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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1987 erschienen.

Systematik


DIE LEISTUNGEN DER NATURWISSENSCHAFT (1. Teil)

Die beste Aufklärung über das Denken und seine Resultate in den Naturwissenschaften bietet immer noch deren Studium. Leider ist diese Banalität längst keine Selbstverständlichkeit mehr. Von der Eigenart dieses Zweiges der theoretischen Anstrengung einer Minderheit von Spezialisten pflegen sich aufklärungsbeflissene Weltbürger heute anders informieren zu lassen. Wissenschaftstheoretiker und andere Philosophen stehen hoch im Kurs, wenn Auskünfte erbeten sind, die von der Größe wie den Grenzen künden, die der Naturkunde so schöne gemischte Gefühle entgegenzubringen gestatten. Von Gnade und Gefahr, von „Weltbildern“ und „Paradigmenwechseln“ ist bei dieser Berichterstattung aus einem Gewerbe, zu dem nur wenige Zugang haben, dann allerdings mehr die Rede als davon, was die Suche nach Naturgesetzen so alles erbracht hat. Ganz zu schweigen von den friedens- und umweltbewußten Torheiten, die einer Sparte objektiver Erkenntnis prinzipiell die gewichtige Tugend der Verantwortung zu- oder absprechen, die allein in die Kompetenz ihrer Nutznießer fällt.

Ohne Rücksicht darauf, welche Geschichten von seiten philosophischer und populärer Volksaufklärer über die „Bedeutung“ der naturwissenschaftlichen Theorien unter die Leute gebracht werden, geht es auch in den folgenden Klarstellungen nicht ab. Schon deshalb nicht, weil es die Naturwirte selbst nicht unter der skeptisch-weltanschaulichen Deutung ihres Handwerks tun. Dennoch liegt das Hauptargument dieses Aufsatzes nicht auf der Widerlegung der ziemlich unwissenschaftlichen Touren, in denen dem ge-, naturwissenschaftlich aber ungebildeten Publikum die Leistungen der Naturerkenntnis vorstellig gemacht werden. Eher schon geht es darum, die Objektivität aufzuzeigen, durch die sich diese Abteilung Denken verdient und brauchbar zugleich gemacht hat. dass damit ein ehrfürchtiges Kompliment ausgesprochen ist, braucht niemand zu befürchten. Eher schon fordern die Kenntnisse und ihr Gebrauch - der zweite Teil widmet sich der Technologie - dazu heraus, einmal respektlos zu prüfen, wie die Unterordnung der Naturforschung unter gar nicht rätselhafte Zielsetzungen der politischen Ökonomie gelingt.

Vorbemerkungen bezüglich der Missverständnisse, die die Zunft der Naturwissenschaftler selbst befördert

Auch in den nach allgemeinem Sprachgebrauch exakten Wissenschaften gilt es heutzutage nicht mehr für verfehlt und lächerlich, ein einführendes Lehrbuch mit kapitellangen Tiraden über „Theorie und Wirklichkeit“ einzuleiten, die den wissenschaftlichen Wert des darzustellenden Stoffs von vornherein relativieren und damit alle Bemühungen des Lesers um das Weitere zu etwas im Ernst gänzlich Überflüssigem erklären.

„Was die Erkenntnis der Welt angeht, befindet sich die Physik also, mit den Begriffen richtig und falsch gefaßt, in einer bemerkenswert unsymmetrischen Lage: Jede generelle Aussage über die Welt und das, was in ihr geschieht, kann zwar definitiv als falsch nachgewiesen werden, niemals aber als definitiv richtig. Jedem, der für die Ästhetik der reinen Mathematik empfänglich ist und für die Unbedingtheit ihrer Aussagen, wird das als ein hoffnungsloser Mangel an mathematischer Reinheit erscheinen. Dieser Mangel ist in der Tat hoffnungslos, denn es handelt sich bei der Physik keinesfalls um eine temporäre Lage, die lediglich auf einem Mangel an Information beruhte, der sich bei genügend langem Warten beheben ließe, sondern um eine Naturnotwendigkeit. ... Das ist ein Naturgesetz, das übrigens nicht auf die Physik beschränkt ist, sondern für jede Auseinandersetzung des Menschen mit der Wirklichkeit gilt, die Urteilsbildung verlangt ...“ (Falk-Ruppel, Mechanik, Relativität, Gravitation, S.20-21)

Etliche hundert Jahre nach Newtons „hypotheses non fingo“ sind seine Jünger zu der Überzeugung gelangt, dass just dieses Hypothesenausdenken die Wahrheit über ihr Geschäft sei. Die ziemlich falsche Hypothese, Naturgesetze seien Prognosen über „alle möglichen“ Erfahrungen, wird durch den immer gleich mitformulierten Einwand, dass andererseits ja niemand, wie sollte er auch, diese Erfahrungen gemacht haben kann, keineswegs erledigt, sondern zum gelungenen Argument gegen die Solidität alles Gedachten. Die Mathematik hat es angeblich besser, weil sie ja nur am sicheren Gängelband der Tautologien und rein formalen Beweisen gehalten, Hirngespinste untereinander in Beziehung setze, während über die wirkliche Welt partout kein richtiges Urteil gebildet werden kann, eben weil diese so verteufelt wirklich ist. Die behauptete Asymmetrie von „richtig und falsch“ ist der reine Humbug - soll so ein Feind allgemeiner Aussagen doch mal nachweisen, dass das, was er als nicht 20 Grad Celsius seiend gefunden hat, wirklich die Temperatur war. Aber ganz gleich, von welcher Stufe und mit welchen Schnörkeln ein moderner Naturwissenschaftler seine Philosophie gelernt hat, allen kommt es auf das sich selbst widerlegende Geschäft an, für die Unsicherheit jeglicher Erkenntnis Beweis zu führen. Als ob sie die alte Sophisterei vom lügenden Kreter, der deshalb auch mit einem gewissen ironischem Recht alle wissenschaftstheoretischen Schmöker bevölkert, praktizieren wollten, behaupten sie ausgerechnet ihr Verdikt über alles, was die Forschung zum Magnetismus oder den Maikäfern erarbeitet hat, als ein Naturgesetz und merken noch nicht einmal, dass sie so für ihr Bekenntnis zur Skepsis mit einer Vokabel werben, die auf den unbestreitbaren Erfolg der Naturwissenschaft verweist.

Umgekehrt: Die philosophierenden Naturforscher suchen sich vor professionellen Wissenschaftsfeinden anderer Fakultäten dadurch hervorzutun, dass sie die Fülle der in Physik, Chemie oder Biologie vorhandenen Kenntnisse zu einem Beleg für ihre Weltanschauung verdrehen. Da finden sich dann mitten im Physikbuch Demonstrationen wie die folgende dafür, dass jeder Gedanke nur eine schlechte Annäherung an die Wirklichkeit sei:

„Jeder einfache Gedanke ist angenähert... Was ist ein Stuhl? Nun ein Stuhl ist ein bestimmter Gegenstand... ein bestimmter? Wie bestimmt? Die Atome verdampfen davon von Zeit zu Zeit - nicht viele Atome, aber einige -; Schmutz fällt darauf und wird in der Farbe gelöst; also ist die präzise Definition eines Stuhls, genau zu sagen, welche Atome Stuhl und welche Atome Luft oder welche Atome Schmutz sind, oder welche Atome Farbe sind, die zum Stuhl gehört, unmöglich... Jedes Objekt ist eine Mischung von Dingen. Darum können wir damit nur umgehen als mit einer Reihe von Annäherungen und Idealisierungen.“ (Feynman, Lectures on Physics, vol. I, ch. 12-13)

Hätte dieser Nobelpreisträger seines Fachs als Physiker über Stühle reden wollen, dann hätte er Statik treiben müssen und vielleicht erklärt, warum so ein Ding seine vier Beine braucht. Hätte er seiner Liebe zur Atomtheorie an einem besonders lebensnahen, dafür um so weniger erhellenden Beispiel frönen wollen, wäre er auf das Material zu sprechen gekommen und hätte vielleicht ein ziemlich abstraktes Argument dafür gebracht, dass die Möbel selten 1000 Jahre im Leim bleiben, eine kürzere Zeitspanne aber schon. Statt dessen beruft er sich auf seine physikalischen Kenntnisse, um ein Ding, mit dem weder Professoren noch Hausfrauen ein Problem haben können, in ein ungeheures Geheimnis zu verwandeln und so dem menschlichen Geist zu bescheinigen, dass es sein Prinzip sei, vor allerhand tiefen Abgründen die Augen zu schließen.

Bei dieser Konfrontation von Atomen und Stühlen, als wäre es physikalisch wahr, dass wegen Bewegung der ersten sich die zweiten in Luft auflösen, handelt es sich keineswegs um den besonders spleenigen Einfall eines Ami-Professors, sondern um ein Beispiel für einen unter Naturforschern respektierten Usus, der es regelmäßig zur Ehre einschlägiger Veröffentlichungen, Veranstaltungen, ja Lehrstühle bringt. Ein Physiker hält es für eine seinem Fach immanente Forderung, Reflexionen über das „Wirklichkeitsverständnis“, den „Substanzbegriff“ oder das „Kausale Prinzip“ anzustellen, und macht dergleichen unwissenschaftliche Abstraktionen - „1 Wirklichkeit ist gleich 5 Substanz im Quadrat“ kommt zu Recht in keinem Physikbuch vor - heute mit dem doppelten Argument dringlich, dass erstens die Entdeckungen des 20. Jahrhunderts die „Grundlagen“ der „klassischen“ Physik über den Haufen geworfen hätten, und dass zweitens die „moderne“ Theorie ohne die einschlägigen Interpretationsbemühungen ein leerer Formalismus bliebe.

Zum ersten Argument fällt auf, dass die Beschwörung des revolutionären Fortschritts der Wissenschaft immer nur auf das eine Resultat führen soll, dass nunmehr recht viel Bescheidenheit und Mißtrauen dem Wissen gegenüber geboten sei. Wenn die philosophischen Flausen früherer Forscher - z.B. Helmholtz: „Das letzte Ziel aller Naturwissenschaft ist, sich in Mechanik aufzulösen.“ - nicht als Metaphysik kritisiert und beiseite gelegt, sondern verständnisvoll als Ausfluss einer thematisch beschränkten und daher antiquierten Physik verhandelt werden, kann Zufriedenheit mit den neuen Ergebnissen dann auch nicht gemeint sein. Die Weltanschauung ist tot - es lebe die Weltanschauung, heißt die gar nicht aufklärerische Parole, die aus Einsichten in die Natur immer erst noch die „Bedeutung“ ableiten will.

Zum zweiten Argument, also dem Bedürfnis, sich „bei“ einem Resultat der Physik immer noch etwas zu denken, ist zu bemerken, dass die Naturwissenschaft noch nie den Alltagsvorstellungen entsprochen hat, insofern sie die Natur erklärt und nicht dahererzählt, was sich in der Erfahrung findet - schon Galilei ließ die Erde sich bewegen und formulierte das Fallgesetz für ein gar nicht vorhandenes Vakuum. Für seine modernen Kollegen ist diese Differenz aber nicht mehr gleichbedeutend mit der Notwendigkeit von Wissenschaft; sie drechseln daraus vielmehr Paradoxien und räsonieren darüber, was sie eigentlich wissen, wenn sie etwas wissen. So kommt es, dass beispielsweise jeder Student der Quantentheorie die Übungsaufgabe vorgesetzt kriegt, aus der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation den Atomradius zu berechnen, also damit genau so verfahren lernt wie mit dem Ohmschen Gesetz oder sonstwas, und zum anderen erfährt, er habe bei solchen Leistungen noch rein gar nichts verstanden, wenn er nicht auch noch darüber rätsele, wieso sein Ergebnis überhaupt eine Wahrheit sein könne, und einsähe, dass jene Relation, in der von Impuls, Energie usf. die Rede ist, das Verhältnis von Subjekt und Objekt verändere.

Für einen Heisenberg bestand nämlich die Quintessenz seiner Entdeckung in dem absurden Urteil über „unsere“ Erkenntnis und ihren Gegenstand,

„dass wir die Bausteine der Materie, die ursprünglich als die letzte objektive Realität gedacht waren, überhaupt nicht mehr an sich betrachten können, dass sie sich irgendeiner objektiven Festlegung in Raum und Zeit entziehen und dass wir im Grunde immer nur unsere Kenntnis dieser Teilchen zum Gegenstand der Wissenschaft machen können.“ (Heisenberg, Das Naturbild der heutigen Physik, S. 18)

Anders als im „makrophysikalischen“ Bereich, wo sich die physikalischen Gesetze an ordentlich individuellen Gegenständen realisieren, die daneben noch andere Bestimmungen aufweisen und dergestalt der Anschauung zugänglich sind, handelt es sich beim Atombau durchaus nicht darum, ein grünes Elektron namens Peter und ein rotes namens Paul um den Kern sausen zu lassen; die hier anzutreffenden Existenzen sind durch nichts anderes mehr als gewisse Zahlenverhältnisse charakterisiert. Diesen Mangel an Individualität, wenn man einen Vergleich mit vertrauten Gegenständen anstellen will, haben die Physiker zum Anlass genommen, die kleinen „Bausteine der Materie“ mit der Forderung zu konfrontieren, sie müßten sich wie wirkliche Dachziegel vorstellig und dingfest machen lassen. Man will sich also ein Problem daraus machen, dass jene abstrakten Un-Dinge ihre Gesetzmäßigkeiten nicht an einem einzelnen Exemplar darstellen, sondern nur, wenn sie in einer Vielzahl vorhanden sind; man hält wider besseren Wissens an der Frage nach dem individuellen Wie und Wo der Nicht-Individuen fest und macht so, weil es darauf keine vernünftige Antwort gibt, aus dem bereits entdeckten Naturgesetz ein unergründliches Rätsel. Wie die Rede von den „Bausteinen“ impliziert, durchzieht das so zurechtgeschusterte Geheimnis natürlich nicht nur die Physik der Atome, sondern die aus ihnen „zusammengesetzte“ Objektivität schlechthin, und es ist sehr zweifelhaft geworden, ob das Denken ihrer jemals mächtig sein kann.

Dieser saublöde Trick, die angeblich kritisierte mechanistische Betrachtungsweise der Natur als Maßstab an das eigene Forschungsergebnis anzulegen und sie damit als einerseits denknotwendig, andererseits hoffnungslos unangemessen zu charakterisieren, gilt als epochemachender Befreiungsakt des Denkens, weil sich die Fachleute in Sachen Natur deswegen auch noch zu ganz anderen Geistestaten aufgerufen und berechtigt fühlen. Die „von der Realität“ zur Skepsis „gezwungenen“ Physiker konstatieren sofort voll Freude, dass wegen erwiesener Insuffizienz der Wissenschaft zu positivem Irrationalismus fortgeschritten werden müsse, endlich also die friedliche Koexistenz und fruchtbare Kooperation mit sämtlichen Sphären des höheren Blödsinns erkämpft sei. Dieser Übergang ist so simpel wie zwingend: Die Unmöglichkeit, das Elektron genau zu lokalisieren schafft den Raum, wo der liebe Gott seinen unphysikalischen Finger hineinstecken kann, und wenn‘s nicht gleich der alte Herr persönlich sein soll, können in gleicher Funktion der Geist, das Leben, das Unbewußte etc. aufmarschieren.

„Der Prozeß, den die Naturwissenschaftler der Religion gemacht haben, ist revisionsbedürftig geworden.“ (P. Jordan, Der Naturwissenschaftler vor der religiösen Frage)

„Unsere Knoten werden immer gordisch bleiben; daher sollte Wissenschaft eine Anbetung der Natur und nicht ein Kampf gegen sie sein.“ (Biochemiker E. Chargaff, Unbegreifliches Geheimnis)

„Prama ist räumlich ausgedehnte, belebende, also zunächst einmal bewegende Potenz. Die Quantentheorie beschreibt etwas davon nicht völlig Entferntes.“ (C. F. v. Weizsäcker, Die biologische Basis religiöser Erfahrung)

Wenn moderne Naturforscher von sich Aufhebens machen, dann eben weder wegen des Wissens, das sie haben oder produzieren, sondern wegen eines besonderen Durchblicks, der sich aus ihren an sich überhaupt nicht mitteilenswerten Resultaten ableiten soll und zu tiefsinnigen Weltdeutungen befähigt. Ihre wahre Aufgabe hat wenig mit Experimentieren und Rechnen zu tun, um so mehr aber mit letzten Fragen und dem Blick hinter die Dinge; ihre eigentlichen Ergebnisse sind nicht die Gesetze besonderer Naturgegenstände, sondern fundamentale Seinsprinzipien. Sie legen Wert darauf, Dummheiten zu produzieren und stürzen sich begeistert auf jeden gehobenen Schwachsinn, der das geistige Leben so bewegt, um ihr eigenes Zeugs damit in Beziehung zu setzen. Ob sie sich dem „Problem des Sprechens über uneigentliche Gegenstände“ stellen, der „Veränderung der Apriori-Strukturen“ nachspüren und einen neuen „logisch-ontologischen Ansatz“ umreißen; ob sie einen deutschen Aufsatz über „Abstraktion in moderner Physik und moderner Kunst“ schreiben und das gemeinsame Dritte von „Quantentheorie und Heidegger“ suchen (Auflösung: Beide lehren uns, dass wir vor dem Nichtsstehen) - stets werden sie ihrer Verantwortung gerecht, auch mit ihren Mitteln zur Grundproblematik menschlicher Existenz und dem Sinn des Daseins beizutragen.

Im Unterschied zu hauptamtlichen Philosophen und all dem anderen Gelichter aus den geisteswissenschaftlichen Fakultäten hätten die Naturforscher tatsächlich etwas zu sagen. Ihr faustischer Drang, nichts Bestimmtes wissen zu wollen, sondern eben, was die Welt im Innersten zusammenhält, lebt immerhin von dem Quidproquo, reelle Erkenntnisse über Atome oder lebende Zellen für einen Befund über die Welt schlechthin auszugeben. Ihre Überzeugung, dass die Naturwissenschaft ein äußerst abgründiges und mysteriöses Geschäft und deshalb zur Belaberung von Menschheitsfragen geschaffen sei, blüht und gedeiht ausgerechnet angesichts dessen, dass jeder täglich seinen Fernseher anschaltet, Verkehrsmittel benutzt oder fürchtet, seinen Arbeitsplatz an eine Maschine zu verlieren: So entspricht dem philosophischen Gehabe moderner Naturforscher, die dafür sich auf Ihr Wissen berufen, der genausowenig an Wissen interessierte Respekt des Publikums, dem der praktische Erfolg imponiert und das deshalb die Wissenschaft für die solideste Form von Ideologieproduktion hält.

Diese völlige Umkehrung der Verhältnisse wird schlagend klar, wenn man die Durchsetzung der Naturwissenschaft gegen ihre historischen Vorläufer und Konkurrenten betrachtet. Die verlogene Attitude der Aufklärung, mit der die atomphysikalische Weltbild-Revolution und die ganze übrige Spinnerei heute in Szene gesetzt werden, ist die Karikatur früheren Forschungsgeistes, der tatsächlich an Wissen als solchem interessiert war und deshalb auch gegen Ideologien kämpfte, anstatt sie selbst in die Welt setzen zu wollen.

Physik oder der gelungene Abschied vom Wunsch nach dem Perpetuum mobile

„Ein Ziegelstein für sich erschlägt einen Menschen nicht, sondern bringt diese Wirkung nur durch die erlangte Geschwindigkeit hervor, d. i. der Mensch wird durch Raum und Zeit totgeschlagen.“ (Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften II, Pragraph 261)

Wenn die Naturwissenschaft ihre Leistung in einer mit der Technik verwandelten Welt wiedererkennen kann, so bilden diese Erfolge mitnichten, wie es wissenschaftstheoretische Lobeshymnen wollen, einen Beleg dafür, dass die Naturforscher eben die Orientierung auf Bedürfnisse der Praxis in ihr theoretisches Treiben aufgenommen hätten und damit der anderen Abteilung bürgerlicher Wissenschaft entscheidend vorausgeeilt wären. Der Versuch, die Natur mit den eigenen technischen Zwecken zu konfrontieren und damit gegen ihre Gesetze zu erfinden, existiert jahrhundertelang vor und neben der Physik als Wissenschaft - aber ohne in sie Eingang zu finden.

Das berühmteste Beispiel stellt das Perpetuum mobile (PM) dar, ein Projekt, das heute als Muster grober Unkenntnis schon durch den Pförtner beim Patentamt abgewiesen wird, das aber durch sein Scheitern zugleich zu der fragwürdigen Ehre gekommen ist, als empirischer Beweis für das Gesetz von der Erhaltung der Energie angeführt zu werden.

Die große Zahl solcher Erfahrungen, die gewiß die der Ausführung vieler entscheidender Experimente der Physik in den Schatten stellt, demonstriert tatsächlich nur die falsche Beharrlichkeit des Wunsches nach einer Maschine, die sich dauerhaft von selbst bewegt und als Triebkraft für anderes dienen kann. Erfunden wurden in spärlichen Variationen stets dieselben fehlerhaften Mechanismen; die häufigste Erfindung und überhaupt der Inbegriff aller ist ein Rad, an dessen Peripherie Gewichte gehängt sind, die es in Bewegung setzen sollten. Hatte das Rad so guten Grund, sich nach beiden Richtungen und damit überhaupt nicht zu drehen, so bestand die Kunst seines Erfinders darin, eine Asymmetrie auszuklügeln, die aber nur in der Vorstellung, nicht in der tatsächlichen Hebelwirkung bestand und bei exakter Berechnung immer auf Gleichgewicht und Stillstand führte. Man mußte schon hoffen, dass sich auf der Rückseite des famosen Rades oder sonstwo im Innern der Maschine die Gewichte doch von selber in die Höhe höben. Das fertige Projekt brachte den Erfinder somit stets genau auf die Erfahrung z u r ü c k, die überhaupt den Anlass zu seinen technologischen Bemühungen geboten hatte: Eine Last läßt sich ohne den entsprechenden Aufwand nicht gegen die Schwerkraft bewegen. Aber statt diesen Ausgangspunkt zu erklären, wollten ihn die Projektmacher nicht wahrhaben. Sie hatten ein Problem mit ihm, d.h. sie waren am Gegenteil interessiert und taten deshalb ihr bestes, alle Menschheitserfahrung in Sachen Arbeit nicht etwa zu analysieren, sondern durch die Einbettung des kritischen Punktes in absurde Konstruktionen zu verdunkeln.

Der Ertrag solcher Versuche, die mit wirklichen Experimenten nichts gemein hatten, war daher für die Wissenschaft und Technik gleich Null; sie bildeten eine Sphäre der Scharlatanerie, von der sich die Physik abgrenzte, schon bevor sie ihren allgemeinen Einwand präzisieren konnte. Denn gegen die Freunde des Problems war zum wenigsten daran festzuhalten, dass es bei der Suche nach überschüssiger Triebkraft um eine Frage des Maßes ging:

„Die Konstruktion eines PM ist absolut unmöglich. Wenn auf die Dauer die Reibung und der Widerstand des Mittels die bewegende Kraft nicht zerstören würden, so könnte diese Kraft nur einen Effekt produzieren, der deren Ursache gleichkäme.“

Erklärungen wie diese der französischen Akademie von 1775 haben noch den Mangel, dass der physikalische Inhalt der behaupteten Gleichung von Ursache und Wirkung nicht bestimmt ist. Wenn die PM-Erfinder auch im Detail Schindluder trieben mit den vorhandenen mechanischen Kenntnissen, also Hebelwirkungen falsch bilanzierten usf., so hätte sich ein theoretischer Kopf in ihren Reihen immerhin zugute halten können, dass es ein Kraft braucht, um einen Körper in Bewegung zu setzen, sich solche Kräfte aber in der Natur genügend finden lassen. Die Schwere ist ebenso unerschöpflich wie die Anziehung eines Magneten, der Auftrieb des Wassers usw., was vielleicht eben der Grund dafür sei, dass sich die Natur selbst als perpetuierliche Bewegung darbietet. Aber die Kraft ist der Mechanik zufolge Maß der Beschleunigung, nicht Maß der Bewegung. Noch Robert Mayer hielt es bei der Darstellung des allgemeinen Energiesatzes für geboten, zum genauen Verständnis dieses Naturgesetzes aufzufordern:

„Die Schwere oder die Ursache der Beschleunigung wurde für die Ursache der Bewegung genommen und damit die Entstehung von Bewegung ohne Aufwand von Kraft statuiert, sofern beim Fallen eines Gewichts von der Schwere nichts aufgewendet wird.“ (Mechanik der Wärme, S. 21)

Die Schwere eines Körpers ist und bleibt dieselbe, ob er nun eine Strecke von einem, zehn oder mehr Metern falle, der Bewegungseffekt aber ganz verschieden, so dass er nur im Verhältnis zum durchlaufenen Raum durch die Kraft zu bemessen ist. Aus der Grundgleichung

K = m * dv/dt der Mechanik wird so

K * ds = m * dv/dt * ds = d (1/2 m * v**2), oder, in integrierter Form,

Epot + Ekin = const

(Vgl. Gerthsen, Physik, S. 28)

 

Dieser Satz von der Erhaltung der (mechanischen) Energie bringt das Scheitern der PM-Projekte zugleich mit dem Erfolg aller wirklichen Technologie der Mechanik auf den Begriff. Die Bewegungsenergie der herabsinkenden Gewichte bemißt sich an der Arbeit, mit der sie gegen ihre Schwere in die Höhe zu schaffen sind. Es handelt sich um den Formwechsel einer identischen Größe, die damit nicht überhaupt, aber durch das Verhältnis der beiden verschiedenen Seiten zur Disposition steht. Bewegungsenergie entsteht nicht von selbst, aber sie l ä ß t sich zweckmäßig verwandeln, soweit sie vorgefunden wird, und umgekehrt durch ein entsprechendes Quantum mechanischer Arbeit erzeugen, und mit dem Fortschritt der Physik - Wärme, Elektrizität - wurde jene erste Gleichung auf eine ganze Kette, d.h. ebensoviele technische Möglichkeiten ausgedehnt.

Die Energie bleibt also erhalten im physikalischen Prozeß, aber ihr Gesetz schreibt ihr nicht einfach einen Zahlenwert zu, wie wenn es gälte, über eine an und für sich existierende Sache noch eine weitere Auskunft zu geben, sondern bestimmt sie selber als ein Quantum, das selber die Beziehung anderer Größen aufeinander ist.

Die Energie, konstant wie sie ist, schließt deshalb Veränderlichkeit ein. Irgendein Betrag, z.B. für die mechanische Arbeit angenommen, stehen Kraft und Weg in umgekehrter Proportion; Kraft läßt sich also auf Kosten des Wegs ersparen, und in anderen Maßen gilt dasselbe für Masse und Geschwindigkeit.

Wo Projekte vom Schlage des PM noch stets das Phänomen leugneten, an dessen praktischer Bewältigung sie interessiert waren, leitete die wissenschaftliche Physik durch seine wirkliche Analyse wahre Wunder ein. Denn in den Formeln, in denen sie den Begriff ihrer Gegenstände ausführt, wird die Natur als Sache des Nutzens erkannt. Wenn ihre Qualität in quantitativen Verhältnissen besteht, die Energie also etwa gleich Kraft mal Weg etc. ist, dann zeichnet es die Gegenstände der Physik aus, dass sie äußerlich bestimmt, für sich selbst unselbstständig, abstrakt sind.*) Ihr Spezifikum ist ihre Abhängigkeit von ihnen gegenüberstehenden Bedingungen; sie sind Möglichkeiten, deren Realisierung aus Umständen resultiert, in die dann auch modifizierend eingegriffen werden kann.

*) Weil die Physik von Abstraktionen handelt, die als solche nicht in der Gegend herumspazieren können, werden ihre Einsichten gerne für das Werk theoretisierender Willkür ausgegeben. Die kinetische Energie z.B. sei nichts Wirkliches, sondern als ½*mv**2 nur „festgesetzt“, und wenn in dieser Definition mit der Masse multipliziert wird, anstatt dass der Logarithmus von sonstwas vorkommt, so nicht, weil es richtig ist, sondern weil es zweckmäßig sei - als ob die Physik ihre Erhaltungssätze und vieles mehr nicht am zweckmäßigsten dadurch herausbekäme, dass sie gleich alles als Null oder Eins ansetzte. Ist so der Gegenstand eines Gesetzes beim Teufel, läßt sich der quantitativen Form noch ein eigener Sinn abgewinnen:

„Um eine solche (eine Gesetzmäßigkeit) genau zu formulieren, müssen die physikalischen Begriffe quantitativ erfaßt, d.h. gemessen, also durch Einheiten und Anzahl ausgedrückt werden können. Daher ist für die Formulierung von Naturgesetzen nur eine bestimmte Anzahl von Begriffen geeignet.“ (Gerthsen, Physik, S. 1)

Dieser Physiker stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Nicht die bestimmte Form des Qualitativen in der Natur - mathematische Relationen, also Maßverhältnisse - macht die genaue Beobachtung nach Anzahl und Einheit nötig; sondern weil nur das Meßbare gelten soll, sind die Begriffe danach einzurichten. Weshalb das allerneueste Naturgesetz besagt, dass mit der Energie viel Staat zu machen ist.

Chemie - vom Phlogiston zum Begriff des Elements, der Valenz und Bindung

Wie die Physik ist die Chemie eine Wissenschaft, die in ihren Ergebnissen die technische Beherrschung der Natur vorbereitet. Wenn Chemiker ihr Fach durch eine spezifische Betrachtungsweise definieren wollen -

„Die chemischen Eigenschaften einer Substanz beziehen sich auf die Teilnahme der Substanz an chemischen Reaktionen. Chemische Reaktionen sind Vorgänge, die Substanzen in andere Substanzen verwandeln.“ (Pauling, Chemie, S. 11)

- dann deuten sie auf ihre Weise den Grund für den praktischen Erfolg der Chemie an. Diese Wissenschaft beschäftigt sich mit Reaktionen, nicht weil diese auch einen interessanten Aspekt von Naturkörpern darstellen, sondern weil in solche Prozessen die Identität des jeweiligen Stoffes besteht. Prozeduren wie der Analysengang, in denen ein Stoff an seinen Reaktionen erkannt wird, zeugen von der Einsicht der Chemie, dass die Besonderheit einer Substanz in einer Reihe von Beziehungen auf andere Substanzen besteht. Sie ist durch die Möglichkeit ausgezeichnet, Verbindungen einzugehen, und dann ihre Eigenart in spezifischer Weise aufzugeben. In diesen Prozessen ergeben sich charakteristische Unterschiede nach Mengen, die eingesetzt werden; chemische Gesetzmäßigkeiten sind Proportionen, weshalb auch die Chemie eine Wissenschaft der Maße ist. Die Eigenschaften der Materie beruhen auf ihrer Zusammensetzung - chemische Formeln und Reaktionsgleichungen; elementare Stoffe sind durch Wertigkeiten, Affinitätsgrade usf. als Einheiten des chemischen Prozesses qualifiziert - Atombau und Periodisches System.

Im Unterschied zur Physik besitzt die Chemie eine eigene Vorgeschichte als falsche Wissenschaft. Die Erklärung des Aufbaus der Materie und damit ihre zweckmäßige Umwandlung gelang den Chemikern erst dann, als sie von dem Fehler Abstand nahmen, die interessierenden Qualitäten der Stoffe in P r i n z i p i e n zu übersetzen, die als deren Grundbestandteil das jeweilige Erscheinungsbild bedingen sollten. Ein Metall galt als schmelzbar, glänzend, schwer usf., weil es das quecksilbrige Prinzip als Träger dieser Eigenschaft enthält; ein Stoff sollte deshalb die Verbrennung unterhalten können, weil er das schweflige oder, wie man sich streiten mußte, ölige, fettige Prinzip in sich schloß. Diese tautologische Manier, die erkannte Identität von Erscheinungen für eine Erklärung zu nehmen und folglich falsch zu bestimmen, erhält ihre konsequenteste Ausprägung in der Phlogistontheorie, die das Prinzip der Verbrennung als einen eigenen Feuerstoff aus dem Kreis der gewöhnlichen Substanzen wie Schwefel, Kohle, usf. ausschloß und damit endgültig zur der Schimäre machte, die es war.

„Fragt man aber die Anhänger dieser Theorie, wie sie das Vorhandensein des Feuerstoffs in brennbaren Substanzen beweisen, so verfallen sie in einen Zirkelschluss, Die Körper brennen, weil sie Feuerstoff enthalten, und sie enthalten eben Feuerstoff, weil sie brennbar sind. So wird die Verbrennung durch die Verbrennung erklärt.“ (Lavoisier, Allgemeine Betrachtungen über die Verbrennung)

Wenn demgegenüber moderne Lehrbücher der Chemie anerkennende Worte für die „einleuchtende“ Hypothese vom Phlogiston finden (z.B. Pauling, S. 101), bezeugen sie ihren Respekt vor einem eminent praktischen Charakter dieser Art falschen Theoretisierens. Indem ein Körper brennt, verliert er seine Fähigkeit, diesem Prozeß als Material zu dienen - sein Phlogiston entweicht. Ganz wie umgekehrt eine Zufuhr - etwa von phlogistonreicher Kohle - angewendet und verbraucht wird, um ein Erz zum Metall zu vervollkommnen. Die Eigenschaft der Brennbarkeit läßt sich so von einem Körper auf den anderen übertragen, lautete das stärkste Argument der Phlogistontheorie. Doch dass die Brennbarkeit als ein Stoff übertragen wird, folgt nicht aus solchen Beobachtungen.

Lavoisiers Revolution der Chemie, in deren Zentrum die Erklärung der Verbrennung als Oxidation stand, basierte auf einer Revision der einschlägigen Erfahrungen; seine Leistung betraf weniger die Entdeckung neuer Substanzen und Reaktionsweisen als ihre adäquate Darstellung im Experiment. Verbrennung scheint Substanzverlust zu sein - der korrekt ausgeführte Versuch zeigt das Gegenteil. Denn statt es dem Zufall zu überlassen, ob der verbrannte Stoff teilweise oder ganz einen festen Rückstand bildet oder aber als flüchtiges Gas entweicht, isoliert das wissenschaftliche Experiment den Prozeß, fixiert so dessen Produkte und macht zugleich die Teilnahme der Atmosphäre an der reaktion sinnfällig. Weil es sich dabei um eine Umsetzung von Stoffen, Verbindung oder Zerlegung, handelt, wird der Gebrauch der Waage entscheidend für die richtige Auffassung des Phänomens; die Verbrennung hat eine Gewichtszunahme zum Ergebnis, die ihr exaktes Komplement in der Verminderung der beteiligten Luftmenge findet. Das umgekehrte Verhältnis charakterisiert dei Reduktion; Lavoisiers wohl berühmteseter Versuch zeigte die Natur dieses Vorgangs am Quecksilberoxid auf, wo er sich ohne Vermittlung von Reagentien wie Kohle rein als Zersetzung darbietet.

Das Experiment, wie es Lavoisier nach dem Vorbild der Physiker endgültig auch in der Chemie durchsetzte, ist also ein Mittel der Forschung, die durch ihren Eingriff in das Naturgeschehen seine Erkenntnis vorbereitet.**) Der Sprachgebrauchg der Chemiker, die unter einer Darstellung oder einer Analyse experimentelle Tätigkeit verstehen, reflektiert dei heute verbreitete Selbstverständlichkeit einer solchen praktischen Vermittlung ihrer theoretischen Arbeit. Die Beobachtung der Natur, wie sie vorgefunden wird, gilt aller experimentierenden Naturwissenschaft als ungenügende Grundlage für ihr Geschäft:

„Die Aufgabe, das einem in der Natur sich abspielenden Vorgang zugrunde liegende physikalische Prinzip aufzufinden, kann in einzelnen Fällen durch Beobachten selbst gelöst werden. ... Im allgemeinen ist aber eine Naturerscheinung zu verwickelt, unterliegt zu vielen und im einzelnen nicht kontrollierbaren Einflüssen, als dass dieser Weg zum Erfolg führen könnte. An Stelle der unmittelbaren Beobachtung der vom Beobachter unbeeinflußten Naturerscheinung tritt das physikalische Experiment. Das Wesen des Experiments besteht darin, dass der Experimentator die Bedingungen schafft, unter denen der Vorgang ablaufen soll." (Gerthsen, Physik, S. 2)

Wenn dieser Physiker als Wesen des Experiments angibt, was es von der Beobachtung unterscheidet, dann schickt er die exakten Wissenschaften allerdings auf den gefährlichen Abweg, Komplikationen lieber zu vermeiden und sich beim Gesetzemachen lieber auf das Einfache und Kontrollierbare zu halten. Doch darum handelt es sich nicht beim Experiment, so wenig umgekehrt der Mangel bloßer Betrachtung einer der Kontrolle ist. In seinen Versuchen führt der Forscher vielmehr zu dem Zweck Konstellationen vorsätzlich herbei - sie mögen dann verwickelt sein oder nicht -, dass sich ihm der Gegenstand der Untersuchung seiner wirklichen Beschaffenheit gemäß präsentiert.

Denn weil in der Chemie genauso wie in der Physik die Bestimmtheit der Gegenstände eine des Verhältnisses zu anderen ist, ist die Verwirklichung des Gesetzmäßigen das Werk des Zufalls, solange die Natur sich selbst überlassen bleibt. Im Experiment wird diese Schranke für die Forschung überwunden. Indem der Wisssenschaftler selbst die adäquaten Bedingungen erzeugt, macht er sich frei von der Anschauung des bloß zufällig Realisierten und bringt das Gesetz zur Erscheinung.

**) Weil das Experiment praktische Tätigkeit zum Zweck der Erkenntnis ist, bietet es gleich zweimal Gelegenheit zu wissenschaftstheoretischen Verdrehungen. Man kann erstens der Meinung sein, das Experiment sei dasselbe, wie sonst die nützliche Verwendung von Naturgegenständen in der Produktion, weshalb soclche Forschung zu ihrem Vor- oder Nachteil unter einem technischen Apriori stehe. Und man kann zweitens der Meinung sein, das Experiment sei dasselbe wie sonst das Urteilen, Schließen usf., weshalb solche Forschung „empirische Beweise“ führe und mit oder ohne Erfolg Hypothesen überprüfe. Die Synthese beider Fehlergelingt Habermas, indem er die Industrie in Anführungszeichen setzt, wo sie statt Autos und Persil nurmehr Annahmen und Proben fabriziert: „ Im Experiment werden Annahmen über die gesetzmäßige Verknüpfung von Ereignissen (?) grundsätzlich in der gleichen Weise auf die Probe gestellt, wie in der ‚Industrie‘.“ (Erkenntnis und Interesse, S. 61)

Biologie

Anders als bei den übrigen Naturwissenschaften war die Identität der Biologie Gegenstand eines Streits, der wie alle unerfreulichen kapitel der Wissenschaftsgeschichte heute seine methodologische Fortsetzung gefunden hat. Nach dem Urteil moderner Biologen ist ihr Fach eine Unterabteilung der Physik oder, näherliegend, der Chemie; Biologie werde heute nur noch der Zweckmäßigkeit wegen separat betrieben.

„Die hochgradige Kompliziertheit lebender Systeme läßt einige Methoden als angemessen erscheinen ... Die biologische Aussage ‚Das Pferd trabt‘ läßt sich vielleicht, aber sehr umständlich als raum-zeitlich koordinierte Reaktion zahlreicher Moleküle chemisch beschreiben; eine umfassende Darstellung auf der Ebene der Physik wäre hoffnungslos verwirrend. Darauf, und nicht auf irgendwelchen methaphysischen Elementen lebender Organismen fußt die Eigenständigkeit der Biologie als Wissenschaft.“ (Vogel/Angermann, dtv-Biologie)

Diesen Aussagen zweier Freunde der Wissenschaftstheorie ist dreierlei zu entnehmen. Erstens ist die Biologie, eben weil es ihr auf nichts weniger ankommt als die möglichst genaue Beschreibung trabender Pferde, zu Ergebnissen gelangt, die mit den Molekülen der Physik und Chemie einiges zu tun haben. Was aber zweitens als Beispiel für den Blödsinn ausgegeben wird, durch die Analyse eines Gegenstandes sei dieser selbst abgeschafft und existiere überhaupt nur noch subjektiv als die Schwierigkeit, dass die Sätze über das Viehzeug - was also? - nicht zu lang werden dürfen. Welche Begründung der Biologie aus Kommunikationsproblemen dann drittens als ihren adäquaten Gegner die Methaphysik aus der Tasche zieht. So wenig auch die Heiligkeit des Lebens in und außerhalb der Wissenschaft heute ein Problem bietet: Die Erfolge der Biologie als Material industrieller Technik nehmen sich doch bescheiden aus im Vergleich zu denen von Physik und Chemie, und moderne Biologen propagieren die Konvergenz mit diesen Fächern, um sich an deren Karriere als nützliche Wissenschaft anzuhängen.

Die Biologie ist die Wissenschaft vom Leben. Im Unterschied zu den Abstraktionen der Physik, die für sich keinen Bestand haben, und den Stoffen der Chemie, die sich in ihren Reaktionen verändern, zeichnet sich das Lebendige durch die Selbsterhaltung in und mit seinen vielfältigen Beziehungen aus. Es benimmt sich als Zweck gegen seine Umwelt - aber so, dass dieses Zweckverhältnis selbst Naturnotwendigkeiten entspricht, anstatt als Werk einer bewußten Absicht über sie hinauszuweisen.

Die Darstellung von Funktionen ist das Thema der wissenschaftlichen Biologie gewesen und geblieben - von der ersten mechanischen Analyse des Blutkreislaufs bis hin zu den biochemischen Zyklen in der Zelle -, während der Versuch, all dieses Zweckmäßige aus seinem Zweck zu erklären, aus ebensoviele Tautologien hinausläuft und heute nur noch als Parasit an der Naturforschung fortexistiert.

Einem aufgeklärten Schöpfungsglauben lieferte die lebendige Natur das überzeugendste Material, und ob man sich nun mit den sieben Tagen der Bibel zufrieden gab oder längere Zeiträume kalkulierte, ob man eine oder mehrere Sintfluten zur Produktion der zahlreichen Fossilien in Anspruch nahm - stets lief die Erklärung des Natürlichen auf ihr Gegenteil hinaus; den Beweis einer übernatürlichen Absicht, der zuliebe dann auch umgekehrt dart ein tieferer Sinn konstruiert werden mußte, wo die Ausstattung der Organismen weniger ingeniös und durchdacht erschien. An die Seite frommer Bewunderung biologischer Apparate wie der des Auges, das, menschlicher Technik vergleichbar, unmöglich aus dem absichtslosen Wirken von Naturkräften entstanden sein konnte, gehörte notwendig das Lob selbst der Klapperschlange, die ihre Opfer warnen mußte, indem sie eben klapperte.

Solche Nützlichkeitsbetrachtungen zu Ehren des Herrgotts verloren in der Biologie ihre Existenzberechtigung durch die Lehre von der Evolution, eine Theorie, die allerdings selber zunächst im Gewande einer Ideologie auftrat, nämlich der des historischen Fortschritts. Lamarck, dem heute noch jedes Genetikpraktikum eine Widerlegung durch bakteriologische Experimente nicht zuletzt deshalb angedeihen läßt, weil ihn die sowjetische Philosophie wieder in die Wissenschaft einzubringen suchte, erklärte den zweckmäßigen Bau der Organismen als eine Folge davon, dass sich die Individuen an die jeweiligen Umstände eben geschickt angepaßt hätten:

„Nachdem die Naturforscher bemerkt hatten, dass die Körperteile der Tiere immer hervorragend zu deren Gebrauch passen, haben sie gedacht, dass die Formen und der Zustand der Körperteile zu deren Verwendung geführt haben: Das ist aber gerade der Fehler; denn mittels Beobachtung läßt sich zeigen, dass es im Gegenteil die Bedürfnisse und Gebrauchsweisen der Körperteile sind, die letztere entwickelt, ja sogar hervorgebracht haben, sofern sie nicht existierten, und die infolgedessen den Zustand veranlaßt haben, in dem wir sie bei jedem Tier vorfinden.“ (Lamarck, Philosophie zoologique, 1809, S. 235)

Lamarcks Einwand kehrt das zirkuläre Argument seiner Zeitgenossen einfach um. An die Stelle der Kreatur, die in den festen Bahnen der ihr mitgegebenen funktionalen Ausstattung auch entsprechend funktioniert, läßt er ein tierisches Individuum treten, das sich angesichts äußerer Schwierigkeiten selber umbildet und vervollkommnet, ja insofern sein eigener Schöpfer ist, als es sich „de nouvelles parties“ einfach zulegt, „que les besoins font naitre insensiblement interieur“. Die Giraffen, wie das Standardbeispiel lautete, haben ihren langen Hals durch die gewohnheitsmäßige Anstrengung bekommen, in kargen Steppen das Laub von den Bäumen zu fressen; sie sind Giraffen, weil sie dies als Lösung ihrer Probleme für sich erfunden und dann ins Werk gesetzt haben. Ein Wunder bloß, dass sie sich nicht durch andere Anstrengung auf den Beruf z.B. eines Löwen oder Kaktus vorbereitet, oder besser gleich noch eine Leiter gebastelt haben: Die tautologische Erklärung, die das als Werkzeug brauchbare Organ aus seinem Zweck ableitet, kann ohne die entsprechende Absichtlichkeit, und sei es nur als fortschrittsbeflissener „sentiment interieur“ des Viehzeugs, schlecht bestehen.

Darwins Leistung dagegen bestand in der Überwindung einer solchen ebenso populären wie unwissenschaftlichen Betrachtung der Tier- und Pflanzenwelt, wovon er in einem frühen Brief Zeugnis ablegt:

„...ich bin beinahe überzeugt (ganz im Gegensatz zu der Auffassung, die ich anfänglich vertrat), dass Arten nicht (es ist das Eingeständnis eines Mordes) unveränderlich sind. Der Himmel bewahre mich vor dem Lamarckschen Unsinn einer ‚Tendenz zum Fortschritt‘, der ‚Anpassung kraft des langsam wirkenden Willens der Tiere‘ etc.! Doch die Schlußfolgerungen, zu denen ich gelangt bin, unterscheiden sich nicht sehr von seinen, wohl aber die Mittel, welche der Veränderung zugrunde liegen.“ (Brief an J.-D. Hooker, 11.1.1844)

Die Ideologen, denen die Biologie in ihren Anfängen zu dienen suchte, waren längst widerlegt durch das praktische Verhalten der Menschen zur lebendigen Natur. Im Haustier und der Kulturpflanze besteht die bewunderte Funktionalität in der Anpassung an den Willen des Züchters:

„Eine der merkwürdigsten Eigentümlichkeiten bei unseren domestizierten Rassen ist ihre Anpassung, nicht zugunsten ihres eigenen Vorteils, sondern zugunsten des Menschen und der Liebhaberei..“ (Die Entstehung der Arten, Reclam, S. 58)

Der Kohl wird in der Reihe der Modifikationen angebaut, in denen jeweils ein besonderer Teil des pflanzlichen Organismus ungewöhnlich entwickelt und so zum Nahrungsmittel ausgebildet ist - auf den Tisch kommen Grünkohl, Rosenkohl, Kohlrabi, Blumenkohl etc. -, und ebensowenig wie hier kann beim Hund, des Menschen bestem Freund, in seinen eigenen Bedürfnissen und Gewohnheiten die Ursache dafür liegen, dass er schappohrig, plattnasig, fast ohne Beine herumläuft, kurz, in einer Gestalt, die zu einem irgend naturgewollten Beruf denkbar schlecht befähigt ist. Die offenbare Abhängigkeit der Nutztiere und -pflanzen von ihrer Kultur durch den Menschen beweist, dass ihre Eigentümlichkeiten auch erst aus dieser Kultur resultieren. Züchterische Umgestaltung von Lebewesen wurde schon in Darwins Zeit planmäßig betrieben -

„Die Züchter sprechen gewöhnlich von der Organisation eines Tieres als von etwas Bildsamem, das sie fast nach Belieben umformen können.“ (a.a.O.)

- und muß schon vorgeschichtlich stattgefunden haben.

„Der Schlüssel zu allem diesen ist das Vermögen der Menschen, immer wieder Individuen zur Zuchtauswahl auszuwählen, kurz: sein akkumukatives Wahlvermögen. Die Natur schafft allmähliche Veränderungen, und der Mensch gibt ihnen die für ihn nützliche Richtung. In diesem Sinne kann er von sich sagen, er schaffe selbst seine nützlichen Rassen.“

Aus der Art und Weise, wie der Mensch Tiere und Pflanzen zu seinem Nutzen abwandelt, läßt sich erschließen, wie die Natur selber verfährt bei der Entwicklung der Formen des Lebendigen mit ihren zweckmäßigen Organen und Wechselbeziehungen. Die Arten variieren: ihre Individuen gleichen einander nie vollständig, sondern zeigen in mehr oder weniger großer Fülle und Deutlichkeit der Ausprägung zufällige Unterschiede, die vererbt werden können und als solche eine charakteristische Schwierigkeit für die traditionelle klassifizierende Biologie ausmachten. Diese Varianten werden in entsprechend unterschiedlicher Weise durch die äußere Natur in ihrem Lebensprozeß begünstigt oder behindert, so dass sie wieder verschwinden, in untergeordneter Zahl fortexistieren oder sich durchsetzen. Das Ergebnis zweckmäßig ausgestatteter Arten kommt also dadurch zustande, dass auf der Basis geringfügiger, keine bestimmte Richtung auszeichnender Veränderungen an den Individuen ebenso planlos hinzutretende äußere Faktoren wie eine züchterische Macht als Auslese wirken, die auf die Dauer das gesamte Erscheinungsbild der eben nur relativ konstanten Art verändert oder eine neue Spezies etabliert.

„In diesem Wettkampfe (dem Kampf ums Dasein) wird jede Veränderung, wie gering sie auch sei und aus welchen Ursachen sie auch entstanden sein mag, wenn sie nur irgendwie dem Individuum vorteilhaft ist, auch zur Erhaltung dieses Individuums beitragen und sich gewöhnlich auch auf die Nachkommen vererben. Diese werden daher mehr Aussicht haben, am Leben zu bleiben; denn von den vielen Individuen einer Art, die geboren werden, lebt nur eine geringe Anzahl fort. Ich habe dieses Prinzip, das jede geringfügige, wenn nur nützliche Veränderung konserviert, ‚natürliche Zuchtwahl‘ genannt, um seine Beziehung zu der vom Menschen veranlaßten, künstlichen Zuchtwahl zu kennzeichnen.“ (a.a.O., S. 115)

Darwins Erklärung der so technologisch anmutenden Bildung des Lebens als ein Werk blinder Naturnotwendigkeit und damit des Zufalls ist ein Beispiel für die heute als Naturwissenschaft etablierte Biologie, die nicht länger mit Tautologien wie einer „Lebenskraft“ ihrem Gegenstand übernatürliche Qualitäten andichtet, sondern mit Hilfe der Ergebnisse von Physik und Chemie seine spezifischen Gesetzmäßigkeiten tatsächlich erkennt. Diese Leistung hat freilich weder Darwin noch seine Nachfolger davon abgehalten, gerade in der Biologie den Ideologien des Staatslebens eine ökologische Nische zu erhalten.

Die modernste Variante davon bildet die Verhaltensforschung eines Konrad Lorenz, auf die hier abschließend noch eingegangen werden soll.

Dieser prominente Biologe macht aus Darwins Theorie eine Methodologie, die dazu berechtigen soll, die Analyse der Funktionen des Lebendigen, wie sie sonst in der Biologie geleistet wird, wieder für die Feier dessen auszuschlachten, dass es in der Natur sinnvoll zugeht.

„Die Tatsache des Angepaßtseins hat eine für die Biologie charakteristische Frage zur Folge, die in Chemie und Physik unbekannt ist, die Frage ‚wozu?‘ Wenn wir fragen ‚Wozu hat die Katze gebogene, einziehbare Krallen?‘ und antworten, ‚um damit Mäuse zu fangen‘, suchen wir nicht nach der endgültigen teleologischen Bedeutung von Katzenkrallen. Wir verwenden nur eine Kurzform, um eine wissenschaftliche Kausalfrage zu stellen, die ungekürzt lauten sollte: ‚Was ist die Funktion, deren Überlebenswert den Selektionsdruck auslöste, durch welchen die Katzen veranlaßt (!) wurden, diese besondere Krallenform zu entwickeln?‘“

Die Mühe des Autors, seine Absicht in ein Argument zu kleiden, verdient hier einmal besondere Anerkennung. Zwar folgt erstens aus keiner Tatsache jemals eine Frage. Zweitens hat einer, der von Anpassung spricht, die Suche nach Zwecken schon nicht mehr nötig. Drittens berechtigt selbst der Unterschied von langen und kurzen Sätzen nicht dazu, mit „wozu“ den Katzen eine Strategie anzudichten und den „Selektionsdruck“ zum historischen Werk der Gattung hochzujubeln. Viertens schließlich ist diese für einen Verhaltensforscher typische Fragerei in Physik und Chemie deshalb unbekannt, weil man in diesen Wissenschaften zufrieden damit ist, die Gesetze der natur herauszufinden. Wer weiß, warum sich H mit O verbindet erfindet keinen Anlaß dazufür den Wasserstoff mehr - es sei denn, er will eben moralisch-religiös die ‚sinvolle‘ Gestaltung der Natur demonstrieren! Dem gelehrten Tierfreund ist es in diesen wenigen Zeilen jedoch gelungen, das Prinzip all seiner falschen Überlegungen aufs Genaueste zu umreißen: Neben der Biologie, die seit Darwin daran arbeitet, die Funktionsweise der offensichtlich zweckmäßig gebauten Organismen zu begreifen, etabliert die Verhaltensforschung sich als ein Fach, das von den Ergebnissen der Biologie nur die Abstraktion festhält, dass lebende Organismen in der Regel überaus zweckmäßig funktionieren; dazu denkt sie sich dann allerlei Schwierigkeiten aus, in die ein Lebewesen geraten würde, wenn es weniger zweckmäßig eingerichtet wäre, und ernennt die Tatsache, dass das Lebewesen aufgrund der Einrichtung, die es hat, diese Schwierigkeiten nicht hat, zur Erklärung seiner Beschaffenheit. Die Verhaltensforschung gründet sich so einerseits parasitär auf die Erfolge der Zoologie, andererseits auf den Zirkelschluss, der das Prinzip der Soziologie ausmacht: Zu dem, was es gibt und zu erklären wäre, ein dadurch angeblich gelöstes Problem zu erfinden, um aus der Leistung, dieses Problem zu lösen, den Grund der zu erklärenden Sache zu machen:

„Wir wissen nämlich, dass es die Leistung des Organs ist, die seine Form verändert.“

Die Darwinsche Entdeckung der natürlichen Zuchtwahl verwandelt diese moderne Afterwissenschaft also in die soziologische Begutachtung der Tierwelt, kürzt so erfolgreich die Biologie aus der Biologie heraus, ergeht sich statt dessen in beständigen Beglückwünschungen der Natur zu den sinnreichen Einrichtungen, die sie fürs Überleben ihrer Lebewesen getroffen habe, und bereitet mit solchen Tautologien die Natur auf zum Material für Wünschelrutengänge mit der Sinnfrage.