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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1987 erschienen.

Systematik

Korrespondenz
"Eogismus in Reinformat!"

Anläßlich des Papstbesuches verteilte die MARXISTISCHE GRUPPE (MG) eine Zeitung mit dem Artikel "Vom schädlichen Unsinn der Frage nach dem Sinn des Lebens". Aus einer ganzen Reihe von Zuschriften befassen wir uns mit folgendem Brief, weil er ein Argument vorträgt, das wir immer wieder einmal gegen Beiträge in der MSZ zu hören kriegen.

Die Hungersnöte in "Rohstoff-Ländern" sprich Dritte-Welt-Staaten - als "marktwirtschaftliche Notwendigkeit" zu bezeichnen, ist eine Äußerung, die in höchstem Maße menschenverachtend ist und einen nicht mehr zu beschreibenden Egoismus widerspiegelt. Wer eine solche Ansicht vertritt, der sollte einmal versuchen, sich in die Lage eines Menschen in der Dritten Welt zu versetzen, der dem Hungertod nahe ist und der dabei genau weiß, daß die Menschen in den Industriestaaten in einem Überfluß leben, den sie sich auf Kosten der Menschen in der Dritten Welt durch rücksichtslose Ausbeutung zusammengerafft haben. Dann würde derjenige ganz schnell seine Ansicht von der "marktwirtschaftlichen Notwendigkeit von Hungersnöten" ändern!

Eine solche Ansicht ist allerdings typisch für Leute, die vernünftiges Denken mit materialistischem gleichsetzen. Egoismus in Reinformat! Mit Leuten, die so eine Einstellung vertreten, über den Sinn des Lebens zu diskutieren etwa über den Sinn des Lebens eines hungernden Menschen in der Dritten Welt - scheint allerdings in der Tat ziemlich sinnlos zu sein. Denn da muß das marxistische Gedankengut logischerweise passen, während das christliche dort noch längst nicht am Ende ist. Aber dai sind wir wieder bei der "Sinn"-Frage, und diese schaltet ja angeblich den Verstand aus. Oder auch nicht. Denn genau hierin liegt der Widerspruch. Ein Leben nach der "Ratio" - dem Verstand, der Vernunft - auszurichten und zu gestalten, bedeutet automatisch das Hinterfragen nach dem Sinn, denn verstandes- und vernunftgemäß tut man doch das, was einem sinnvoll erscheint, lebt also gemäß diesem Handeln in Hinblick auf einen bestimmten Sinn. Dieser Sinn geht jedoch über den Verstand weit hinaus, ist verstandesmäßig nicht mehr zu erfassen. Nach so einem Sinn lebt grundsätzlich jeder Mensch, egal was er tut und wie er denkt. Für die Christen, die nach den christlichcn Werten und den Geboten Gottes leben, ist dieser Sinn "Glaube", und der Glaube seinerseits wiederum "Sinn". Auf diese Weise kann es für Christen in der Tat kein sinnloses Leben geben, egal unter welchen Bedingungen es gelebt wird. Und darum sind sie zu beneiden!

B.L., Gelscnkirchen

"Sinn" contra "Notwendigkeit": Die trostlosen Folgen des Trostes

Ein Mißverständnis kann man das nicht nennen. Es ist auch nicht so, daß der Hinweis auf die "marktwirtschaftliche Notwendigkeit von Hungersnöten" zu knapp oder unverständlich ausgefallen wäre. Sie haben im Gegenteil sehr wohl verstanden, daß hier eine der tagtäglichen Sauereien dieser Weltordnung mit einem Grund versehen wird, und allein schon dieses Ansinnen bringt Sie auf die Palme. Sie verwechseln zielstrebig die Behauptung einer Notwendigkeit - die nicht wir uns erdacht haben, die imperialistischer Handel und Wandel vielmehr in unschöner Regelmäßigkeit herstellt mit einem Gutheißen. Zu einer solchen Verwechslung kann man nur gelangen, wenn man vor jeden Gedanken - recht dogmatisch übrigens - ein Bekenntnis gesetzt haben will, nämlich daß man solche Erscheinungen furchtbar findet und als Mensch schwer erschüttert ist.

Wie wohlfeil ein solches Bekenntnis zu produzieren ist, scheint Ihnen nicht aufzufallen; daß von Xaver Löhner bis Ronald Reagan "alle Menschen guten Willens" dieses Bekenntnis wie aus der Pistole geschossen abliefern können halten Sie für normal, höchstens daß Sie mal die Sorge plagt, es könnte Scheinheiligkeit mit im Spiele sein. Empörenderweise läßt sich bei uns aber nicht einmal dieser Schein feststellen. Die Entlarvung der Amoralität des Verstandes - die Sie ganz sicher mehr aufregt als die heuchlerischen Moraltouren der Politiker, die man jeden Tag im Fernsehen bewundern kann; die bewegen sich ja immerhin noch in den Grenzen des Anstandes - ist damit ganz in Ihrem moralischen Sinne gelungen: Wer sich auf seinen Verstand verläßt, um einem Übel auf die Spur zu kaommen, der macht sich zum Parteigänger dieses Übels. Sie wären tolerant genug, "Ratio-"nelle Erklärungen auch zu akzeptieren, wenn sie sich dem Diktat des Bekenntnisses, der Zurschaustellung der betroffenen Menschenseele, vorab unterwerfen würden. Daß solche "Erklärungen" nichts taugen können, nur Bebilderungen eines Gemütszustandes sind, macht offensichtlich nicht nur nichts, sondern ist erwünscht. "Wahre" Vernunft zeichnet sich ja dadurch aus, daß sie in ihrem Gegenteil, einem nicht begründbaren "Sinn", aufgehen will. Der Beweis ist denkbar einfach: Das tut eh ein jeder - ob er will oder nicht, "egal was er tut oder denkt".

Dieser Rüffel für den Verstand hat Folgen, nämlich für die Gegenstände Ihres Mitgefühls. Sie meinen, sie vor unserem "Egoismus" in Schutz nehmen zu müssen - aber wohin führt diese Spiegelfechterei? Lassen wir das mit dem "Egoismus" einfach durchgehen; beharren wir nicht weiter darauf, daß die Beseitigung des Elends die Kenntnis seiner Ursachen voraussetzt; strapazieren wir auch nicht die Binsenweisheit, daß man mit dem Hinweis auf die Ursachen unmöglich einem Menschen schaden kann - so hat doch Ihr Kampf gegen unseren "Egoismus" immerhin die interessante Konsequenz, daß Ihnen als Argument nur der Vorwurf der "Sinnleere" einfällt. Grad so, als würden wir den hungernden Menschen das letzte Stück Brot wegklauen - eher noch schlimmer -erscheint Ihnen als höchste Gemeinheit, daß wir sie mit der Errungenschaft des "Sinns" absolut nicht behelligen wollen. Die Aufforderung, uns in die Lage eines solchen Menschen "hineinzuversetzen", soll uns in unmittelbarer menschlicher Verbundenheit vor Augen führen, daß dieser "Sinn" doch das einzige ist, was ein solcher Mensch hat, sein großes "Anstatt". Korrekterweise lassen Sie sich über den Inhalt dieses "Sinns" nicht weiter aus genügt doch für das Funktionieren dieses Dings völlig, auf die abstraktest mögliche Art jeden Scheißdreck in der Welt mit einem Schein der Berechtigung im Jenseitigen, off limits für den Verstand, zu versehen. Im Christentum ist das recht gut gelungen, mit sorgfältig ausgebildetem Personal im Dies- und Jenseits; aber einem aufgeklärten Demokraten gereicht es zur Ehre, sich seinen höchstpersönlichen Sinn auch ganz ohne altertümliche, leutselige Konstruktionen zurechtzulegen. Freilich bringt er es wie jeder andere Missionar auch ums Verrecken nicht fertig, sein Was-die-Welt-im-Innersten-zusammenhält für sich zu behalten; es drängt ihn zum Bekennen, und gerade die opfermäßigsten Existenzen in südlichen Breitengraden bieten ihm hervorragendes Material, mit seiner Sinnstiftung hausieren zu gehen.

Nichts zu fressen, den Tod vor Augen, aber in der BRD einen mitfühlenden Menschen, der weiß, daß alles irgendwo sein Gutes hat - das freut den Neger. Werter B.L.: Wir nennen so was den Zynismus der Moral.

Zuzugeben ist, daß Sie vorgesorgt haben, und zwar indem Sie sich selber unter die Schuldigen einreihen. Westdeutscher "Überfluß" verschafft Ihnen durch die simple Kunst des Vergleichens das unentbehrliche schlechte Gewissen. Von diesem sanften Ruhekissen herunter können Sie sich einerseits in wohlgefälligen Selbstanklagen ergehen - ein paar Blaue in die Gewissensparkuhren der Hungerverwalter lindern da so manches -, andererseits noch -viel Schuldigere ausmachen. Solche nämlich, die sich kein Gewissen machen. Spätestens in diesen Exemplaren entlarvt sich der letzte "Grund", auf den Sie ja auch irgendwie scharf sind: das Böse im Menschen.

Zugegebenermaßen sind wir an dieser Stelle etwas hilflos, da der Beschluß, sich in einer (höflich gesprochen) Tautologie einzurichten - lieber glaube ich an einen Sinn, denn sonst ist alles sinnlos -, gegen Kritik immun ist. Aber gesagt haben wollen wir zumindest, daß einem Hungernden mit den moraltriefenden Anbiederungen eines westdeutschen Selbstbezichtigers wenig gedient ist. Daß letzterer seinen Trost in solchen umständlichen Verfahren findet, ist genaugenommen sogar ein Schaden für den ersteren. Garantiert ist damit nämlich, daß die Einrichter und Profiteure der Marktwirtschaft weiterhin unbehelligt für die weltweite Gültigkeit ihrer Notwendigkeiten sorgen können. Man muß keine Ausflüge in die Dritte Welt unternehmen, um festzustellen, daß dies auch für einen Normalbewohner der 1. Welt nur schädlich ist.

MSZ-Redaktion