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160 Jahre Rezeptionsgeschichte
GOETHE UND KEIN ENDE
Daß Goethe mit seinem Faust einem sinnsuchenden Individuum literarisches Leben einflößte, hat ihm die Nachwelt nicht vergessen. Intellektuelle lieben offenbar die Darstellung der Höhen und Tiefen geistiger Selbstrechtfertigung, wie sie Faust stellvertretend für ihr wichhges Geschäft durchzieht: In der Gestalt des Faust wird ja so schön zur Anschauung gebracht, wie kompliziert es ist, der Welt einen höheren Sinn beizubiegen, und wie verantwortungsvoll dieses moralische Sinnbedürfnis ist.
Zu Lebzeiten des Meisters hatte schon Hegel sein zweifelhaftes Vergnügen an der "absoluten philosophischen Tragödie" (Hegel, Werke, Bd. 15, FfM 1970, S. 557), die Faust mit dem methodischen Bewußtsein einer um ihre Glaubwürdigkeit besorgten moralischen Haltung gemütlich absolviert. Wo so intensiv um eine sittliche Gesinnung gerungen wird wie in der Faust-Gestalt, fühlen sich Intellektuelle geistig angemacht und zu Hause - Grund genug für den Heroen-Kult, der um Goethe und sein Machwerk zelebriert wird:
"Goethe (war) zum Dichter des Menschlichen bestimmt", und in ihm soll "unser Volk... sein eigenes Wesen verklärt erblicken." (K. Grün, Goethe vom menschlichen Standpunkt, Darmstadt 1846, S. 14)
"Das Menschliche" stellt sich mit der Geste geistiger Verantwortung ein, die die Verklärer als Geist der Nation gepflegt haben wollen was Engels im übrigen zu der Bemerkung veranlaßte, daß "'der Mensch'niemand anders als der 'erklärte Deutsche' (ist)". (Marx-Engels-Werke, Bd. 4, S. 231) Die nationale Kulturpflege bringt im 19. Jahrhundert so sinnige Werke wie das des Professor Büchmann hervor, der 1864 den Zeitgenossen gleich die "Geflügelten Worte" aufschreibt, mit denen sie in allen Lebenslagen von Goethe und Co. etwas Passendes zitieren können:
"Grau, teurer Freund, ist alle Theorie" oder "Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan."
Das ist "faustisch" gedacht, kann unterdessen aber auch in der Professoralform eines Wilhelm Scherer daherkommen:
"Der größte Vertreter unserer Poesie, ein vielseitiger und glücklicher Forscher, beugt sich vor dem tätigen Leben... Er drückte in seiner tatenarmen Zeit die Sehnsucht nach Taten aus... Die Freude an seinen Dichtern gab einem zerrissenen Volke den einzigen gemeinsamen Besitz, in dem es sich stolz und kräftig fühlte... Das Nationalbewußtsein erstarkte; und was eben noch ein phantastischer Wunsch zu sein schien, ward beglückende Wahrheit." (W. Scherer, Geschichte der deutschen Literatur, Berlin 1882, S. 782)
Daß "der Geist" in praktischer Verantwortung steht - für diesen untertänigen Gedanken ist Goethe mit seinem "Faust" allemal gut. Den Scharen von Abiturienten und Studenten, die mit dem "Faust im Tornister" ins Feld gezogen sind, ist diese geistige Einstellung zur nationalen Schicksalsgemeinschaft schon immer geläufig gewesen. Die wissenschaftlichen Betreuer der Goethe-Kultur haben denn auch nichts anderes im Sinn, als den Volksgenossen Fausts Seelenlage schmackhaft zu machen:
"Der 'Faust' ist für die Menschheit geschrieben und längst in die 'Weltliteratur' eingegangen; aber nur ein Deutscher wird ihn ganz verstehen können, und das um so besser, je tiefer er sich in immer wiederholtem Ringen in das Werk einlebt: Dazu will ihm diese Ausgabe verhelfen." (R. Petsch, Goethes Faust, Leipzig 1925, 2. Aufl., S. 52)
Um das Publikum anhand des "Faust" in geistige Bescheidenheit einzustimmen, haben faschistische Interpreten nahtlos an ihre bürgerlichen Kollegen und mit diesen an Goethe anknüpfen können:
"Der größte Hymnus auf menschliche Tätigkeit ist Faust... Dem immer ins Unendliche strebenden Geiste war die beschränkende Tat... die letzte Stufe zum Unbekannten... Darum kann auch der geringste Mensch 'komplett' sein, wenn er sich 'innerhalb der Grenzen seiner Fähigkeiten bewegt'... Wer nicht inmitten von Maschinen und Eisenwerken... diesen Pulsschlag der empirischen Weltüberwindung fühlt, der hat eina Seite der germanisch-europäischen Seele nicht begriffen... Man denke an des hundertjährigen Fausts plötzlichen Ausruf:
'Die wenig Bäume nicht mein eigen
Verderben mir den Weltbesitz.'
Hier spricht nicht die Gier, den Besitz zum Wohlleben auszubeuten, sondern der Drang des Herrn, 'der im Befehlen Seligkeit empfindet." (A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts, München 1944, S. 260 ff.)
Dienen und Befehlen sind zwar nicht ganz dasselbe - der geistigen Überzeugung, in einen sinnreichen Weltenplan eingespannt zu sein, tut dieser kleine Unterschied allerdings keinen Abbruch. Nach 1945 gibt es denn auch nicht die geringste geistige Veranlassung, sich nicht weiter mit der Moral der faustischen Botschaft zu befassen. "Geistige Führer vom Range Goethes sind der Welt nur selten geschenkt worden", - ist das Originalton Baldur von Schirach, 1937, oder Benno von Wiese, 1949? Professor Fritz Strich hat sich 1964 jedentalls zu der intellektuellen Armseligkeit gläubiger Ergebenheit ins irdische Geschick vorgearbeitet:
"Ich nenne den Goetheschen 'Faust' eine Theodizee, eine Rechtfertigung Gottes dafür, daß es das Böse im göttlichen Weltplan gibt... Mephisto, der Feind allen Werdens, aller Verjüngung, allen Strebens, ist in Wahrheit der ewige Stachel zur ewigen Verjüngung, zum unendlichen Werden... 'Es irrt der Mensch', so lang' er strebt.' Aber das menschliche Streben, auch wenn es immer irgend geht, ist doch das göttliche Teil im guten Menschen und wird ihn letztlich doch in die Klarheit führen." (F. Strich, Zu "Faust I", in: Interpretationen 2, Deutsche Dramen von Gryphius his Brecht, FfM 1965, S. 95)
"Letztlich" haut den Verstand eben nichts um, wenn er nur willens ist, auf sich Verzicht zu tun und die Widrigkeiten des Lebens zu nehmen, wie sie kommen. Ziemlich ideologisch von daher auch die Bemerkung eines Herrn Keller von der Kölner Universität:
"Inzwischen ist Schreckliches geschehen. Faust wurde, bis zur Halbkenntlichkeit mystifiziert, zum literarischen Muster für einen verhängnisvollen nationalen Mythos. Davon sind wir Deutschen geheilt... Seit 1945 ist er endgültig entmythologisiert... Das Faust-Drama ist uns ferngerückt; daß seine Problematik gegenwartsnaah ist, zeigt ein Denkspiel...: Um seinem Forschertrieb leben zu können, läßt sich der Physiker Faust mit einer Diktatur, der modernen Form des kollektiven Bösen, ein." (W. Keller, Faust. Eine Tragödie (1808), in: Goethes Dramen, Neue Interpretationen, Stuttgart 1980, S. 244 f.)
Am Mythos des "Faust" wird munter fortgestrickt, was nicht zuletzt die Fülle "neuer Interpretationen" zeigt, die die "Problematik" des Stückes nie "gegenwartsnah" genug sehen können und dafür den "Forschertrieb" in die unseligsten Verstrickungen mit dem "kollektiven Bösen" bringen, auf daß er sich seiner Würmchenhaftigkeit bewußt werde. Und das heißt dann dem "Schrecklichen" der Zeit bis 1945 entgegenarbeiten in der es doch wahrhaftig das Verbrechen gegeben haben soll, den Faust seinen Kennern madig zu machen und zur "Halbkenntlichkeit" zu "mystifizieren".
Die Bewahrung der heutigen kulturellen Kuh "Faust" hat sich nicht zuletzt die "Kritische Theorie" des Theodor W. Adorno anglegen sein lassen. "Zur Schlußszene des Faust" schreibt dieser skeptische Sinnsucher in seinem unverwechselbaren Stil:
"...objektiv ist heute wohl alles verwehrt, was irgend dem Daseienden Sinn zuschriebe... Darum (!) sucht der Gedanke Schutz bei Texten... Das färbt sie (die Interpretation) als die Trauer, von welcher die Behauptung des Sinns nichts ahnt... Wer Goethe nicht unter die Gipsplastiken geraten lassen möchte,... darf der Frage nicht ausweichen, warum seine Dichtung mit Grund schön genannt wird... Es ist kein unvermitteltes von Unendlichezn, sondern geht dort auf, wo es ein Endliches, Begrenztes überschreitet... Vom gleichen Geist ist die karge und herablassende Belobigung Gretchens als der 'guten Seele, die sich einmal nur vergessen.'" (Th. W. Adorno, Noten zur Literatur II, FfM 1961, S. 7 ff.)
Adornos frommer Wunsch, mitten im objektiven Sinnverlust keinesfalls auf Sinn zu verzichten, treibt ihn zur reaktionären Beweihräucherung einiger blöder Phrasen, die Goethe beim moralisierenden Ausmalen seines Dramas eingefallen sind. Wen die "gute Seele" Gretchen mit "Trauer" erfüllt, der hat ein trostloses Vergnügen am "begrenzten" Erfindungsgeist des Dichterfürsten und "ahnt" darin fürchterlich viel Sinn - nur weil der nicht mit dem "Unendlichen" und dies ganz "unvermittelt" einherschreitet. Wie sollte das wohl auch gehen! Wenn hier einer etwas "überschritten" hat, dann Adorno die Grenzen des geistig Zumutbaren mit seinem unverwüstliehen Sinn-Willen, in moralischen Spruchbeuteleien "Gründe" für "Schönheit" zu entdecken.
Zum Goethe-Jahr 1982 sind die öffentlichen Lobhudeleien auf die dichterische Nr. 1 der Republik dann allerdings wieder weniger feinsinnig ausgefallen (vgl. MSZ Nr.3, 1982, "Ein Klassiker für sehwere Zeiten"). Von Löwenthal bis Martini - ein einziges konventionelles Bekenntnis zur geistigen Heimat, die der Altmeister "uns" bietet:
"Im Grunde sind wir alle kollektive Wesen; wie weniges haben wir und sind wir, was wir unser Eigentum nennen können. Das authentische Bewußtsein, als gemeinschaftliche Individualität, ist sich der Zugehörigkeit zu einer Nation und einer Kultur bewußt." (R. Löwenthal, Rede an der Universität Frankfurt)
Die Agitation der deutschen Professorenschaft für eine ideelle und moralisch notwendige Einbindung der "Individualität" ins große Ganze ist so unverfroren nationalistisch, daß sie seinerzeit auch von der Goethe-Festrede des Karl Carstens nicht übertroffen worden ist. Im Stammbuch deutschen Geistes stehen seither so unvergänglieh verbindliche Sichtweiscn wie die, daß der Wille zum "Positiven" den "Widerspruchsgeist aus Prinzip" überwinden müsse, das "Leben ein einzig Abenteuer" sei und "dem Realen" durch "vorgefertigte Ideologien" keinerlei "Gewalt angetan" werden dürfe. Mit seiner handfesten Ideologie tut Carstens zwar der Vernunft einigen Zwang an, dem abenteuerlichen Streben des Geistes der Republik hin zu ganz viel Realitätssinn hat er indes nur "positiv" zugearbeitet.
Seitdem sind schon wieder 5 Jahre ins Land gegangen, und die herausgeforderte deutsche Intelligenz hat keine Gelegenheit ausgelassen, ihren "unseren Goethe" als Sinnapostel herauszustellen. Zuletzt im Mai 1987 in den Münchner Kammerspielen. Einer der kulturkritischen Päpste der Gegenwart, Professor Joachim Kaiser, hat hier einen "virtuosen Entzauberungsversuch" (Süddeutsche Zeitung vom 2./3. Mai 1987) registriert: Faust als "kurioser Caligari", als "versoffene Beckett-Figur", die in der Szene "Wald und Höhle", wnhin "er sich als stiller, verzweifelter Säufer zurückgezogcn" hat, "zum Flachmann greift". Auch diese reichlich originelle Interpretation der Münchner Theaterleute macht jede Menge Sinn: Der Paradeintellektuelle der Deutschen, Faust, darf selbstverständlich im Panoptikum-Stil vorgeführt werden ("Wir ließen es uns in den Kammerspielen durchaus gefallen"), denn das zeigt 1., wie sehr "wir" ihn in jedem Knstüm wiedererkennen und lieben, 2. wie kongenial "wir" seinem geistigen Selbstverständnis gegenüberstehen, 3. wie frei die intellektuelle Moral ist, sich im Faust freundlich aanzuzweifeln, 4. wie verwerflich ein geistiger Habitus ist, 5. wie menschlich ein Intellektueller doch im Grunde ist, 6. wie lustvoll ein solches Eingeständnis sein kann, 7. wie verrückt diese verrückte Welt ist, in der "wir" leben, 8. wie kritisch "wir" bei alledem mit "uns" ins Gericht gehen, 9 wie schwer es heutigentags ist, den geistigen Standort der Menschheit zu bestimmen, und 10. wie gewissenhaft es ist, gerade solche "Entzauberungsversuche", die "allem Erhabenen ausweichen", zu versuchen und zu besuchen Da mag Herrn Kaiser alles ruhig ein bißchen "seltsam outriert gewirkt" haben ("der spirituelle Ernst fehlte weithin, statt dessen erlebten wir (!) entweder gefällige Buntheit oder (?) heftige, bis ins Denunziatorische reichende Kritik"), er sorgt ja selbst dafür, daß die geistige Botschaft des Intellektuellen-Dramas adäquat rüberkommt: Darf Faust "ein Schreihals ohne Zentrum" sein? Gewiß nicht. Also auf ins Theater und dem Faust sinnträchtige Rätsel abgelauscht? Es dauert knapp 6 Stunden.