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Dieser Artikel ist in der MSZ 11-1988 erschienen.

Ein demokratischer Schwätzer lobt das politische Gesamtkunstwerk
EINE LAUDATIO AUF WALTER JENS: BEREDSAMKEIT ADELT MACHT

Walter Jens ist ein verdienter Mann; als Professor in Tübingen hat er seit diesem Semester ausgedient; als selbst berufenes Gewissen der Nation wird er weiter dienen: seinem Lieblingsthema "Macht und Geist".

- Beliebt bei den Machtlosen als Sprachrohr garantiert unter die Haut gehender, garantiert folgenloser Anklagen,

- gewürdigt und hochgeehrt von den Mächtigen als Kritiker nicht ihres Geschäfts der Machtausübung, sondern der schlechten Figur, die sie dabei abgeben,

ist ihm kurz vor dem Ende seiner akademischen Laufbahn der Theodor-Heuss-Preis verliehen worden. Nach so vielen Festreden, in denen Jens vom Deutschen Fußballbund bis zum Deutschen Städtetag sämtliche staatstragenden Institutionen geistvoll gewürdigt hat, rückte er einmal sich und seine "Beredsamkeit" in den Mittelpunkt seiner Laudatio. Nicht direkt freilich, wie die rhetorische Bescheidenheit gebietet: Zu bewundern, zu beklatschen war die Botschaft, daß es unsere Demokratie ausnehmend ehrt, von einem so auserlesenen Geist gelobt zu werden.

1.

"Blood, toil, tears, and sweat - Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß: Mehr habe er der Regierung, dem Parlament und dem Volk nicht zu bieten, erklärte Winston Churchill am Pfingstmontag, dem 13. Mai 1940, unmittelbar nach seiner Ernennung zum Premierminister im Unterhaus und stellte damit, formelprägend, jene beiden Hauptcharakteristika eines demokratischen Politikers unter Beweis, deren Namen Wahrheitsliebe und Prägnanz, Ehrlichkeit und sentenziöse Bannkraft sind." (alle Zitate aus der Rede "Über demokratische Beredsamkeit" anläßlich der Verleihung des Theodor-Heuss-Preises an Inge und Walter Jens am 10. Februar 1988 in Stuttgart)

Ein demokratischer Politiker verhängt das Kriegsrecht über sein Volk. Der staatliche Beschluß setzt den Betroffenen neue Lebensbedingungen, die mit deren normalem Alltagsleben gründlich aufräumen. Das Glück, demokratisch regiert zu werden, kürzt sich für die Beglückten auf die soldatische Existenz in der Heimat und im Schützengraben zusammen. Dieses Angebot Churchills an die englische Bevölkerung ist unwiderstehlich - dafür sorgt die Staatsgewalt mit Kriegsgesetzen, Lebensmittelkarten und Einberufungsbefehlen. Dem Staatsmaterial wird offiziell Ehre zuteil - für die Opfer, die ihm abverlangt werden. So bewährt sich demokratisch die Einheit der Nation: Die einen haben das Sagen, die anderen gehorchen. Einen Protest gegen sein Versprechen von "Blut, Schweiß und Tränen" glaubte Churchill nicht fürchten zu müssen - das macht ihn stolz auf seine 'historische Stunde', einmal unbehelligt vom kleinlichen parlamentarischen Schacher und dem Parteiengezänk als nationaler Führer, den absoluten Gehorsam befehlen zu können. So weit das Faktum, an das der Festredner Jens erinnert.

Das findet Jens überzeugend. Je härter demokratischer Machtvollzug zuschlägt, um so wahrheitsliebender und ehrlicher stehen seine Veranstalter da. Die zur Rechtfertigung nachgereichte gute Notwendigkeit demokratischer Wehrhaftigkeit - Verteidigung der Freiheit vor unmenschlichen Gegnern - ist Jens zu wenig. Das wäre in seinen Augen glatt eine 'Entschuldigung Churchills, aus Not entschieden zu haben, und nicht die Feier eines selbstbewußten demokratischen Gesinnungstäters. Die Freiheit von kleinlichem politischen Kalkül macht die Größe und Vorbildlichkeit des 13. Mai 1940 als Musterbeispiel demokratischen Regierens und demokratischer Führerschaft aus. So läßt sich übrigens auch ein Hitler bewundern.

Das überzeugt den aufrechten Demokraten an Churchill: einmal die täglichen staatlichen Ansprüche, mit denen ein demokratischer Untertan laufend Bekanntschaft macht, als belanglos vergessen zu lassen zugunsten einer erhabenen nationalen Feierstunde. Was demokratische Politiker so scharf auf diktatorische Vollmachten werden läßt, geht Jens nichts an; daß sie "blood, toil, tears and sweat" auf die Tagesordnung setzen können, findet er bewundernswert. Für Jens gehört dieser härteste Übergang nicht nur zum Lebensglück, demokratisch regiert zu werden - er ist sein krönender Höhepunkt.

Der feingeistige Stilist fühlt sich zu den gewalttätigen Sternstunden der Demokratie hingezogen, sofern sie seinem Glauben rechtgeben, daß große Augenblicke der Geschichte große "formelprägende" Worte verlangen. In Churchill mit seinem über England ausgerufenen Kriegszustand ist demokratisches Regieren Geist geworden. Die Demokratie und der in Jens verkörperte Genuß an ihr, hat einen Regisseur mit "sentenziöser Bannkraft" gefunden, Jens sei Dank!

Jens, der Verführer zum Guten, entdeckt in Churchill einen Geistesverwandten. Zwar hat der englische Premier sein Volk nicht agitatorisch von der fälligen Opferfreude überzeugt und rhetorisch gekonnt zur Kriegsbegeisterung überredet, sondern die Kriegsbereitschaft angeordnet. Aber wer seinen 'Geist' nicht beurteilt, sondern öffentlich gewürdigt sehen will, der beherrscht auch die Verwechslung von staatlicher Befehlsgewalt mit einem einsichtigen Argument.

Der überzeugte Pazifist weiß, wann ein Krieg mit all seinen "unmenschlichen Folgen", die Jens andernorts betränt, in Ordnung geht: immer dann, wenn Politiker ihn anordnen, denen Jens seinen guten Geschmack andichtet. Dann ist das Zuschlagen demokratischer Führer ein geistiges Ereignis. Das zeigen die geschaffenen Opfer, an die sich humanitäres Mitleid gerne erinnern läßt, wenn schon ein Churchill sich auf sie beruft.

Mit diesem Zutrauen in die Demokratie wird für den aufklärerischen Moralisten aus dem staatsmännischen Versprechen "Blut und Tränen" der Glückwunsch an die Demokratie, sie sei die Herrschaft der guten Menschen. Der fällt allerdings so grundlos-grundsätzlich aus, daß sich mit dieser der Demokratie eigentümlichen 'Wahrheitsliebe' ein Churchill noch nicht ein al von Hitler unterscheiden läßt. Offen gesagt und persönlich ehrlich gemeint hat es auch der Faschist bei seinem in die Tat umgesetzten Programm, durch die Vernichtung östlicher und jüdischer "Untermenschen" Raum für die deutsche Nation zu schaffen. Jens hat für die Feier der Demokratie am Beispiel Churchills keinen anderen Grund als seinen Willen, sich gut in ihr aufgehoben zu sehen. Denn sie bedient seine Eitelkeit, es komme in der Welt auf nichts so sehr wie auf seinen guten Geschmack an, nur dadurch, daß er sie zur Entsprechung seiner Persönlichkeit umdichtet.

2.

"Während der Diktator in Berlin seinem Volk in hochtrabender, klischeebestimmter Rede ein goldenes Zeitalter versprach und noch in den finstersten Stunden die aufgehende Sonne beschwor, sprach Churchill von Elend, Bitternis und Not... und dies in einer Sentenz, deren Struktur verrät, wie lange der Redner an ihr gearbeitet hatte: vier einsilbe Wörter, die beiden Binnenbegriffe durch einen Stabreim verbunden, toil and tears, die Außenglieder in einer scheinbar simplen, in Wahrheit von Raffinement und Kalkül bestimmten Technik aufeinander bezogen. Blood and sweat, derart zusammengefügt, daß hinter den Nomina das Verbum to sweat blood hindurchschien: Blut und Wasser schwitzen, sich abrackern bis zur Erschöpfung. Pathos verbindet sich mit Prägnanz; die formel bringt die Wahrheit durch das Stackato jener blitzartig erhellenden Zuordnungen auf den Begriff, die Eleganz und Überzeugungskraft klassischer Parlamentsberedsamkeit definiert."

Der Antifaschist kennt nur ein Verbrechen der Faschisten, in dem sich sein Abscheu vor deren 'Unmenschlichkeit' zusammenfaßt: Damals wurde dem Materialismus der Massen das Blaue vom Himmel versprochen, während es die Demokratie ehrt, daß sie dem Volk nichts mehr als die Opfer verheißt, die sie ihm abverlangt. Nicht einmal daraus wird ein Gegensatz: Auch Demokraten versprechen ihren Untertanen den Nutzen, weiterhin ihrem persönlichen Lebensglück nachgehen zu dürfen - dessen Bedingungen Staat und Kapital regeln -, wenn sie dafür im Krieg die Nation "verteidigen". Wenn schon "Blut und Tränen" der Demokratie zur Ehre gereichen sollen, dann kann Hitler mit den Ansprachen an seine Volksgenossen, was der kommende Endsieg dem deutschen Volk alles an Opfern abverlangt, gut mithalten. Jens weiß wirklich keinen inhaltlichen Unterschied zwischen Faschismus und Demokratie anzugeben; sein Demokratiefanatismus kündet allenfalls davon, daß er in der Demokratie die bessere Erfüllung faschistischer Opferideale sieht.

Der Professor für Rhetorik kennt ein wissenschaftliches Urteil nur als Geschmacksfrage und Bewunderung der derzeit in der Bundesrepublik üblichen Herrschaftsform als guten Geschmack. Seine Unterscheidung von demokratischer ',Beredsamkeit' ("Pathos verbindet sich mit Prägnanz") und faschistischer Geschmacklosigkeit ("hochtrabende, klischeebestimmte Rede") kann nicht aus der Kenntnis des 'Lausbergschen Handbuchs der Rhetorik' hervorgegangen sein.

hobener Rede kennen weder demokratische Qualität noch verbrecherische Lüge. Als Beispiele haben da sowohl der Churchillsche Stabreim wie die steigernde Reihung: "Ein Volk, ein Reich, ein Führer" ihren Platz. Die rhetorischen Kunstgriffe ersetzen keinen Gedanken, sondern wollen für ihn Eindruck machen, freilich nur auf den, der die beredsam vorgebrachte Meinung schon längst teilt. Das soll gegen den Faschismus sprechen, dessen Führer sein Programm nicht weniger eloquent ankündigte als Churchill? Mehr hat ein Bewunderer demokratischer Beredsamkeit am Inhalt des faschistischen Staatsprogramms nicht auszusetzen?

Die ganze wissenschaftliche Bemühung, mit der Jens sich hier spreizt, fällt eben immer nur wieder auf sein Vorurteil über die Demokratie als der besten Lebensweise zurück; und einen besseren Grund, als daß sie seiner eigenen Beredsamkeit" schmeichelt, weiß dieser Parteigänger demokratischer Wohltaten einfach nicht anzugeben. Was im Parlament zur Sprache kommt, interessiert ihn nicht, wenn er sich an der "Parlamentsberedsamkeit" begeistert. Weil darin die Demokratie seinen Glauben an die Wichtigkeit seines Wortes befriedigt, hat er einen Narren an ihr und der "Eleganz" eines Kriegsbefehls gefressen. Die Sache mit der "scheinbar simplen, in Wahrheit von Raffinement und Kalkül bestimmten Technik" des Stabreims soll Jens mit sich ausmachen - den konnten schon die alten Germanen.

3.

"Wahrheitsliebe, gepaart mit Spiritualität: So nimmt sich das Ideal jener demokratischen Beredsamkeit aus, wie sie, mit der ihm eigenen pathetischen Kargheit, Winston Churchill und, in ganz anderer Weise, Franklin Delano Roosevelt praktizierten - Roosevelt, der am Tag der Invasion, statt der Diktatoren eigenen martialischen Rhetorik, ein Gebet sprach, in dessen Zentrum die Überlegung stand, mit welchen Opfern der bevorstehende Kampf gegen das Deutschland Hitlers verknüpft sei. Viele, so Roosevelt, würden nicht mehr nach Hause zurückkehren, am Ende des Krieges - Gott möge ihnen gnädig sein.

Mochte der eine, Churchill, das Parlament zu (übrigens genau und kühl vorausberechneten) Ovationen hinreißen und der andere, Roosevelt, im You-and-I-Plauderstil der Kaminansprachen den Mann auf der Straße zu überzeugen suchen: Beide, so fremd sie einander am Ende gegenüberstanden, hatten eins gemeinsam - die Überzeugung, daß die drei Worte Demokratie, Wahrhaftigkeit und Redekunst zusammengehörten.

Während Diktatoren die Wahrheit schminken und Beredsamkeit durch eine Agitation ersetzen, die, statt Argumente vorzutragen, auf die Macht, die Pistole, die Garrotte verweist, zeigt demokratische Beredsamkeit die Ambivalenz der Probleme; verdeutlicht das Dunkel, das neben dem Licht ist, und verweist auf die Kosten der Siege: Viele werden sterben, und in unzähligen Familien wird geweint werden, am Tag, wenn die Kirchenglocken zum Siegesfest läuten Demokratische Beredsamkeit verliert den einzelnen nie aus dem Blick, redet nicht numerisch daher, rückt durch die Benennung des Allgemeinen und Ganzen das Konkrete und Kleine nie aus dem Blick, sondern fragt mit Dostojewskij 'Wiegt der Triumph der scheinbar gerechten Sache die Tränen eines einzigen Kindes auf?'"

Über die laufend verlautbarten guten Gründe sich im demokratischen Alltag der Bundesrepublik heimisch zu fühlen, ist Jens erhaben Der geistige 'Praeceptor' der Nation macht es sich noch einfacher: Ein (stab-)gereimter Sgruch zum passenden Anlaß - und schon wird aus der Demokratie und ihrem praktizierten Gewaltanspruch ein Akt höchster moralischer Verantwortung, also ein geistiges Ereignis; und schon ist die 'Überzeugung' des Festredners bewiesen, "Demokratie, Wahrhaftigkeit und Redekunst gehörten zusammen". Dieser Wille zur Verwechslung politischer Entscheidungen mit intellektuellen Einfällen, rhetorischer Kunstkniffe mit "Argumenten" und der 'guten Gründe' moralischer Rechtfertigung mit einem sachgemäßen Urteil ist im banalen Wortsinn ver-rückt. Die Geschmacksvorlieben eines Rhetorikprofessors, die Anstandsprobleme eines Gewissenswurms und das Geschäft demokratischer Politiker fallen nur dann zusammen, wenn es auf objektive Unterschiede zwischen Gewalt, Verstand, Moral und Kunst nicht mehr ankommt. Im täglichen Leben würde Jens mit dieser Geistesverfassung keinen Fuß vor die Tür setzen können. Wo es um die geistige Beweihräucherung der BRD und ihres intellektuellen Mentors geht, gilt das als eine Sichtweise, die für einen originellen Geist spricht. Jens befriedigt ein vorhandenes Bedürfnis nach Glaubwürdigkeit der Demokratie. Die ist keine Sache einer Beurteilung der Taten Bonner Politiker, sondern des umstandslosen Vertrauens, das deren Wirken angetragen wird - gute Deutsche haben das ihrem vergangenen Führer gegenüber genauso gut hinbekommen. Zu einem geistigen Genuß wird das durch die Techniken der Heuchelei - die kann ein Moralist Jensschen Kalibers nicht genug bewundern. Für den gläubigen Christen ist Gott und Demokratie eins, wenn Roosevelt seine GIs mit einem Gebet in den Krieg schickt. Wo führende Demokraten Jens zu selten den Gefallen tun, ihre Machtausübung als menschelndes Mitleid zu verkaufen, da hilft er nach - und beschämt Churchills "Blut-, Schweiß- und Tränen-"Befehl durch seine Kenntnis eines russischen Poeten, dessen Kindertränen dem englischen Staatsmann nicht zum Vorwurf, sondern zur Ehre gereichen sollen. Das "Lob der demokratischen Beredsamkeit" fällt absichtsvoll immer nur auf Jens zurück - es ist wirklich egal, was Churchill mit Dostojewskij zu tun hat, wenn der Festredner nur die Gelegenheit bekommt, seine literarischen Kenntnisse öffentlich auszukramen. So ergänzen sich Demokratie und Jens bestens: Der hängt sein menschliches Sendungsbewußtsein den demokratischen Politikern an, jene läßt sich tatsächlich die Überhöhung zu einem menschlichen Gesamtkunstwerk nachsagen. Mehr als diese Zufriedenheit mit sich selbst und mit aller Welt ist offensichtlich heutzutage nicht nötig, um in der Republik als differenzierte Geistesgröße Anerkennung zu finden.

4.

"Ein pathetisches Argument, gefährlich dazu in seiner idealistischen Verabsolutierung von blütenweißer Integrität und Moral? Vielleicht. Ein Anlaß auf jeden Fall, von den Höhen klassischer Parlamentsrhetorik in jene Niederungen zu steigen, wo in Bonn am Rhein ein Wasserwerk liegt und Helmut Kohl mit den Seinen sich einer Redeweise bedient, die den Eindruck erweckt, als gelte all das nicht, was das Wesen republikanischer Beredsamkeit ausmacht: Bezeichnung der Wahrheit, mag sie auch noch so finster sein; phantasievolles Benennen, erfindungsreich und ungeschönt, der Zukunftsprobleme; inspiriertes Gedenken vergangener Größe und unvergänglicher Schuld; leidenschaftliches Debattieren über die Grundfragen einer Gesellschaft, deren Überleben hier bedroht, dort, in der Dritten Welt, möglicherweise, schon heute verspielt ist; Rückiichtnahme, im Sinne einer konkreten und humanen Imagination, aufdas Wohl und Wehe von Menschen, deren Ängste, Träume, Hoffnungen, Verzagtheiten nicht gespeichert, wohl aber benannt werden können. Können und müssen!

Ein seltsames Schauspiel: Wie da über dem Heute das Morgen, über der Macht die Moral, über der Summe das Leben verspielt wird. Da geht das verlorene Selbstwertgefühl von beschäftigungslosen Jugendlichen oder alten Leuten, die, weil sie sich schämen, keine Sozialhilfe beantragen, in der Formel von der Arbeitslosigkeit als der 'großen Herausforderung' unter - wodurch jene Grundvoraussetzung aller demokratischen Beredsamkeit entfällt, die da lautet: Denk an die einzelnen, wenn du die Millionen erwähnst. Ihnen, den Individuen, und nicht einem imaginären Kollektiv, bist du verpflichtet. (,Der Wähler hat entschieden': Verräterischer als durch solche Verdinglichung können Herrschende ihre Verachtung der Beherrschten nicht artikulieren.)"

Die Begeisterung des Demokraten über die Güte dieses Systems, die Politiker verspielen sollen, weil sie das Parlament nicht zum Podium der Jensschen Phrasen machen, kennt überhaupt keinen Inhalt mehr. Man mag den Festredner gar nicht fragen, welche finstere Wahrheit er ausgesprochen, welches Zukunftsproblem er phantasievoll ausgemalt, wofür er Geschichtserkenntnisse leidenschaftlich ausgekramt und woraufhin er die Gesellschaft befragt sehen möchte. Es reicht ja auch aus, daß der Tübinger Geist mit seinem so grundsätzlichen Lob der Demokratie, vor der jede ihrer praktischen Entscheidung banal und platt wirkt, die wirklichen Macher zutiefst beschämt.

Wie jede Mitleidstour ist auch der Jenssche Aufruf "Denk an den einzelnen, wenn du die Millionen erwähnst" ein wenig verlogen und geheuchelt. Daß sich das Parlament in ein Institut zur Pflege der pfäffischen Nächstenliebe wandelt und die Politiker psychologische Beratung in Asylen betreiben, ist nicht gemeint da ginge ja auch die schöne Demokratie nicht mehr, die von Bonn aus regiert werden muß. Für das Lob der Demokratie als menschliches Zuhause reicht auch ein Humanist im Land, der seinen Mitbürgern nahebringt, woran sie eigentlich leiden: an der Angst vor "Morgen" und an der Sehnsucht nach mehr "Qualität" statt platter "Quantität".

5.

"Die Wahrheit also - und zwar ungeschminkt zu benennen ist erste Pflicht der parlamentarischen Redner. Die zweite Aufgabe aber heißt: Für die Wahrheit Worte zu finden, klare Benennungen, präzise, aber gleichwohl phantasiebestimmte Formeln, individuelle Antworten, eigenständige Sentenzen, witzige Allegorien, geistreiche Aphorismen, Maximen, Lyrismen, Sentenzen... was immer: wenn nur endlich Schluß ist mit jenem basic German, dem lumpigen Verschnitt, der heute dazu herhalten muß, die Provokationen von seiten der Außenwelt zu nivellieren.

Ein makabres Schauspiel, noch einmal. Die Welt ist komplexer denn je; Umschwünge, Öffnungen, faszinierende Metamorphosen - wohin immer man blickt: Glasnost regiert die Stunde -, und was tut, um nur sie zu nennen, die Regierung bei uns? Sie betoniert die Sprache, läßt das Vokabular schrumpfen, findet für die verschiedenartigsten Tatbestände immer die gleichen Vokabeln, von der 'Herausforderung' bis zur 'Gemeinsamkeit aller Demokraten'. Wo Begrifflichkeit gefragt wäre, wird abgestandene längst zum Klischee erstarrte Metaphorik geboten. Wo Konkretes benannt werden will, dient Umschreibung dazu, die Wahrheit aus den Blicken zu rücken: Kein alter Nazi, kein Bankrotteur, kein skrupelloser Machiavellist, der sich am Ende nicht auf 'tragische Verstrickung' hinausreden könnte.

Nur nicht ins Detail gehen, heißt die Devise, nur munter drauflosschwadronieren (ganz unbekümmert: Journalisten haben, so lange die Kameras laufen, nicht nachzufragen, sondern zu nicken); nur immer hübsch allgemein bleiben, 'für Deutschland' am liebsten, für 'unsere Landsleute' und die 'Menschen draußen im Land'.

Da wird es allerhöchste Zeit, denke ich, daran zu erinnern, daß die Wahrheit konkret ist - und weil sie das ist, hat auch die demokratische Beredsamkeit konkret zu sein - und dazu biegsam, variabel, vielgestaltig, den wechselnden Gegenständen angemessen: einmal kunstreich und einmal schlicht; hier eher biblisch, dort lehrhaft, hier hochpathetisch, aber präzise (wer wagt es, auch einmal Goethe in extenso zu zitieren, in Bonn, oder Schiller, der seinen Fiesco durchdachte - in Oggersheim, wie man weiß?); hier enthusiastisch, dort sarkasmengesättigt, hier epigrammatisch und dort, im Faltenwurf Carlo Schmidscher Perioden, bestimmt von himmelwärts gewandtem Ernst. Poesie als Patin der Politik. Wie sagte Churchill? We are still captains of our souls.

Captains, wirklich? Ich fürchte die radebrechenden Schiffsjungen im Lande Lessings und Heines, Politiker unterschiedlichster Couleur, werden eine harte Schule durchmachen müssen, ehe sie, nicht dank ihrer Amtsgewalt, sondern wegen ihrer von Sachverstand und Sensibilität zeugenden Sprach-Kompetenz, das ihnen anvertraute Schiff vernünftig, behutsam, überzeugungsmächtig für die Zeitgenossen und hoffnungsbringend für die Kommenden werden lenken und damit, uns Demokraten der Bundesrepublik Deutschland betreffend, aller Welt demonstrieren können: We are still captains ofour souls."

Es ist schon absurd, was heute als kritischer Geist der Republik durchgeht. An den Großtaten demokratischen Regierens bedrückt Jens nur eine Sorge: Das seelische Wohlbefinden und das umstandslose Einverständnis mit ihrer Herrschaft könnte durch die Worte der Politiker bei den Regierten in Zweifel geraten - der Kritiker ist ein Fanatiker der Leistungen der demokratischen Politik, die deren Untertanen zu spüren bekommen, und deren fragloser Anerkennung und Zustimmung von unten. Er braucht noch nicht einmal etwas zu wissen von Zwecken und Inhalten demokratischen Regierens - die stehen als "Wahrheit" fest -, wenn er sie witziger und sprachlich anspruchsvoller an den Mann gebracht sehen möchte. Literarische Lesungen im Bonner Parlament, das fehlt allein zum demokratischen Lebensglück; nur das Schönste, das sich ein Jens vorstellen kann, ist gut genug für das Recht, sich für die Bonner Politik begeistern zu können. Da kann die Enttäuschung über den lumpigen Sprachstil von Kohl so tief nicht sitzen - zumal es einen im Land gibt, der die Patenschaft für die 'radebrechenden Schiffsjungen' auf dem Bonner Dampfer übernimmt und für sie Goethe zitiert.

Weil er das Wirken demokratischer Politiker für unbedingt anbetungswürdig schätzen will, diese ihm aber nicht den Gefallen tun, die Vorlieben eines Schöngeistes zu berücksichtigen und zu ehren, wird Jens heikel und kritisch. Wenn der Verfasser einer 'beißenden Satire' auf die geistlosen Macher in Bonn einen Preis erhält, der nach einem anderen Politiker-Schöngeist benannt ist, werden beide Seiten schon wissen, was sie aneinander haben: der Geist und die Macht.