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KULTUR - WIE GEHT DAS?
Liebhaber von Kultur wissen meist auch, daß sie schon ziemlich lange währt. Besser ist sie darüber nicht geworden. So gut wie alles von dem, was nicht ins Reich der Notwendigkeit gehört, ergeht sich heute in einem recht eigentümlichen Gebrauch der Freiheit, die in kulturellen Belangen zum Zuge kommt.
Doch zunächst zur spannenden Frage, wann die Veranstaltung angefangen hat. Los ging es mit der Kultur genau zu dem Zeitpunkt, als für Zeit sie übrig war. Und das wiederum kam daher, daß die Jungs und Mädels durch Arbeit und deren Produktivitätssteigerung mit den Notwendigkeiten ihrer Lebensmittelbeschaffung fertig waren, ohne daß der Tag rum war und der Sandmann auf dem Zapfenstreich bestand. Schon daran sieht man, daß Kultur eine äußerst relative Sache ist. Ökonomische Notwendigkeit buchstabiert sich nämlich sehr unterschiedlich, sie richtet sich nach dem Arsenal von Mitteln, durch die ein Verein derer mit dem aufrechten Gang die restliche Natur überlistet und seine Bedürfnisse definiert. Diese sind eine ganz und gar von der Produktionsweise abhängige Gewohnheit; die Entdeckungen der Archäologen machen deutlich, daß gewisse Vorläufer unserer Freizeitgesellschaft bereits nach lächerlichen Erfolgserlebnissen beim Sammeln und Jagen zum Höhlenmalen übergegangen sind, weil sie sich überhaupt kein Gewissen daraus machten, daß das Kugellager noch nicht erfunden war. Insofern verdanken wir es der Relativität aller Kultur, daß sie so früh angefangen hat.
Daß die Kultur so flott weitergeblüht hat, sieht auf den ersten Blick wie ein Wunder aus. Denn die paar Einfälle, die im Verlauf von Jahrtausenden hinzugekommen sind und an Werkzeugen wie Schuhmode, an Baustoffen und Verkehrsmitteln (PS) für Fortschritt gesorgt haben, sind ja nicht einfach der Muße zugutegekommen. Erst einmal haben sie den Kreis der Notwendigkeit erweitert, es mußte nun nicht mehr nur gejagt und gesammelt werden, sondern auch ein wenig getöpfert und gezüchtet, gehämmert und geschmiedet. Daß die Musen dennoch einen Aufschwung abgekriegt haben, ist einer kulturträchtigen Laune der Geschichte geschuldet. Was die Produktivkräfte nicht hergaben, ermöglichten die Produktionsverhältnisse. Die matten Errungenschaften auf dem Gebiet der Erzeugung materieller Güter waren zwar nicht geeignet, in jedem Haushalt den Überfluß zu stiften, der den Geist zum Bau von Pyramiden, zur einfühlsamen Zupferei an der Leier und zum Ausdenken von Parabeln beflügelt. Durch die Teilung zwischen "Verantwortung" und Arbeit, durch Herrschaft, mit der produktive Leistungen in der Reproduktion der Gesellschaft die eine Sache, ihre Nutznießung eine ganz andere werden, hat sich das Wunder allerdings eingestellt. Das macht deutlich, daß die Kultur in dieser zweiten Hinsicht schon wieder eine relative Sache ist. Das Bedürfnis nach dem Guten, Wahren und Schönen ist als Luxus in die Welt gekommen, und zwar bei denen, die das Reich der Notwendigkeit beaufsichtigten, ihres Gemeinwesens Reichtum verwalteten und mit dessen Mehrung planend, vorstandsmäßig befaßt waren. Schon die Alten wußten, daß staatliche Machtausübung eine schwere Bürde ist und nicht unter einschränkenden Bedingungen für die Lenker leiden darf - materieller Wohlstand auf der Höhe der jeweiligen Zeit war zu garantieren. Und wo der ist, steht der Sinn nach Höherem.
In der Ökonomie mußte also keineswegs alles zum Besten stehen oder auch nur einigermaßen gerichtet sein, damit ein Relief, ein Wohlklang oder ein Reim entstand. Dank ihrer in den Produktionsverhältnissen steckenden Produktivkraft hat die Kultur ihren Siegeszug allenthalben angetreten, wo sich Menschen ansonsten der wüstesten Barbarei befleißigten. Es soll sogar Leute geben, die sich daraus ein schlechtes Gewissen machen, weil sie sich sonst nicht mehr guten Gewissens in ihre erbaulichen Genüsse von Sinn und Form verbeißen könnten. Dabei läßt sich doch noch nicht einmal der häßliche Vorwurf halten, daß die Kultur je ausschließliche Gaudi derer geworden ist, die das Sagen und ihre paar Besitztümer hatten. Auf ein Monopol waren die geistigen, geistlichen und geisterhaften Veranstaltungen nie berechnet, auch wenn sie zu allen Zeiten die schöpferische Kraft und die Genußfähigkeit der "Massen" enorm strapazierten.
Der erste Grund dafür ist schon wieder ein ökonomischer. Irgendwer mußte für das Bedürfnis nach Bild und Ton, Palast, Totenbehausung und Vers ja tätig werden. Das bloße Bedürfnis nach sinnlicher Darstellung herrlicher Ideen, welche die kleinen und große Reiche der Weltgeschichte zum Verdienst verklären, als das Werk der jeweils amtierenden Götter besingen oder schlicht von der Güte eines Fürsten Zeugnis ablegen, bringt nämlich gar nichts hervor. Daß Könige keine Philosophen sind und umgekehrt auch nicht, haben im alten Griechenland die Denker dialogisch beklagt. Das war sehr undankbar, weil sie dem Bedürfnis nach ihrer Kunst schließlich ihren Arbeitsplatz verdankten. Ein nüchterner Blick auf das Gesetz von Angebot und Nachfrage hätte ihnen lässig die Augen öffnen können. Da haben sich Ägypten, Mesopotamien, Griechenland und Kreta garantiert nicht von Byzanz und Florenz unterschieden: Herrschaften wünschen Kultur, gemacht wird sie in allen Gattungen von Kulturschaffenden, die dann ihre Schulen bilden.
Der zweite Grund führt endlich weg von der politischen Ökonomie. Der Bedarf an Geist und Würde, die Nachfrage nach Denkmälern für den Blütecharakter des jeweiligen Interregnums ist sicherlich ein "Selbstzweck", insofern aber enorm auf Mitteilung aus. Jedenfalls haben es die Sponsoren aller Kultur nie darauf abgesehen, die Produkte ihres Gönnertums privat zu genießen - immer kam es ein bißchen darauf an, daß die sinnlichen oder reinen Ideen gesellschaftlich, völkisch, eben allgemein verputzt werden. Wenn Generationen am Arbeitsplatz Pyramide zuschanden geworden sind, dann haben die anderen hinterher an den Tetraedern die Ehre ihrer Rasse immerhin schlagartig erfaßt, samt der des Königshauses. Ein Marathonlauf ist kein Langstreckenrennen, sondern ein beispielhafter Einsatz fürs Vaterland, der verdichtet gehört und wurde. Kultur mag den herrschenden Betriebsleitern der Abendländer aller Kulturkreise ein dringendes Desiderat gewesen sein - gemünzt war sie allemal auch auf den Verzehr der Untertanen. Mögen sie auch der Mittel entbehren, um sich einen Tempel oder eine Grabstätte zu bestellen - einen Reim wollten sie sich zu allen Zeiten darauf machen, daß sie nichts zu bestellen hatten.
In ihrer "Funktion", durch die sie allen ohne Rücksicht auf soziale Unterschiede etwas bringt, ist die Kultur also über jede Kritik erhaben. Dafür weisen sie ihre Botschaften erneut als eine äußerst relative Sache aus. Ihre Geschichte besteht aus einer riesigen Sammlung von Zeugnissen dafür, welche sozialen Charaktere es im Einsatz des absoluten Geistes wie weit gebracht haben.
Ahnenkult
Schwieriger als die Frage, wo die Kultur herkommt, ist das Problem, wie sie geht. Ganz früher ging sie noch leicht: Hier ein Bildnis des vierten Sprosses einer Dynastie, dort ein begeisterndes Orakel, ein netter Kriegsgesang, ein paar Gebetsformeln - und fertig war die Laube. Herrscher und Priester orderten zusätzlich noch ein paar Armreife beim Handwerk, das eine oder andere Ehrenmal und Altäre, so daß die so subventionierten Branchen auch an Erfahrungen im Umgang mit dem widerspenstigen Material reicher wurden - und alle waren schwer zufrieden beim Betrachten der vorzüglichen Produktionen.
Später wurden die Ansprüche dann höher. Mit den Fertigkeiten der Produktion wuchsen die Bedürfnisse; durch militärische Auslandsreisen lernte man die Reichtümer und Techniken der jeweiligen Barbaren kennen, natürlich auch ihre bisweilen vergnüglichen Sitten, Teppiche, Pferde und Frauen. Von den Kriegen wollte nun mancher Staatsmann einen geschönten Bericht haben, damit es dann möglichst viele erfahren; Glück und Pech des nationalen Vereins war den Göttern mitzuteilen, die jetzt nicht nur gut Wetter und Fruchtbarkeit herbeizuführen hatten. Da vieles noch nicht so recht klappte, war es selbstverständlich, daß der nun einmal unterhaltene Stand derer, die sich aufs Singen und Sagen verstanden, auch darüber seine Gedanken machte. Ein enormes Philosophieren hub an, während Penelope mit ihren Mägden auf einer Vase dem Spinnen huldigte, was für die Antike charakteristisch ist. Genauso wie ihre Orakel, Tempel und Hexameter.
Noch später - der Christengott hatte die Gemüter damit beeindruckt, daß es außer ihm sowieso keinen anderen gibt - brachte es die Kultur zu neuen Höchstleistungen im Kirchenbau, die die Erträge der zeitgenössischen Agrikultur bei weitem übertrafen. Ritter zogen durch die Landschaft des Mittelalters, und an Höfen verkehrten Spielleute, Troubadours mit manch derbem Liedchen. Aber auch das Besinnliche kam nicht zu kurz: Kruzifixe und Ikonen waren vom Ural bis an den Atlantik zu haben, weil Kreuzzüge und andere Missionen zu mancher Wende geführt hatten. Philosophiert wurde nun im Zeichen der Dreifaltigkeit, aber natürlich lateinisch und daher immer der Antike eingedenk. Bibelübersetzungen in alle Zungen machten Furore, außerdem Heidnisches.
Aufgrund der Vervielfältigung der kulturellen Leistungen, die sich dann ereignete, ist es unmöglich, den folgenden Perioden auch nur annähernd gerecht zu werden; wie sollte eine so kurzgefaßte Kulturgeschichte auch möglich sein, ohne die Bedeutung der Igor- und Nibelungenlieder, der Dome und Skulpturen, die ihnen auf dem Fuße folgten und schnurstracks auf Renaissance und Humanismus hinführen, aufs Erschrecklichste zu vernachlässigen?
Fest steht, daß unsere Vorfahren durchaus gewußt haben, wie Kultur geht! Ebenso, daß sie trotz unveränderter Prinzipien auf dem Felde ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Dienste immer mehr zu Wege brachten, so daß sie schließlich selbst nicht mehr genau wußten, wozu ihre Werke bestimmt waren. Zu ihren kulturellen Beiträgen haben sie sich zunehmend verkehrtes Zeug eingebildet, aber das hat sie enorm beflügelt in ihrer Schaffenskraft.
Das hat die Kulturschaffenden und -betrachter von heute zu einem grandiosen, tragikomischen Fehlschluß verleitet. Gebannt von der Fülle, die sich in der Kulturgeschichte angesammelt hat, ist ihnen eingefallen, daß Kultur von colere kommt. Das stimmt zwar nicht, weil - wie berichtet - die Kultur von ganz wo anders her kommt. Aber es fordert heraus. Der Auftrag zum Hegen und Pflegen, den die Etymologie erlassen hat, will schließlich befolgt sein. Und der Gegenstand, dessen sich ein Kulturfex annimmt, so er sich zum Pflegen berufen weiß, steht auch fest. Es ist die Kultur, die von colere kommt.
Auf diese krumme Tour haben wir es am Ende des zweiten Millenniums soweit gebracht, daß ein Dritteil der ganzen Veranstaltung in der Pflege der Tradition besteht. Ganze Wissenschaften machen sich daran zu schaffen, den überkommenen Bestand nicht nur zu sichten und zu katalogisieren; sie verehren ihn und schwören darauf, daß sie lauter Entdeckungen zu vermelden haben, ohne die etwas Hinterheriges und Heutiges partout "nicht z u denken" sei. Damit meinen sie nie die im Zuge des herrschaftlichen Wunsches nach Kultur freigesetzte Produktivkraft des Wissens - mancher Einfall von zu Erbauungsleistungen abgestellten Typen hat ja eine fundamentale geometrische, phsysikalische oder agronomische Einsicht dargestellt. Kulturpfleger interessieren sich für Newtons Physik bestenfalls als Zubehör und "Ausdruck" seines Menschen- und Gottesbilds! Wo der Stammbaum der Kultur recherchiert wird, geht es nie um das eher banale Festhalten von Leistungen, die gleich oder später zum Bestandteil, weil Mittel des "Reichs der Notwendigkeit", der Ökonomie, geworden sind. Da kennt man sich aus: Das Gepflegte ist allemal in der Sphäre des guten Geschmacks, der sinnreichen Menschheitsideen und ihrer Bebilderung zu Hause - also von der Welt der Arbeit wohl zu unterscheiden. (Daß sich bisweilen wohlmeinende Volksfreunde zur Rede von der bäuerlichen, Arbeiter- oder Volkskultur herbeilassen, widerspricht dem gar nicht: diese Kenner haben nur entdeckt, daß auch das gewöhnliche Leben mit einer gehörigen Portion von Sinnfragen und -antworten abgewickelt wird, also die gewöhnlichen Leute auch nicht "ohne" sind und ihnen das zur Ehre gereicht!)
Was an Elementen der Produktivkraft des Wissens so zusammenkam, auch das, was bau- und kriegstechnisch so erfunden wurde, wird bei der neuzeitlichen Totenverehrung vornehm erwähnt, um zur Bedeutung zu gelangen. Man denkt sich als Kulturhüter, also in der Rolle des Erben, wozu jedes Kulturgut vergangener Tage die Qualität des Erbes als seine vorzüglichste Eigenschaft schon einmal nicht mehr los wird. Angetreten wird das Erbe durch einen Beweis, der die Übernahme des Besitzes rechtfertigt. Die Kontinuität, in die sich die Fachleute und Amateure des Überbaus stellen, fordert den Nachweis der Verwandtschaft, und der geht auf dem Gebiet des Guten, Wahren, und Schönen allemal über Demonstrationen der Kongenialität.
Dieses Verfahren, das seine der Habgier im gewöhnlichen Leben nachgebildete intellektuelle Selbstsucht überhaupt nicht versteckt, ist in doppelter Weise unverschämt.
Erstens schämen sich die berufenen Anwärter aufs Erbe mit ihren Interpretationen überhaupt nicht, wenn sie entdecken, daß noch der letzte Schrott des überlieferten Bestandes durch ihr Verständnis von ihm seine Weihe erhält. In den kursierenden Deutungen alter Kunst und Philosophie machen sich erwachsene Leute des 20. Jahrhunderts gemein mit den Werken und Gedanken von Kulturschaffenden vergangener Tage, die über zwei bis fünf "Ideen" (Gott, Kampf, Ernte, toter Urahn, böser Geist, Königin) verfügten und sich mit der Darstellung dieser weltbewegenden Vorstellungen noch ziemlich hart taten. Mit der Registrierung und Entzifferung ist es für die modernen Anbeter ebensowenig getan wie mit der Ergründung des Warum und Wie der alten Produktionen. Solche nüchterne Beurteilung würde schließlich nicht jenes Staunen und Bewundern zulassen, das von der Fähigkeit des Interpreten zeugt, sich in dem Kanon von Kulturgütern heimisch zu fühlen, den Archäologie und Philologie zutage gefördert haben.
Fremd, abwegig, primitiv, leierkastenmäßig und dumm darf einem da nichts vorkommen. Da wird zur Not auch einmal die Relativität zur damaligen Produktivkraftentwicklung bemüht, um die "Leistung" ins rechte Licht zu rücken und der Subjektivität des modernen Sinnsuchers den Genuß zu verschaffen, auf den sie so scharf ist: Zuerst will sie sich kompetent machen in Sachen Würdigung des Kulturobjekts, damit selbiges mit dem mühsam erzeugten Schein seiner Bedeutung auf den zurückstrahlt, der es so kongenial zu beleuchten verstand.
Die Früchte der eigenen Tradition sind also keineswegs respektiert, wenn man in eine Basilika hineingeht, die Engel und Kreuze schön oder zu dick findet, vielleicht sich Rechenschaft über die Technik, die Proportionen etc. ablegt, um dann wieder hinaus und ins Wirtshaus zu gehen. Ganz zu schweigen von einer Beurteilung des gedanklichen Gehalts christlicher Schriften, die sich ausgiebig mit Himmel und Hölle auseinandersetzen; von einem Schluß auf die dürftigen ethischen Überlegungen übers Erlaubte und Verbotene im Denken wie im Leben will beim Studieren griechischer Philosophen kein Professor etwas wissen eher schon gelangt er zu der Behauptung, diese Kinderschule des moralischen Denkens enthalte in nuce und überhaupt genau die Gedanken, die er selbst für die allerwichtigsten und gelungenen hält. Vor dem Verdacht, daß es sich bei einem Denker des 20. Jahrhunderts nicht gerade um einen hellen Kopf handeln kann, wenn er sich mit nichts anderem herumschlägt als mit den kindischen und gläubigen Weisheiten, die ein Inder, Grieche oder mittelalterlicher Christ in grauer Vorzeit auch schon einmal hingekriegt haben, fürchtet sich da keiner. Kultur geht eben andersherum man pflegt sie, indem man an sich selbst auf Teufel komm raus belegt, wie sehr sie in Kraft ist.
Zweitens schämen sich die Vereinnahmungskünstler umgekehrt auch nicht, eine offensichtliche Nicht-Übereinstimmung zwischen ihrem Geistesleben und dem, das aus den Objekten ihrer Verehrung spricht, zu erschlagen, indem sie ganz brauchbare Leistungen einfach verpassen. Die Berufung auf die Tradition, die auf den Verwandtschaftsnachweis aus ist, bekennt sich sogar offensiv zu ihrem Subsumtionsbemühen, wenn sie vor allem in Sachen Literatur und Philosophie dazu übergeht, eine Betrachtungsweise - die eigene, originelle - für das Passende zu halten. Wofür, wird da offen ausgesprochen. Natürlich soll die Methode, der hausgemachte Gesichtspunkt, der aktuell, von heute aus "sich aufdrängende" Bezug der Überlieferung Botschaften "entreißen", zu denen sie von sich aus nie in der Lage wäre. Die Beispiele sind Legion, sagt man da, und stehen in kilometerlangen Bibliotheken herum. Studierte Menschen sind gewöhnt daran, nach dem Faschismus alle Dichter und Denker anders zu sehen, so daß manche mit ihren Gedanken glatt für das "Unheil" verantwortlich sind. Die Welt steht leicht auf dem Kopf, und so mancher Professor erlebt in seinen Deutungen immer nur das eine: genau das, was ihn an der Welt von heute aufregt und zu prinzipiellen Gedanken herausfordert; hat Balzac bzw. Dostojewski auch schon beschäftigt. Daß Kant und Hegel die Probleme ihrer brotgelehrten Nachfolger und sonst keine gewälzt haben, sich darin garantiert nicht von Heidegger und Habermas unterscheiden, gilt in dieser Ecke des Betriebs als ehrenwerter Bericht über die Lektüre der Alten. Von denen überhaupt erst ihre Interpreten mühsam herausbekommen, was sie wie gedacht haben, weil sie selbst kein zureichendes "Bewußtsein" ihrer Methode hatten. Wie gesagt - diese Methode, Kongenialität zu stiften, geht über manch brauchbare Idee hinweg, spart sich dafür, wie die erste Abteilung auch, das prüfende Urteil; sie ist die Unterscheidung von richtig und verkehrt los und hat damit einen sichere Erfolg in der Tasche. Den Nachweis, daß im höheren Blödsinn von heute neben dem Dümmsten auch das gescheite "Erbe" fortlebt.
Einen Grund hat der beflissene Umgang mit de Erbe freilich auch. Das Resultat der Geschichte und ihrer Leistungen sind schließlich allemal "wir"; darin eifert die kulturelle Traditionssuche sehr getreulich den Betrachtungen nach, die ihre profane Abteilung der Geschichtsschreibung anstellt. Daß die Rechte und Pflichten, die großen und kleinen Missionen von "uns" Heutigen aus der Geschichte kommen, aus der sich keiner stehlen kann; daß die Kausalität vergangener Ereignisse und nicht etwa ökomische und politische Willen und Interessen sehr gegenwärtiger Art dafür verantwortlich ist, wo's lang geht, ist das Credo der gewöhnlichen Geschichtsbetrachtung, die dem Fortschritt von Macht und Herrschaft und den ihm einbeschriebenen Wechselfällen lauter Aufträge ablauscht. Diese sind politischer Natur und betreffen die Ansprüche der Nation nach innen und an den Rest der Welt. Auch auf diesem Feld der Kultur herrscht jene doppelte Unverschämtheit in der Aufbereitung der Gedanke : Da scheut sich keiner, aus den "Leistungen" der Leuteschinder der Vergangenheit die Rezepte für sein Vorgehen abzuleiten - umgekehrt wird den Machern von gestern und vorgestern, manchmal ganzen Völkern genau das Versagen in Belangen zur Last gelegt, die sie garantiert nicht kannten, weil es die programmatischen Ideen von heute sind. Mit ein paar handfesten Abstraktionen von den historischen Umständen, von den Unterschieden, jedoch gelingt das Kunststück; Athen und Sparta, Rom und sämtliche deutschen Reiche fremder Nation beweisen es: Teilung schlecht - und da macht es überhaupt nichts aus, daß die Geschichte, einmal als fortwährende Bereinigung von Teilungen betrachtet, die von Kriegen ist.
Das "wir", auf das sich die kulturelle Traditionspflege zu zielstrebig hinbewegt, ist kein anderes. Mit ihrem Bemühen, "uns" als Produkt und legitimen Verwalter der herrlichsten Werke des Menschengeistes vorzuführen, - acht sie sich um genau die Ausstattung "des Menschen", "des Lebens", "des Geistes" verdient, die ihm neben und zusätzlich zu seinen ökonomischen und politischen Diensten zusteht. Die Lüge ihrer Abstraktion ist sehr einfach gestrickt: Sie sieht von der Relativität der Kultur ab und bespricht sie als den Zweck, das Haupt- und Generalanliegen, in dessen Verfolgung das Menschengeschlecht nichts anbrennen lassen darf. Das Bewahren ist die Pflicht, und das daraus erworbene Verdienst ist die große Auszeichnung, Kultur zu haben. Als hätten sich Geschäft und Gewalt erst dann, dadurch aber ganz enorm, gelohnt, wenn außer der Regierung und dem Geld auch noch Kultur 'herrscht', ergeht sich die Überbaufraktion der moderne Klassengesellschaft in einer brutalen Idealisierung dessen, was als wesentlich zu gelten hat. Sie tut so, als sei das Mehr oder Minder an Kultur die Signatur einer Gesellschaft und ihrer Konjunkturen, und sie mißt noch die letzte Barbarei in Vergangenheit und Gegenwart an diesem Kriterium, also daran, was sie für die Bildhauerei, für Sang und Klang sowie für die Reimschmiedekunst übrig hat!
Und diesen Maßstab lassen sich die Herrschaften gerne gefallen - sie haben enorm viel übrig für den Sinn des Lebens, der als eine ansehnliche Masse von vergegenständlichten goodies und beauties daherkommt. Diese zeugen zusammen mit den guterhaltenen oldies vom unsäglichen Wert des Lebens, wie er sich in einer Kulturnation Bahn bricht. Die Gewährung und Pflege von Kultur ist so allemal ein staatliches Angebot zur Bewältigung der nationalen Sinnfrage, das den Untertanen getrennt von den "Fragen" des Arbeitens, Wohnens, Heiratens und Sterbens offensteht, ein paar Arbeitsplätze schafft und den freundlichen Stiftern Lob, Ehr und Preis einbringt.
Pomp and Circumstances
Staatsmänner, die immer auch auf der Suche nach guten Gründen für ihren Laden sind, finden in modernen Hauptstädten der Welt ein bißchen kulturelle Pracht genauso bestechend wie damals die Herrscher und Priester von Babylon. Der Aufwand zeugt immerhin von der Güte des Gemeinwesens schon dadurch, daß er Überfluß vorstellt - man braucht ja nur zu vergessen worüber. Dieses Kompliment gewinnt noch an Gewicht, daß der Überfluß nicht für irgendetwas, sondern für schöngeistige Wunderwerke aufgeboten wird. Insofern sind sie zur Finanzierung einer stattlichen Anzahl von Kulturbeauftragten der Nation und eines dazu gehörigen Betriebs bereit - für sie fällt ja auch persönlich eine Portion Glanz ab, wenn der Staat eine gute Figur macht.
Dieser Kulturbetrieb hat zwei Abteilungen, eine spektakuläre und institutionalisierte. Letztere heißt "Bildung und Erziehung" und befaßt sich damit, auf den verschiedenen Stufen der Auslese, die hierarchisch sortierte Bildungsanstalten darstellen, immer entsprechend kindgemäß das kulturelle Erbe der Nation zu pflegen. kommt es, daß fast jeder einmal ein paar Dichterworte auswendig gelernt hat und auf die Zusicherung bauen kann, die ihm ein Lehrer mit auf den Lebensweg gibt - Goethe und Schiller seien super. Wenige lassen sich ihr Abitur einen Durchgang durch ein paar Dramen kosten, besinnungsaufsatzmäßige Prüfung des rechten Verständnisses inklusive Klassenfahrt zu Kirchen aus zwei, drei Epochen gibt es auch, und der Geschichtsunterricht ist schon fast so bescheuert wie eine Uni-Vorlesung. An den Hochschulen dann das ganz originelle, immergleiche Ringen um den Sinn, der in den verschiedenen Kulturgattungen offenbar ganz wegen uns und für uns verstaut ward. Abweichende Weisen des Umgangs mit dem Kanon der zuständigen Fächer kommen nicht vor, obgleich die Methoden der Sinnfindung, ihre Betonung und vor allem die bevorzugten "Aspekte" ein fröhliches pluralistisches Gewimmel bilden. Das kommt in einer modernen Universität nicht etwa von staatlicher Zensur der Lehrmeinungen - die interessieren ihn wegen der möglichen Polizeiwidrigkeit erst, wenn er einen Beamtenlehrer oder dozenten bei einer falschen politischen Demonstration erwischt hat. Nein, bei uns ist die Kultur so frei, daß sie sich in ihren mehr oder minder prominenten Vertretern selbst sauber hält. Die merken sofort, wenn einer seine Argumente nicht aus der Pflicht der Wertschätzung gegenüber seinen Objekten bezieht und sie teilen ihre Ablehnung stets als Gebot mit, das sich auf die Einhaltung der methodischen Regeln des Argumentierens in einer freien Wissenschaft richtet. Diese Hygiene in der wissenschaftlichen Kulturbetreuung funktioniert blendend, vom Seminarreferat bis zum Habilitationsverfahren, so daß jede Einstellungsfrage zu einer Frage der Einstellung wird, die in "wissenschaftlich" kontrollierter Form zu Protokoll gegeben werden muß. Auch hier rührt es die Verwalter des Erbes gar nicht, daß nach ihren Kriterien ihre höchstpersönlichen Berufungsinstanzen (sagen wir mal Leibniz, Fichte, Kant, Hegel und so) von ihnen noch nicht einmal einen Seminarschein für ihre Leistungen bekämen. Das geht mit absoluter Gewißheit aus der Art und Weise hervor, wie über die Größen vergangener Tage mit formalem Respekt nur geredet wird, damit die Verachtung für die paar richtigen Gedanken um so mehr den Epigonen und ihrem an Objektivität desinteressierten Kultus ihrer Botschaft zum Durchbruch verhilft.
Die spektakuläre Abteilung liebt der demokratische Staat genauso wie seine Vorläufer. Er ist denen erstens sowieso überlegen, weil er es in jeder Hinsicht weitergebracht hat und darüber hinaus die kulturelle Staffage vergangener Tage als eine einzige Ansammlung freiheitlicher Wegweiser und Weichen hin zu sich in Anspruch nimmt. Insofern werden Jubiläen von Gebäuden, Geburts- und Todestage von anerkannten Größen zu wahren Orgien repräsentierter nationaler Dummheit, die sich wegen des federführenden staatlichen Bedürfnisses - "ohne dies und den wären wir heute nicht auszudenken" - "wir verdanken uns...", und darum geht es ja wohl - ein Stelldichein gibt. Umgekehrt läßt es sich auch der demokratische Staat - der ja zum Kapitalismus gehört, in dem bekanntlich auch aus der Kultur sämtlicher Güteklassen ein Geschäft mit ganz anders gegliederten Preisklassen wird - nicht nehmen, aus Repräsentationsbedürfnis bei der Schaffung von Kultur auch selbst mitzumischen. Da gibt es Theater und Opernhäuser zu erstellen, zu renovieren und zu subventionieren, den deutschen Film zu fördern, den deutschen Schlager über die öffentlich-rechtlichen Anstalten ins rechte Erfolgslicht zu stellen - und das alles nur, weil das Recht der Nation, alle Anspiüche, die sie sich in der Welt von Politik und Wirtschaft anmaßt, so aussehen soll wie eine durch kulturelle Leistungen verdiente Ehre, die Anerkennung nach sich zieht.
Die Kulturdeppen freut das, und es steht noch nicht einmal fest, ob sie wegen des Geldes so dienstbar liefern und repräsentieren - oder ob sie wirklich ihren Dienst am Gemeinwesen für so wesentlich halten, daß ihnen auch materieller Lohn gebührt. Kaum einer, der sich über einen Orden und so Zeug nicht freuen würde obgleich er damit schon ein bißchen kulturelles Richteramt in Staatshänden anerkennt. Kaum einer, der sich deshalb nicht auch in die Jury verantwortungsbewußt berufen ließe. Die wenigen Leute, die sich mit Kulturellem aus individueller Neigung befassen und die "Prostitution", die "Bestechlichkeit" von Kultur(trägern) beklagen, wenn sie das banale Zusammenspiel bemerken, täuschen sich aber: Anders ist der ganze Kulturladen, als öffentliche Veranstaltung jedenfalls, nicht zu haben. Die dritte Relativität der Kultur, ihre Dienstfertigkeit ist eine Konsequenz ihrer zweiten, jener, die von den Produktionsverhältnissen kommt, und nur die Kehrseite der Anerkennung, auf die noch jeder Schöngeist seufzend aus ist. Müssen tut er sicher nicht, aber wenn er es nicht darauf anlegt, ideell wie materiell verkäufliche Ware zu liefern, ist er an seiner geliebten Kultur nicht beteiligt. Dann kann er sich seine Einfälle bezüglich des sinnlichen Scheinens der Idee, seine Skizzen und Romanentwürfe gleich sparen, Wissenschaft treiben - womit er auch aus der Universität heraus wäre - und dem Kapitalismus heimleuchten. Mit Kultur ist diese schöne Sache zum Beispiel gar nicht möglich; selbst dann nicht, wenn einer Kulturkritik betreibt, was immer auf die Besserung von Sinn und Form hinausläuft. Die Prüfung, ob eine Theateraufführung, ein neues Stück Spaß macht, ist für einen Kritiker genauso wie für staatliche Bildungsgewissenswürmer nämlich etwas, was außerhalb des Bereichs gehört. Gefragt gehört da schon eher, ob die Neuheit Ehre einlegt - für das Haus, für seine Tradition, für "unseren" kommunalen, regionalen, nationalen oder abendländischen Standard. Und solche Fragen darf man auch dort stellen, wo eindeutige und keiner Frage mehr würdige Spektakel abgezogen werden. Wenn zum Beispiel der Papst kommt und der Staat nicht mit Kunst und Philosophie, auch nicht mit Hymne und Marsch - linke Trommel, großer Fuß -, auch nicht mit Nobelpreisträgern kommt, sondern seine Mannschaft und seine kulturelle Reserveelite dazu zur großen Koalition mit dem Glauben antreten läßt. Tut-Ench-Amen.
Leider ist es mit der hier in aller Kürze beweinten "Funktion" der Kultur - sie ist nationale Ausstattung - noch nicht getan. Repräsentation wird nämlich auch nur veranstaltet, damit es alle sehen. Das Lob der Herren ist allemal auf sein Echo berechnet, auf Menschen "draußen im Lande" und auswärts, die mit der Botschaft auch etwas anzustellen wissen - also in der Lage und bereit sind, das Getue zu genießen und sich in der kulturellen Heimstatt, die ihnen geboten wird und die sie mit ihrer wirklichen verwechseln dürfen, einzurichten.
Diese Übung ist nicht jedermanns Sache. Einige kommen nicht dazu, weil sie erst einmal mit der Einteilung von Geld und Arbeitszeit befaßt sind. In ihrer Freizeit sehen sie, ganz auf Unterhaltung aus, lieber den Krimi als das Kulturmagazin, das einen Inszenierungsskandal vom Zaun bricht. Verpaßt haben sie dabei ganz bestimmt nichts. Der "Nutzen" der Kultur fürs wirkliche Leben ist ihnen entgangen und ein Irrtum ist ihnen schwerlich nachzuweisen. Andere, wenige landen im Rahmen des musealen oder hochschulischen Kultus wenigstens auf einem Arbeitsplatz, der ihnen einige Mühen erspart und vielleicht sogar eine Neigung zum beruflichen Inhalt werden läßt. Solange sie ihre Papyri friedlich studieren, ihre Bibliotheken und Akademien in Schuß halten, sich nicht überanstrengen bei den Karteien fürs neueste ostfälische, westfränkische oder altbulgarische Wörterbuch, lassen sich diese Menschen samt ihrer Borniertheit gut aushalten. Ein bißchen lästig wird die Sache allerdings, wenn Angestellte der nationalen Fußnote Kultur, nur weil sie der Staat nicht missen will und zu seiner höheren Ehre unterhält, aus einem Kulissenschiebergeschäft der Herrschaft etwas ganz anderes machen: einen Beweis für die Unentbehrlichkeit ihrer werten Person; wenn sie dazu übergehen, sich und ihren Beitrag zum menschenwürdigen Dasein so sehr gutzuheißen, daß sie den Ihnen gar nicht bekannten "Nutzen" für die Gesellschaft in die Forderung übersetzen, nach ihnen hätten sich alle zu richten.
Pride and Prejudice
Um Kultur zur individuellen Ausstattung zu machen, bedarf es einer Gewohnheit, die man auch Bildung des guten Geschmacks bezeichnet. Diese in besseren Elternhäusern zusammen mit den Wirkungen der Schulerziehung schnell erworbene Fertigkeit läuft darauf hinaus, daß sich ihre Besitzer bei jedem Haus und jeder Straße, bei jedem Buchdeckel und bei jedem Socken, bei fremden Leuten schon gleich, die aufregende Frage stellen, ob ihnen das Objekt der zufälligen Ausschauung auch gefällt. Solche ästhetische Erziehung kann böse enden, soll hier aber nur als Boden dafür betrachtet werden, daß die aufbauende Schulung funktioniert. Die zielt auf ein bleibendes Interesse an schönen Sachen, welche dann erst einmal zum Freizeitvergnügen wird: Bilder, stehende wie bewegte, gemalte wie fotografierte, sollen schön sein und sind ein Genuß; Töne desgleichen - einen Klavierunterricht hat man ja auch noch gehabt - und Worte nicht minder. Damit ist schon das Programm auf dem Weg, das sich dann als Studienwunsch regt - und spätestens dann wird's kritisch. Der Übergang zur Mission kündigt sich nämlich an, und damit die Meinung, bei all den unterhaltsamen Dingen ginge es um Wichtigeres als bloß um Unterhaltung. So entstehen die erst heimlichen, dann im Probelauf exekutierten Wünsche, selbst ein bißchen Kultur zu schaffen - oder, noch schlimmer, den Mitmenschen die tiefere und eigentliche Wertigkeit des Zeugs nahezubringen. Da gibt es dann schon wieder Vorbilder im vorhandenen Kulturbetrieb. Vorlesungen werden prompt nicht an den Erklärungen gemessen, die sie bieten, sondern an einem sachfremden Kriterium namens "Genuß" - natürlich ein "ästhetischer" Maßstab, der von Kulturprofessoren schwer gepflegt wird, von wegen Kongenialität mit dem hochverehrten Objekt. Jedes Bild eine kafkaesk gemahnende Metonymie, die auf dem Abstellgleis des Bahnhof des Nichts in eine parkende, aber hermetisch abgeschlossene Litotes kracht! Jeder Dichtersatz und Pinselstrich ein Wagnis, das erst einmal jahrhundertelang seit den Mysterienspielen und dem Pikaresken außer im Decamerone keiner sich zu trauen wagte! Und allenthalben jede Menge Humanismus!
Einmal auf diese schiefe Bahn gelangt, wissen sich gebildete Individuen schwer zu unterscheiden vom Rest der Welt. Und das ist angesichts des Blödsinns, auf den sie sich viel zugutehalten, falsch und lächerlich; angesichts der Anerkennung, die dem Zeug über die staatlich abgesegneten Bildungsgüter und die zu ihnen gehörigen Werbespots der aktiven Kulturbetreuer zuteil wird, befinden sie sich jedoch schwer im Recht. Dieses Selbstbewußtstein, sich in einer enorm bedeutungsschweren Angelegenheit heimisch zu fühlen, ein Verständnis mobilisieren zu können, wo andere passen und einfach nichts verstehen, ist elitär. Und es beschränkt sich keineswegs auf die Leute, die tatsächlich den Durchmarsch zur Präzeptorenriege - sei es an den Hochschulen, sei es in den Feuilletons - schaffen. Diese Haltung, teilzuhaben, halbwegs exklusiv, an dem Sinn, für den anderen der Sinn fehlt, schminken sich auch die nach dem Abitur ins gewöhnliche Leben eingetretenen anständigen Menschen in den Charakter, Studienräte sowieso und eben die meisten akademischen Berufstätigen. Die andere harte Seite dieser Tugend liegt darin, daß sie sich nicht nur demographisch in die Akademikergilde hinein ausbreitet und wegen der Korrelation von Bildung und Erfolg auch sonstwo bei ansonsten normalen Leuten Nachahmer findet; sie ist ein Laster, das sich keineswegs auf die Erörterung von Kunst und Tiefsinn eingrenzen läßt. Deshalb gibt es im 20. Jahrhundert plötzlich Leute "mit Stil", welche die Katharsis der großen Kultur samt ihrem Humanismus und ihres guten Geschmacks so gründlich durchlebt haben, daß sie in Sachen Benimm und Humor, Kleidung und Wortwahl, ja selbst beim Einkauf im Großmarkt und an der Tankstelle demonstrieren, daß sie anspruchsvoller sind als die anderen. Sie laufen herum und führen sich ihrer Umwelt gegenüber auf wie Vertreter einer einflußreichen Stiftung "Kulturtest" und kennen sich - in sämtlichen einschlägigen Qualitätsmaßstäben total aus. Die Lockerung der Sitten und Umgangsformen, die einst im Knigge nachzulesen waren, hat schon stattgefunden. Durch die Einhaltung der damals vorgeschriebenen Regeln kann sich heute so, leicht keiner mehr Komplimente einhandeln und gebildete Typen von heute würden sie nach diesen Regeln weder wollen noch einfach verteilen. Das Regelwerk ist erneuert worden, es gibt Techniken der Selbstdarstellung, an die sich die meisten Menschen unter dem verheerenden Eindruck der Kultur halten, weil sie an sie glauben. Leider ist ihre Wirksamkeit letztendlich doch wieder an die Harmonie - nein, nicht des Scheins von Bildung mit dem wirklichen esprit, sondern - des Auftretens mit der objektiven Stellung in der sozialen Zwiebel gebunden, welche nach oben immer dünner zuläuft.
Aber das ist ja auch kein Wunder. Schließlich ist die Kultur von Anfang an eine ziemlich relative Sache gewesen.