicht man schon Optimalziele: Darum heißen die ja so! - Das soll natürlich nicht von Herrn Ipsens kritischer Würdigung der Angelegenheit - gerade in Hinblick auf zukünftige vergleichbare Fälle - ablenken, nur möchte der Herr Rektor klarstellen, daß er die Lösung der Rheinhausen-Angelegenheit andererseits auch durchaus für vertretbar hält.
Die Beteiligten sollten in Zukunft mehr Ideen haben und alle - längst vorhandenen - Möglichkeiten nutzen
Das einzige, was sich aus Rheinhausen ableiten läßt, ist die Hoffnung darauf, daß die Zuständigen ihre Aufgabe in Zukunft noch besser lösen. Und als regelmäßiger WAZ-Leser weiß Herr Ipsen natürlich auch auszuführen, auf was es da etwa ankäme. Zugleich muß er natürlich vor unrealistischen Erwartungen warnen: "Ja, es muß in einem solchen Fall versucht werden, daß frühzeitig im Bereich einer solchen Anlage wie dem Werk Rheinhausen alternative Arbeitplätze geschaffen werden und hier primär durch Ansiedlung kleinerer Betriebe. Man kann heute einfach nicht davon ausgehen, daß eine Sitiuation Bochum/Opel sich wiederholt, daß bei Einstellung des Bergbaus, der hier in den sechziger Jahren zu verzeichnen war, dann von heute aufmorgen ein Werk mit 18.000 Arbeitsplätzen entsteht, das wird nie wieder geschehen in der BRD, darüber muß man sich klar sein. Es geht also nur, wenn man Arbeiter, die nun auch schließlich ihren Lebensmittelpunkt dort gefunden haben, die zum Teil ihre eigenen Häuser haben, die also von daher auch nicht sehr mobil sind, wenn man sie nicht verpflanzen will, was gar nicht geht, dann ist die einzige Alternative tatsächlich die, daß im Umfeld eines solchen Werkes andere Arbeitsplätze geschaffen werden. Und die können nur in Kleinbetrieben und nur über Betriebe geschaffen werden, in denen dieses Personal - auch mit einem gewissen Aufwand an Schulung eingesetzt werden kann. Das bedeutet nicht, daß ich auf einmal einen Stahlkocher zum Mikroelektroniker umschulen kann, das wird auch nicht möglich sein. Es müßte da schon etwas entwickelt werden, was einerseits gegenwärtig von der Gesellschaft gefordert wird, andererseits aber auch das Personal verwendbar macht. Ich denke z.B. in diesem Zusammenhang an das, was sich jetzt relativ breit entwickelt, nämlich Aufgaben in der Entwicklung von Umweltschutztechniken, Bodensanierung, Müllverwertung, Großdeponien, Kleineinrichtungen. Wie gesagt nur ein Beispiel, so etwas müßte dazu führen, daß man über einen Zeitraum, der dann auch nicht - wenn ich es einmal grob schätzen soll - nicht unter zehn Jahren liegen wird, allmählich ein Werk dieser Art, das Defizite produziert, zurückfährt und dafür andere Beschäftigungsmöglichkeiten schafft. Ich sehe nicht, daß Ideen dieser Art überhaupt zu früheren Zeitpunkten schon diskutiert wurden, ich weiß es jedenfalls nicht."
Das Interessante an den Vorschlägen ist, daß sie einerseits ja längst bekannt sind, aber nun eben noch einmal aus dem berufenen Munde des Herrn Rektors kommen, und da sind die Ideen zwangsläufig noch sehr neu. Interessant ist natürlich auch, daß Ipsen, Rektor, an eine Wiederholung einer großen Industrieansiedlung (wie Opel damals) nicht glaubt, oder daß er es für unmöglich hält, einen Stahlkocher (Brammen = groß) zu einem Mikro(!)elektroniker umzuschulen, daß er aber durchaus realistische andere Alternativen sieht. Solche Auskünfte können allemal denjenigen zufriedenstellen, der die Zunahme der Arbeitslosigkeit im Ruhrgebiet konstatiert, von ihren Gründen nichts weiter wissen will, sie aber für sehr besorgniserregend erachtet und hofft, daß endlich was getan wird. So jemand kriegt vorgeführt, daß schon wieder ein Prominenter des Reviers um die Sorgen der Leute weiß, ihnen verständnisvoll begegnet und sich öffentlich dazu bekennt, daß mehr getan werden muß möglichst konzertiert, mit viel mehr Ideen als bisher... Mehr als diese Demonstration wollte der Herr Rektor offensichtlich nicht bieten. Und darum wollen auch wir ihm jetzt nicht kleinlich vorhalten, daß er außer dem schönen Szenario, daß die Arbeitsplätze, die verlorengehen, durch neue in vielen Kleinbetrieben und einigen Großdeponien wieder entstehen könnten, und daß sich das die Waage hielte, wenn man genau den Zeitraum von 10 Jahren vorsähe, gedanklich nichts zustandegebracht hat. Schon eher möchten wir würdigen, wie er sich gegen den absehbaren Einwand abgesichert hat, er kümmere sich ja gar nicht darum, was wie und warum in dieser Wirtschaft gemacht wird, stattdessen behaupte er einfach, es ginge auch ohne diese häßlichen Begleiterscheinungen, weil er nun einmal einfach für diese Verhältnisse sei:
"Ich sehe solche Situationen wie in Rheinhausen nur lösbar durch ein ganzes Bündel von Maßnah men, und das, was ich bisher dazu gesagt habe, möchte ich auch eher als Beispiel verstanden wissen. Ich bin natürlich nicht in der Lage, hier aus der Hand Wirtschaftsstrukturprogramme zu entwickeln, bei denen ich auch noch den Anspruch erheben kann darauf, daß sie funktionieren."
Wer hat das denn verlangt: Wir verstehen aber schon: Das einzig Wichtige ist, daß - wenn's irgendetwas am Wirtschaftsleben zu bekritteln gibt - deswegen die Wirtschaftspolitik umso mehr gefordert ist. Wenn die bisherige Wirtschaftspolitik und die Entscheidungen der Unternehmen recht schädliche Folgen für die Betroffenen gezeitigt haben, dann braucht man sich nach deren Zielen und Entscheidungskriterien gar nicht lange zu erkundigen. Vielmehr muß man davon ausgehen, daß das in Zukunft besser werden sollte. Und es wird ja schon etwas gemacht, wobei man die Schwierigkeiten dabei nicht übersehen darf. Aber e s geht, eben nach der gar nicht so schwierigen Faustregel:
"...frühzeitig diese Veränderungen in den Produktionsverhältnissen sehen und darauf reagieren und zwar vorausschauend reagieren und nicht immer erst dann im Sinne des Wortes reagieren, wenn Entwicklungen soweit vorangetrieben sind wie etwa in Rheinhausen."
Eben - wie das Wort schon sagt: reagieren, bevor etwas eintritt.
Umstrukturierungen sind immer ein Problem, in unserem System werden sie aber am besten bewältigt
Und damit wären wir auch schon bei einem ganz prinzipiellen Punkt: Lassen sich die negativen Erscheinungen für die arbeitende Bevölkerung überhaupt und irgendwo vermeiden? Quasi für den Fall, daß die bisherigen Argumentationen noch nicht überzeugt haben, möchte Herr Ipsen - egal, wie das zum bisher Gesagten paßt - darauf hinweisen, daß er noch einen ganz anderen Trumpf im Ärmel gegen Leute hat, die wg. Rheinhausen das System in Verruf bringen wollen:
"Ja, wenn ich einmal marxistisch systemimmanent argumentieren würde, dann müßte ich sagen: die Produktionsverhältnisse bestimmen die gesellschaftliche Entwicklung. Das bedeutet aber, daß man sich auf veränderte Produktionsverhältnisse auch einstellen muß. Der Arbeiter von heute ist ja nicht mehr der Arbeiter des 19. Jahrhunderts. Er ist nicht einmal mehr der Arbeiter der Schwerindustrie, die die Basis der gesamten Produktion der 30er, 40er, bis 50er Jahre war. Wir werden ja ganz andere Schwerpunkte haben in Zukunft, wo derjenige, den wir überhaupt als Arbeiter bezeichnen, tätig sein wird. Und dieses zu bewältigen, bin ich nicht sicher, ob man dies durch ein dirigistisches System schafft, das die in diesem Staat und vergleichbaren Staaten vorgegebene Situation, Unternehmen einerseits, abhängige Arbeitnehmerschaft andererseits, verändert. Ich sehe bisher nicht z.B., daß existente sozialistische Systeme mit den rasanten Änderungen der Produktionsverhältnisse besser fertig werden, im Gegenteil, ich sehe, daß sie durchgehend schlechter damitfertig werden..."
Ja so ein schönes Argument, bei dem sogar etwas Marx'sches Vokabular anklingt, muß doch selbst Marxisten einleuchten, oder? Das Dumme ist nur, daß es auch nicht mehr besagt als der Spruch "tempora mutantur..."
Daß sich die Wirtschaft auf die Veränderung der "Produktionsverhältnisse", gemeint sind wohl neue Produktionsmethoden etc., einstellen müsse, stellt die Sache wohl ein wenig auf den Kopf: Die Umstrukturierung der Produktionsverfahren ist ja immer noch Resultat von unternehmerischen Kalkulationen und nicht eine Entwicklung an und für sich, eine Vorgabe, die die Jahreszahl vorschreibt. (Wenn es nur so wäre, daß immer mehr technisches Wissen entsteht, wäre überhaupt nicht einzusehen, warum die Arbeit dann nicht immer weniger und leichter wird. Warum soll denn daraus überhaupt massenhafte Frühverrentung, schlechtere Jobs und Stempelngehen folgen?) Aber Herr Ipsen möchte nunmal in den Veränderungen der Produktion und ihren schädlichen Folgen für die Arbeiter einen Sachzwang sehen. Und um diese Sicht zu untermauern, fällt ihm das originelle Argument ein: Ist es denn drüben besser? Als wenn die Frage und ihre Beantwortung irgendetwas daran ändern würde, daß es hier ganz bestimmte Gründe nämlich den privaten Gewinn als Zweck des Produzierens - dafür gibt, daß Produktionsveränderungen auf Kosten der Arbeiter gehen.
Da nunmal aber von denen nicht die Rede sein soll, stellt sich Ipsen auf den "praktischen Standpunkt" und erwägt Alternativen:
"Ich sehe keine andere Möglichkeit: Diese Arbeitsplätze hätten Sie nur erhalten können, wenn Sie das Defizit von der öffentlichen Hand her ausgeglichen hätten. Das Geld muß aber auch irgendwo herkommen, in jedem Staat, egal, wie ein System auch immer strukturell gestaltet ist, ob ein sozialistischer oder kapitalistischer Staat. Das Geld muß irgendwo herkommen. Und ich kenne bisher einfach kein Modell, das muß ich ganz klar sagen, das auf Entwicklungen dieser Art mit der einerseits notwendigen Effektivität, andererseits aber menschenfreundlich reagieren kann. Ich kenne bisher keins."
Und was, wenn die Forderung, "Arbeitsplätze" zu "erhalten", nicht bloß im Kapitalismus weltfremd, sondern überhaupt verkehrt und gar nicht Sache von Kommunisten ist? Wenn erst recht diese (Lohn-!)Arbeitsplätze gar nicht wert sind, daß die Leute, die darauf verschlissen werden, sich um nichts mehr als ihren Erhalt kümmern? Wenn Lohnarbeiter, die solche Wünsche anmelden, prinzipiell - oder strukturell - zu bescheiden zu Werk gehen? Was, wenn die "System"-Frage sich nicht in der Frage der Geldbeschaffung erschöpft, sondern die Logik des Geldes selbst in Frage stellt - wie wir "marxistisch systemimmanent argumentieren" würden -? Wenn der Haken gerade in der Herrschaft des Tauschwerts, realisiert im Geld, über alle Bedürfnisse (das Ergebnis für die meisten ist u.a. ein lebenslanger Einteilungszwang) und über alles Produzieren (das Ergebnis sind u.a. die noch nicht einmal sicheren Arbeitsplätze) liegt? Wenn - die sozialistischen Staaten mit ihrer Neuerfindung des Geldes mehr das kapitalistische System "strukturell" nach-"gestalten" als für kommunistische Verhältnisse sorgen? - Und schließlich: Was wenn es gar keine von den gesellschaftlichen Systemen unabhängige "Entwicklungen" gibt, auf die diese zu "reagieren" hätten? Wenn gesellschaftliche Systeme überhaupt keine "Modelle" sind, die der Fachmann im großen Kaufhaus Weltgeschichte besichtigen und ideell für den allgemeinen Gebrauch heraussuchen könnte? Und wenn es gar nicht gegen den Kommunismus spricht, daß der Bochumer Universitäts-Rektor nichts von ihm weiß? Herr Ipsen jedenfalls kennt sowieso nichts über das hierzulande waltende System und dessen ideologische Maßstäbe hinaus. Sehr kapitalistisch systemimmanent denkt er einmal besorgt an einen gewissen Gegensatz - und glaubt sogleich wieder an die vergleichsweise (nämlich im Vergleich mit vorgestellten schlechteren und mit nicht vorgestellten schöneren Alternativen) optimale Kombination von "Effektivität" und "Menschenfreundlichkeit". Ob er denen drüben mehr Menschlichkeit, aber Ineffektivität ankreiden möchte? Oder umgekehrt: Auf alle Fälle heißt bei Ipsen die System-"Frage " aufwerfen gleich ganz direkt: die Unvorstellbarkeit einer anderen"Antwort" als der bei uns gegebenen beteuern. Sehr wisse schaftlich das!
FDGO hat immer recht
Die Überlegenheit unseres Systems beweist sich übrigens auch - laut Ipsen - am Verhalten der Polizei gegenüber den Rheinhauser Brückenbesetzern:
"Ich würde zunächst einmal sagen, ich halte den Umstand, daß dort Ordnungskräfte nicht eingegriffen haben, für richtig und auch für gerechtfertigt, unter Anwendung dessen, was der Jurist Verhältnismäßigkeitsprinzip nennt. Denn die erste Überlegung bei der Anwendung öffentlicher Maßnahmen oder beim Einsatz öffentlicher Gewalt ist immer die: ist diese Maßnahme überhaupt geeignet, einen bestimmten Zweck zu erreichen. Nach meiner Einschätzung wäre hier der Einsatz von Ordnungskräften, d.h. ganz konkret Polizei, nicht geeignet gewesen, irgendeinen öffentlichen Zweck zu erreichen."
Tja, das spricht doch wirklich sehr für unser System, daß der Staat die Polizei nicht aufmarschieren läßt, wenn es ihm überhaupt nichts bringen würde! Aber daraus läßt sich ja vielleicht doch auch noch ein moralischer Pluspunkt machen, etwa über den Vergleich:
"Ich würde es für ganz verheerend halten, wenn in einem Staat wie dem unseren das geschieht, was in manchen sozialistischen Staaten an der Tagesordnung ist, nämlich Polizeieinsatz gegen Arbeiter erfolgt. Das wäre eine Niederlagefür das betreffende System."
So ein Spruch, so schön er die Arbeiterfreunde drüben moralisch in die Ecke stellt, hat natürlich zwei Haken. "Niemals Polizei gegen die Arbeiter", ist ein wenig arg apodiktisch, also muß eine Zurechtrückung her:
"... ob man solche Formen (wie Brückenbesetzungen) der Durchsetzung eigener Interessen generell gutheißen kann oder nicht, darüber läßt sich sicher sehr lange streiten, je nachdem, um welche Art der Interessen es geht. Wenn z.B. dagegen protestiert werden soll, daß die Kfz-Steuer erhöht wird, oder die Benzinpreise erhöht werden, das würde ich nicht als einen Grund ansehen, sämtliche Autobahnbrücken dichtzumachen, oder eine Autobahnbrücke dichtzumachen. Wenn es aber um die Existenz von Menschen geht, die schlichte Existenz und das, was sie brauchen zum Leben, dann meine ich schon, daß eine solche Maßnahme auch von der öffentlichen Gewalt geduldet werden sollte. Denn wenn... darf ich es mal auf diesen Punkt bringen: wenn Arbeiter schlicht um ihre Existenz kämpfen müssen, dann würde ich es für eine Bankrotterklärung eines Staates halten, wenn er gegen diese Arbeiter mit Polizei vorgeht."
Der zweite Hake des "Niemals Polizei gegen Arbeiter"-Arguments ist der, daß die schöne BRD solche Konfrontationen durchaus, einschließlich von Toten auf seiten der letzteren auf ihrem Konto hat (was das BVerfG unseres Wissens seinerzeit schwer gerügt hat). Nun, auch da weiß sich Herr Ipsen Rat. Es bietet sich mal wieder das Argumentationsmuster "allgemeines Problem", "jedes System", "der Mensch" an; und von da aus läßt sich allemal die Kurve kratzen: hier Klasse, drüben unmenschlich:
"Ja wissen Sie, ich bin der Meinung, daß das System, das dieser Staat hat, außerordentlich belastbar ist, und daß Fehlentwicklungen in der Regel auftreten durch Fehlhandlungen von Menschen innerhalb des Systems. Die sind nie vermeidbar. Und ich bin deshalb auch der Meinung, daß man kein Gesellschaftssystem schaffen kann, das die Abläufe innerhalb der Gesellschaft so kanalisiert, daß der absolute innere Friede gegeben ist, das wird nie möglich sein, nach meiner Einschätzung. Es wird immer Menschen geben, die sich ausklinken wollen. Richtigerweise, denn erfreulicherweise ist der menschliche Geist eben nicht so verfügbar, wie sich jene, die meinen geschlossene Systeme schaffen zu können, es erhoffen oder es sogar voraussetzen. Und es wird in jedem System Menschen geben, die aus ihm ausbrechen wollen, das würde ich auch für gut halten, das ist im Grunde genommen gerade das Menschliche in einer Gesellschaft. Und wenn in einem Staat wie dem unseren es zu Demonstrationen kommt, die dann zu Auseinandersetzungen mit der Staatsgewaltführen, mit Verletzten und Toten, dann ermöglicht gerade dieses System es auch, dem Druck nachzugeben."
Wo ist denn noch der Spruch "Wir werden uns dem Druck der Straße nicht beugen!" fester Bestandteil der politischen Kultur? Sei's drum, das sagt einem doch schon der gesunde Menschenverstand: Opfer, die bei der Erhaltung des inneren Friedens anfallen, stellen natürlich nur der Demokratie ein gutes Zeugnis aus!
Schließlich muß aber noch eines mit Nachdruck an die Adresse von Kritikern dieser Ordnung gesagt werden: Nachdem unser System so offen für Kritik ist, daß man sogar behaupten kann, Unzufriedenheit wäre immerhin ein Beitrag zum Wandel, muß sich doch jeder Kritiker ernsthaft prüfen: Was läßt sich denn da überhaupt noch gegen dieses System einwenden?
"Also das Bedauerliche bei uns finde ich, daß man zum Teil zu Auseinandersetzungen kommt, die in diesem Extrem an sich einer Gesellschaft, wie wir sie sind, gar nicht würdig sind, einer Gesellschaft, die zumindest diesen Anspruch erhebt, an die Spitze - als Staatziel, als ersten Artikel - des Grundgesetzes, die Menschenwürde zu stellen."
Als würde nicht jeder Staat an der Spitze seines Grundgesetzes die Höchstwerte aufzählen, für die und mit denen er Ehre einlegen möchte! Als wäre die Verhimmelung von solchen Sachen wie Leben und Bewegungsfreiheit zu allerhöchsten Grundwerten nicht recht verräterisch, nämlich die idealistische Ankündigung gesellschaftlich druchgesetzter Verhältnisse, unter denen selbst so etwas ein Problem ist? Aber wir nehmen zur Kenntnis: Jurist Ipsen ist stolz auf eine Gesellschaft, deren Parlamentarischer Rat sich 1948 auf die literarische Gattung des demokratischen Grundgesetzes verstanden hat. Und er will der Sentenz von der Menschenwürde zu Beginn einer Staatsverfassung ganz einfach nicht ansehen, was sie aussagt - nämlich: Alles, was diese Staatsgewalt tut und ausrichtet und wofür sie Gehorsam verlangt und erzwingt, und dieser Gehorsam selbst, das alles ist gefälligst als Dienst an der Menschenwürde zu würdigen; denn so und nicht anders sieht sie aus!
III. Der sozialorientierte Sachverstand:
"Konfliktfähig" = konsenswillig. Entlassen ist Vertrauenssache, drum laßt die Arbeiter doch dabei mehr mitbestimmen. Politik, Wirtschafts- und Gewerkschaftsführer dürfen (unser) Vertrauen nicht verspielen.
Professor D. Petzina (Geschichte/Uni Bochum)
Wie beurteilen Sie das Ergebnis des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Die Konfliktfähigkeit der Gewerkschaften und der Arbeitnehmerschaft insgesamt hat sich am Falle Rheinhausen bewährt. Der Arbeiterschaft ist es gelungen - ich würde sagen - ein regional isoliertes Problem zu einem Problem der gesamten Region der Bundesrepublik insgesamt zu machen. Insofern würde ich den Symbolgehalt dieses Konfliktes außerordentlich hoch ansetzen... Das Konzept der Beschäftigungsgesellschaft deutet in eine richtige Richtung. Zwar ist es nicht gelungen, eine Konkretion in Duisburg zu erreichen, gleichwohl scheint mir dieses Konzept entwicklungsfähig zu sein. Den Gewerkschaften ist es auf diese Weise gelungen, die Politik sehr viel stärker, als diese es ursprünglich vorhatte, in die regionale Verantwortung einzubeziehen."
Ein sehr interessanter Begriff von "Konflikt", den der Fachmann für Wirtschaftsgeschichte hier ausbreitet. Daß in jedem Arbeitskampf die Frage auf der Tagesordnung steht, in welchem Maße die Arbeiter gewillt und in der Lage sind, der anderen Seite, die ihnen ans Leder geht, einen Konflikt aufzumachen, der ihre Interessen wirkungsvoll zur Geltung bringt, ist klar. Warum und vor wem sich allerdings eine "Konfliktfähigkeit" der Arbeiterorganisation "bewähren" soll, ist schon nicht mehr so klar. Vor allem dann nicht, wenn die Bewährungsprobe auf diese ominöse Tugend ausgerechnet dort als bestanden gilt, wo für die Arbeiter in "Konkretion" nichts herausgesprungen ist. Nichts Handfestes jedenfalls.
Worin besteht dann aber der Erfolg der Arbeiter, den Petzina ja durchaus sieht: Erstens hat sich überhaupt was geregt bei der Arbeitnehmerschaft: es gibt sie noch, die Arbeiterbewegung, vermeldet der Chronist der laufe den Ereignisse - was sie bewegt hat, ist da schon nicht mehr so wichtig. Zweitens wurden die Rheinhausener sogar bundesweit als ein "Symbol" für ein "Problem" beachtet - haben also viel Mitleid für ihr zukünftiges Arbeitslosen"schicksal" und ein joviales Schulterklopfen für ihren "berechtigten", aber leider "aussichtslosen" Kampf einsacken dürfen. Drittens haben sie "die Politik in die Verantwortung genommen" - und jede Menge politische Ohnmachtsbekundungen von denen geerntet, die sowieso die Verantwortung haben. Und viertens wird sich unzweifelhaft irgendwann in der Geschichte einmal erweisen, daß das "entwicklungsfähige Konzept der Beschäftigungsgesellschaften" tatsächlich zu Entwicklungen geführt hat... Zu solch lauwarmen Erfolgsmeldungen über den Ausgang des Rheinhausener Konflikts muß man in der Tat fähig sein: sie leben nämlich ausschließlich von der Um-Deutung des Mißerfolges der Stahlarbeiter in eine "langfristig" historisch eventuell irgendwie bedeutsame Erfolgsbilanz. Insofern ist Petzinas Bedauern, daß die Duisburger von der hoffnungsfrohen Entwicklung nichts abbekommen haben, eben auch nur eine Krokodilsträne.
Welche Lehren sollten die Beteiligten daraus ziehen?
"Die notwendige Schaffung von Arbeitsplätzen in anderen Bereichen läßt sich, und das ist eine ganz wesentliche Erfahrung von Rheinhausen, nicht als ungesteuerter Wildwuchs bewältigen, sondern nur durch ein sehr aktives und auch politisch gesteuertes Zusammenspiel von staatlichen Instanzen, Bundespolitik, Landeswirtschaftspolitik einerseits und unternehmerischer Investitionspolitik und aktiver Einflußnahme der Gewerkschaften auf diesen Prozeß andererseits."
Diese "Lehre" mußte ja kommen. Wenn man einen Kampf, in dem die Protestierenden kein einziges ihrer Ziele erreicht haben, schon als die vorbildliche Austragung eines Konfliktes würdigt, dann stört an ihm natürlich nur noch eines: daß er überhaupt stattfinden mußte. Wenn es allen Beteiligten sowieso um dasselbe geht - "Arbeitsplätze" -, dann ist doch überhaupt nicht einzusehen, warum das alles so aufgeregt, "ungesteuert" und vor allem gegeneinander ablaufen muß - statt sich in das berühmte Boot zu setzen, in dem Petzina sie unbedingt sehen will: in einem "sehr (!) aktiven Zusammenspiel" mit Kohl und Rau am Steuer, Krupp und Mannesmann als Motor, Breit und Steinkühler am Kompaß... und die werten "Arbeitnehmer" schrubben das Deck!
Einmal abgesehen davon, wieso dieses verdammte Boot, das bestimmt schon seit 100 Jahren durchs Land schippert, den Arbeitern immerzu als ihr Traumschiff verkauft wird - stimmen tut die Rechnung allemal nicht: Arbeitsplätze schaffen die einen, weil und soweit es ihrem Geschäft dient; an diesen Arbeitsplätzen schaffen die anderen, weil ihr Lebensunterhalt von der Anwendung ihrer Arbeitskraft abhängig gemacht ist und darum eben auch nur soweit "gesichert" ist, wie ihnen Arbeit "gegeben" wird. Und auf diese (Un-)Gleichung sollen letztere sich verlassen: Professorale Harmonielehre!
Professor G. Brakelmann (Theologie/Uni Bochum)
Wie beurteilen Sie das Ergebnis des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Der 'Skandal' von Rheinhausen liegt in der Art, wie man hier mit Menschen und Standort umgegangen ist. Statt einer konzertierten Aktion von Unternehmen, Landes- und Bundespolitik in politischer Abstimmung mit der EG hat man auch nicht die Belegschaft und ihren Betriebsrat von Anfang an in die notwendigen Diskussionen einbezogen. Geist und Praxis der qualifizierten Mitbestimmung sind verletzt worden. Die Reaktion der Belegschaft war nicht nur verständlich, sondern in der Sache richtig. Die Solidarität mit den Betroffenen war in der Öffentlichkeit überraschend groß. Vor allem kirchliche Gruppen vor Ort haben eine kritisch-konstruktive Rolle gespielt. Im Verlauf der Auseinandersetzung wurde allerdings klar, daß allein ein Nein gegen Veränderungen, die ihren Grund in der Situation des weltweiten Stahlmarktes haben, nicht ausreicht... Die entscheidende Kritik bei aller Anerkennung der vielseitigen Anstrengungen von vielen Seiten bleibt: hier ist zunächst im Stile des 19. Jahrhunderts agiert worden, im Stil des 20. Jahrhunderts saniert, aber für das 21. Jahrhundert sind keine Perspektiven eröffnet worden."
Wie sein Kollege Petzina siedelt auch Prof. Brakelmann den "Skandal" (wieso die Gänsefüßchen?), "wie man mit Menschen umgegangen ist", auf einer eigentümlichen Ebene weit oberhalb von deren Interessen an: daß so ein Arbeitsplatz in Rhein- und anderen Krupphausens weder dafür gedacht noch gemacht ist, den Leuten ein sicheres Einkommen zu garantieren - das ist der Wissenschaft keine Entdeckung und schon gleich keinen Skandal wert.
Der liegt mit oder ohne Anführungszeichen vielmehr darin, daß den Menschen das "Recht" auf eine "konzertierte Aktion" ausgerechnet derjenigen Instanzen verweigert worden wäre, die ihnen ihr unsicheres Leben überhaupt erst eingebrockt haben. Daß Brakelmann den Versuch eines Nachweises, dabei und unter "Einbeziehung" der Belegschaft wäre für diese etwas anderes herausgekommen, erst gar nicht unternimmt, ist darum sehr sachgerecht. Ihm wie allen anderen, die im Namen "qualifizierter Mitbestimmung" Beschwerde führen, kommt es erklärtermaßen darauf nicht an, die Beteiligung der Arbeiter an den "notwendigen Diskussionen" könne oder solle an deren Ergebnis irgendetwas auch nur korrigieren - Dabeisein ist bei der Mitbestimmung wie bei Olympia schon mal wieder alles! Und zwar in der gar nicht so verhohlenen Absicht, daß die Arbeiter dann auch keinen Grund mehr zum Meckern hätten, wenn sie im "Stil des 21. Jahrhunderts einbezogen" würden.
Das Lob, das "die Betroffenen" sich für eine "in der Sache richtige Reaktion" vom Theologen Brakelmann einfangen, erhalten die Stahlarbeiter also für die gleiche Sache, für die sie wochenlang die "kritisch-konstruktive Solidarität der kirchlichen Gruppen vor Ort" verpaßt bekamen: S o kann man mit "uns Rheinhausern" nicht umspringen, diese Behandlung haben diese braven, ehrlichen Menschen nicht verdient! Mit einem "Nein" gegen die Notwendigkeiten, die der Kapitalismus seinen abhängig Beschäftigen in Rheinhausen und anderswo beschert, ist diese Solidarität wahrlich nicht zu verwechseln; eher schon mit der freundlichen Versicherung, der deutsche Arbeiter sei ein dermaßen friedliches Schaf, daß man ihn bloß "von Anfang an" informieren und mit den Entscheidungsträgern an einen Tisch setzen müsse, und schon hielte er, wahrscheinlich noch bis ins 22. Jhdt. hinein, die Schnauze...
Welche Lehren sollten die Beteiligten Ihrer Meinung nach daraus ziehen?
"Sich als notwendig erweisende Umstrukturierungen auf dem Hintergrund wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen müssen politisch und ökonomisch so vollzogen werden, daß die sozialen und humanen Folgen für die Betroffenen zumutbar bleiben. Stillegungen und Baschäftigungsabbau in einer bestimmten Branche sind nur akzeptierbar, wenn andere sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden. Das 'Recht auf Arbeit' gebietet eine Wirtschaftspolitik, dia zum Ziel einen möglichst hohen Beschäftigungsstand hat. Die Batroffenen selbst müssen von Anfang an in die Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Deshalb müssen Betriebsverfassungsgesetz und Mitbestimmungsgesetze im Sinne bedeutend stärkerer wirtschaftlicher Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer ausgebaut werden. Es geht nicht an, daß der nicht zu verhindernde industrielle Wandlungsprozeß nur zu Lasten der abhängig Arbeitenden geht. Wird dieser Prozeß nicht sozial- und humangerecht geleistet, so stellt sich auch von dieser Seite her die Frage nach der Legitimation unserer Wirtschaftsordnung."
Professor Brakelmann scheut sich nicht, beinhart die Systemfrage zu stellen:
Wenn diese Angelegenheit nicht "sozial- und humangerecht" abgewickelt wird, dann ist er fertig mit "unserer Wirtschaftsordnung". Ein Mann, ein Wort! Fragt sich nur, wann die Grenze des -"Sozialverträglichen", des "Zumutbaren" eigentlich erreicht ist: Welche Bedingungen müssen denn erfüllt sein, damit der "Vollzug des industriellen Wandlungsprozesses" das Prädikat "sozialverträglich" - und da soll man ja durchaus an mehr Bekömmlichkeit für die Leute denken! - auch wirklich verdient?
Dieser Prozeß soll "nicht nur zu Lasten der abhängig Arbeitenden gehen" - diese Erwartung ist zumindest zu 50% schon mal erfüllt: die Arbeiter haben ihr Opfer eingestandenermaßen ja bereits abgeliefert. Nun gut - und welches Opfer soll die andere Seite "dafür" erbringen: "Die Wirtschaftspolitik" soll einen "möglichst hohen Beschäftigungsstand" im Auge haben. Und wonach bemißt sich diese Möglichkeit? Wiederum und ausdrücklich nach eben dem Kriterium, wegen dem den Stahlarbeitern gerade gezeigt wurde, wo der Zimmermann das Loch gelassen hat: nach der "Möglichkeit" ihrer gewinnbringenden Anwendung! Einen anderen "Sinn" haben Arbeitsplätze hier nun mal nicht - ob "andere sinnvolle Arbeitsplätze geschaffen werden", hängt also einzig und allein von der kapitalistischen Grundrechnung ab, die den "zu bewältigenden Prozeß" überhaupt erst in die Welt gesetzt hat: Leute benutzen, wenn und solange und nur weil sich das rentiert!
Und all das soll die Sache "verträglicher" machen? Oder ist damit eher gemeint, die Arbeiter sollten sich guten Mutes mit diesem System vertragen und in unverbrüchlicher Hoffnung und vollem Vertrauen auf (weitere) Benützung durch eben die setzen, die "unsere Wirtschaftsordnung" so gemütlich eingerichtet haben? Unsere sozialdemokratischen Professoren machen es sich schon saumäßig einfach. Sie sprechen aus, welche Grundrechenart in unserem System, in der BRD, auch in ihrem süßen Ruhrrevier gilt: die betriebswirtschaftliche Gewinnrechnung und sonst gar nichts. Sie sagen das voller Verständnis, voller Parteilichkeit für dieses System. Sie benennen eine Notwendigkeit, die sie nicht in Frage stellen wollen, sondern von der sie mit der größten Selbstverständlichkeit ausgehen und zu der sie keine Alternative kennen, geschweige denn zulassen wollen. Und sie versehen diese Notwendigkeit unermüdlich mit einem "leider". So formulieren sie ihren guten Glauben an das System, es sei im Grunde viel sozialgerechter, als es sich vielleicht darstellt.
Professor K.M. Schmals (Raumplanung/Uni Dortmund)
Wie beurteilen Sie die Ergebnisse des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Ich beurteile das Ergebnis des 'Arbeitskampfes' in Rheinhausen einerseits als eine Katastrophe für die unmittelbar und mittelbar betroffenen lohnabhängig Beschäftigten und ihre Familien, andererseits als soziale Bankrotterklärung der politisch-ökonomisch Verantwortlichen. Dies wird leider nur ein vorläufiger Höhepunkt verantwortungsloser Staats- und zynischer Konzernpolitik sein. Seitens der beteiligten Konzerne liegt hier fachliches Versagen in unübersehbaren Ausmaßen vor, wofür diese - wegen eklatanten Versagens - auch öffentlich zur Verantwortung gezogen werden müssen. Der Strukturwandel des Ruhrgebiets ist seit vielen Jahren absehbar. Dies inhaltlich zu erkennen und als Betriebspolitik organisatorisch umzusetzen ist - aufgrund der in unserem Gesellschaftssystem vorgesehenen Entscheidungsspielräume für Unternehmen - zuerst Aufgabe der Verantwortungsträger in den Konzernen. Sind sie dazu nicht in der Lage oder bereit, sind personelle Konsequenzen unabdingbar."
Prof. Schmals bringt in seiner Antwort eine verbreitete theoretische Unsitte zur Anschauung (und zwar in einer Radikalität, die nicht von schlechten Eltern ist). "Einerseits" stellt er eine nicht unbeträchtliche ökonomische Niederlage der lohnabhängig Beschäftigten fest, was ja wohl einen Sieg der Gegenseite unterstellt - Schmals -will dagegen eine "soziale Bankrotterklärung der politisch-ökonomisch Verantwortlichen" gesehen haben. Wie das? Will er behaupten, daß finanzielle Katastrophen der Arbeiter im Konzept der Kapitalisten etwa nicht vorgesehen seien oder zu den Zielen von Marktwirtschaft und Sozialstaat zumindest nicht passen: Es scheint so: schließlich führt er an Gründen für die Massenentlassung in Rheinhausen lauter Unterlassungssünden an ("Bankrotterklärung, verantwortungslose Staatspolitik, eklatantes fachliches Versagen der Konzerne").
Einer Analyse dessen, was die politisch-ökonomisch Verantwortlichen, deren Interessen hierzulande gelten, wollen, kann sich dieser Befund nicht verdanken. Dann käme man über kurz oder lang schon drauf,
- daß der Reichtum und die Erpressungskunst des Kapitals auf der Armut der Lohnarbeiterklasse beruhen, und zwar nicht erst dann, wenn wieder mal ein Teil derselben arbeitslos und damit noch ein Stückchen ärmer gemacht wird;
- daß der demokratische Staat seine Verantwortung für den Reichtum der Nation durchaus wahrnimmt, wenn er durch den Schutz des Privateigentums dafür sorgt, daß den Arbeitern das Zeug, das sie produzieren, nicht auch noch gehört, und wenn er die Freiheit der Entscheidung, wo Ausbeutung sich lohnt und wo nicht mehr, ebenso nachdrücklich gewährt!
Schmals' Diagnose ist vielmehr einem Vergleich entsprungen: einem Vergleich der häßlichen Resultate der Marktwirtschaft, wie sie in Rheinhausen öffentlichkeitswirksam zu besichtigen waren, mit Vorstellungen darüber, was Politiker und Manager tun sollten. Dabei ist die Herkunft dieser Vorstellungen nicht einmal übermäßig originell: der Vorwurf, ein Cromme oder ein Personalchef sei dann ein Zyniker und ein "fachlicher Versager", wenn er die entläßt, die er irgendwann mal geheuert hat, ist unverkennbar der blöden Ideologie entlehnt, der soziale Beruf des Unternehmers sei es, "Arbeitgeber" zu sein; und die Kritik am "verantwortungslosen" Staatshandeln will ebenso unverkennbar ganz feste daran glauben, in der Demokratie stünde die Politik in der Verantwortung, jegliche Unbill von den Leuten fernzuhalten.
Unterscheiden tut sich Schmals von seinen vorher zitierten Kollegen somit darin, daß er diese geläufigen Ideale des demokratischen Kapitalismus so ernst nimmt, daß er über die davon abweichende Realität ernstlich enttäuscht ist. Und zwar so radikal, daß er ausgerechnet Managern und Buchhaltern, die ihr Handwerk nach allen Regeln betriebswirtschaftlicher Rechnungskunst versehen, wg. "Unfähigkeit" mit "personellen Konsequenzen" droht.
Bezeichnend ist das schon: Ehe ein westdeutscher kritischer Denker einmal darauf kommt, das System wegen erwiesenermaßen zu großer Fähigkeiten in Frage zu stellen, hat er schon 10mal an den Rücktritt irgendwelcher "unsozialer" Figuren gedacht, die in Wahrheit dieser Gesellschaft die Herrschaftsdienste besorgen, die sie braucht!
Welche Lehren sollten Ihrer Meinung nach die Beteiligten daraus ziehen?
"Die Beteiligten des 'Arbeitskampfes' sind der Staat, die Sozialdemokratische Partei, die Gewerkschaften, die Konzerne, die Lohnarbeiter und ihre Familien. Staat, Konzerne, Partei und Gewerkschaft bilden im Ruhrgebiet schon viele Jahre ein modernisierungsfeindliches Bündnis und schufen so die Krise des Reviers. Dieses - wie sich heute zeigt - dysfunktionale Herrschaftskartell gilt es aufzulösen. Im Interesse der Arbeitnehmer und der noch nicht oder nicht mehr erwerbstätigen Bevölkerung im Revier gilt es eine sozial- und umweltverträgliche Modernisierungspolitik zu entwickeln. Zukunft für das Ruhrgebiet heißt demnach Auflösung des politisch-ökonomischen Montankartells, heißt Qualifizierungsoffensive für alle lohnabhängig Beschäftigten, Arbeitslosen und Frührentner, heißt Schaffung neuer sozial- und umweltverträglicher Produktpaletten und Produktionsbedingungen (dies z.B. in den Bereichen sanfte Technologien, Umweltschutz und alternative Energieversorgung), heißt Sanierung des Bodens, der Luft und des Wassers, heißt Erhalt und Bau preisgünstigen Wohnraums, heißt Entwicklung eines leistungsfähigen Personennahverkehrs, heißt Einrichtung von sozialen Diensten für alle gesellschaftlichen Gruppen, heißt Entwicklung eines mitteLständischen Firmenmixes sowie autonom verwalteter Projekte und heißt insgesamt Stärkung der endogenen Entwicklungspotentiale des Reviers. Eine Lehre aus Rheinhausen ist aber vor allem die Notwendigkeit der Ausdehnung des 'Arbeitskampfes' in Rheinhausen auf das gesamte Ruhrgebiet. Bedroht ist heute nicht nur der Lebensraum Rheinhausen, sondern der des gesamten Ruhrgebiets mit den hier lebenden Menschen. Auf sie nimmt die Industrie im Ernstfall keine Rücksicht. Um die 'Krise des Reviers' unter soziale Kontrolle zu bekommen, müssen die Beteiligten geeinsam sozialverträgliche Modernisierungskonzepte entwickeln und ihre Durchsetzung politisch absichern."
Läßt man die Phrase vom "dysfunktionalen Herrschaftskartell" aus Staat, Konzernen, Partei und Gewerkschaft einmal weg, so könnte dieses Statement gut und gerne aus dem Grundsatzprogramm der Partei abgekupfert sein, die nach Schmals den "Fortschritt" im Revier immerzu bremst.
Das ist freilich kein Lapsus, sondern eindeutig der Absicht zuzuschreiben, das "Interesse der Arbeitnehmer" und die "Zukunft des Reviers" partout in eins setzen = und ersteres durch letzteres bedienen - zu wollen. Diese Angewohnheit politischer Machthaber zu kopieren, fällt eben auch einem kritischen Raumplanungsprofessor nicht schwer - einerseits, weil er die Programminhalte der herrschenden Parteien eh nur als "noch nicht verwirklichte" zur Kenntnis nehmen will statt deren Inhalte zu prüfen; und andererseits, weil er gerade wegen dieser konsequenten Absehung von den realen Kapital- und Staatszwecken schnurstracks lauter "Möglichkeiten" entdeckt, die im "Raum" NRW als "endogenes Entwicklungspotential des Ruhrgebietes" herumliegen und die in Zukunft nur noch genutzt werden müssen.
Daß unter dieser Überschrift von der "Qualifizierungsoffensive" über "mittelständischen Firmenmix", saubere Luft, billige Busse und Bahnen bis hin zu "autonomen Projekten" die disparatesten Sachen vorkommen, darf da nicht stören; ebensowenig wie man sich fragen darf, wie z.B. "Qualifikation" - die nie mehr wert ist, als sie nachgefragt wird - eigentlich Beschäftigung schaffen soll, oder seit wann mittelständische Klitschen eigentlich für weniger Arbeitshetze und Schwefelemissionen gut sind...
Sei's drum. Schließlich muß "unser Revier" gerettet werden - und dafür sind die gewagtesten Gedankengänge gerade gut genug.
Professor H. Strasser (Soziologie/Uni Duisburg)
Wie beurteilen sie die Ergebnisse des Arbeitskampfes in Rheinhausen?
"Den Ausgang des Rheinhausener Arbeitskonflikts muß man unter mehreren Gesichtspunkten sehen und beurteilen: erstens, hat er die Erfordernisse einer kapitalistisch organisierten Gesellschaft insofern bestätigt, als sich die Entscheidungskompetenz der Unternehmensleitungen durchgesetzt hat; zweitens, hat er die Notwendigkeit und Grenzen der sozialen Verträglichkeit technologisch und weltwirtschaftlich induzierter Veränderungen deutlich gemacht. Die soziale und natürliche Verträglichkeit veränderter Produktionsweisen und Dienstleistungen tritt im organisierten Kapitalismus zunehmend als politische Meßlatte an die Stelle des Kompensationsprinzips der Sozialpolitik, das durch Recht (Anspruch) und Geld (Unterstützungsleistungen) die negativen Folgen des industriekapitalistischen Wirtschaftens ausgleichen will."
Erstens hat das soziologische Feld-Experiment Rheinhausen also glänzend das kühne Theorem "bestätigt", daß im"organisierten (im Unterschied zum unorganisierten) Kapitalismus" sein muß, was sein muß. Zweitens hat es "deutlich gemacht", daß Recht und Geld "zunehmend" dann nicht mehr recht gelten, wenn Soziologen die "politische Meßlatte" anlegen, derzufolge es bei allem erstens und letztens darauf ankommt, daß man sich dabei verträgt. Sozial natürlich.
Ein Soziologie-Professor wäre der letzte, der daraus keine Lehren zöge; und er ist der erste, der für seine diesbezüglichen Forschungsergebnisse Reklame macht:
Welche Lehren sollten Ihrer Meinung nach die Beteiligten daraus ziehen?
"Es ist nicht so sehr die Frage, welche Lehren die Beteiligten aus Rheinhausen ziehen sollten, sondern welche Lehren tatsächlich gezogen werden. Vier Lehren dürften gezogen werden: Erstens, Politiker, Unternehmer und Verbandsfunktionäre finden in Rheinhausen bestätigt. daß kurzfristig durchaus Stimmung, auch Änderung der Wahlpräferenz, erzeugt werden kann, wie die Umfrageergebnisse einer vom Fach Soziologie der Universität-GH-Duisburg unter der Duisburger Bevölkerung durchgeführten Umfrage ergeben haben. Zweitens, auch das hat die Umfrage ergeben, werden die Politiker noch mehr als bisher überzeugt sein, daß sich mittel- und langfristig durch derartige Arbeitskonflikte keine Einstellungsänderungen ergeben, d.h. daß Menschen schnell vergessen. Drittens gibt es durchaus einen latenten Rheinhausen-Effekt, der in den Wirkungen des Konfliktverhaltens der Rheinhausener Bevölkerung auf Landes-, Bundes- und Verbandsebene (Bonner Ruhrgebietskonferenz, Förderungsperspektive Stahl-Kohle vs. Landwirtschaft usw.) zu sehen ist. Schließlich, viertens, wird es aufgrund des mageren Rheinhausen-Effekts einen Arbeitskonflikt von ähnlichen Dimensionen nicht so schnell wieder geben."
Also: Stimmungen schwanken, langfristige Einstellungen ändern sich nicht so kurzfristig, Latentes kommt auch mal ans Licht und Weihnachten ist nicht jeden Tag.
*
Absagen
Die meisten hatten natürlich "1. keine Zeit und 2. kein Interesse" - wobei jedesmal schwer auf diese Reihenfolge Wert gelegt wurde, weil sich auch ein professoraler Unwille immer noch auf "Sachzwänge" herausreden will.
Prof. Lehner (Politologe/Bochum) verdanken wir die Erkenntnis vom politikwissenschaftlichen Gesetz, nach dem sich die Würdigkeit politischer Gruppen, Professoren nach ihrer Meinung fragen zu dürfen, nach dem Grad ihres praktischen Einflusses richtet: "Die MG ist keine bedeutende politische Kraft, deswegen gebe ich kein Interview". Wobei uns die Umkehrung dieser politphysikalischen Formel zu folgender Gleichung verholfen hat: Bedeutende politische Kraft x Interesse = Glanz, der auf Professoren fällt, wenn sie ihr Interviews geben.
Prof. Neumann (Sozialpolitik/Bochum) erfuhr gerade noch rechtzeitig, daß die BHZ - entgegen anderslaütenden Gerüchten - nicht vom Rektorat der RUB gesponsort und herausgegeben wird. "Ich dachte, die BHZ wäre ein offizielles Organ der Hochschule", begründete er seinen Rückzieher. Jetzt ist das bereits fix und fertig gewesene Schriftstück im Papierkorb gelandet und dort sicherlich nicht schlecht aufgehoben.
Der Bochumer Arbeitspsychologe Zimolong hat uns folgende Weisheit ins Notizbüchlein diktiert: "Bei mir sind Hypothesen dafür da, daß sie durch Umfragen verifiziert/falsifiziert werden. Sonst sind Umfragen Legitimationen von Standpunkten." Wie recht er hatte, an unserer Umfrage nicht teilzunehmen, konnte der gute Mann damals noch nicht ahnen: sonst hätten wir ja auch noch an ihm unsere Hypothese verifiziert, daß die Professoren des Ruhrgebiets eine statistisch signifikante Ansammlung von geistigen Kammerdienern der Macht sind...