Info
Streik bei VW in Mexiko
VOM RECHT AUF MINDESTLOHN
Wirtschaftsquellen melden für Mexiko eine Inflationsrate, die "über alle Projektionen hinaus geht"; für Juli aufs Jahr hochgerechnet beträgt sie 133,5%. Wer hier von Lohnarbeit leben muß, hat allein schon durch die segensreichen Einrichtungen der Weltwirtschaft eine Einkommensquelle, die ihm seine Lebensmittel Monat für Monat beschränkt. Einen automatischen Inflationsausgleich gibt es nicht. Den Arbeitern obliegt es, sich von den Unternehmen einen Ausgleich zu erstreiten. So haben, wie jeden Sommer, die mexikanischen Arbeiter bei VW einen Streik angefangen, um ihrer Forderung nach Inflationsausgleich von 100% also noch unter der offiziell bekanntgegebenen Inlationsrate liegt - Nachdruck zu verleihen. Die Firmenleitung hat in der diesjährigen Ausgleichsrunde dieses alljährliche "Ritual" mit einer Forderung nach Lohnsenkung prinzipiell angegriffen. Und die Regierungslinie gleich mit dazu.
Mexikanische Arbeiter haben nämlich auch ein amtlich verkündetes und bezifferts Recht auf ihren "Inflationsausgleich". Jedes Jahr legt die Regierung die Mindestlöhne neu fest. Weniger, um ihre Arbeiter vor Ruin zu bewahren, als um für den sozialen Frieden einen gerechten Bezugspunkt zu haben. Dieses Jahr sollen 23% das Bedürfnis nach angemessener Berücksichtigung befriedigen. Diese Anhebung der Mindestlöhne "gilt normalerweise als Empfehlung für alle Unternehmer."
"Um den zu erwartenden Forderungen der Belegschaft zuvorzukommen, reichte VW beim mexikanischen Arbeitsministerium eine "Demanda de orden Economico" ein, einen Antrag aus wirtschaftlichen Gründen. Darin forderte die Firmenleitung die Aussetzung aller Lohnerhöhungen bis Juli 1988, die Herabsetzung der Löhne um 15 Prozent, Halbierung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes sowie die Streichung weiterer Sozialleistungen und die Entlassung von 723 Arbeitern.
VW begründete den abenteuerlichen Antragskatalog mit "Problemen der Zahlungsfähigkeit" die zur "Schließung des Werks führen könnten", falls dem Ansinnen nicht stattgegeben würde. Außerdem sagt Martin Josephi, VW-Chef in Mexiko, "sind unsere Perionalkosten mindestens 50 Prozent höher als bei der Konkurrenz, bei den Zusatzleistungen liegen wir 300 Prozent darüber". Die VW-Arbeiter erhalten durch Urlaubs- und Weihnachtsgeld, eine garantierte Gewinnbeteiligung sowie die Pünktlichkeitsprämie (in Lateinamerika weit verbreitet) "insgesamt 136 Tageslöhne zusätzlich, bei der Konkurrenz sind das nur 46 Tage".
Inzwischen will VW auf die Reduzierung des Urlaubs- und Weihnachtsgeldes verzichten. "Aber wir müssen über die garantierte Gewinnbeteiligung und die Pünktlichtkeitsprämie sprechen", sagt Josephi. Letztere wurde vor Jahren eingeführt, als es noch Transportprobleme gab. Inzwischen "holen wir die Mitarbeiter von 58 verschiedenen Plätzen bis zu 60 Kilometer entfernt ab egal zu welcher Schicht", erklärt der VW-Boß. Angeblich macht das Werk in Puebla keinen Gewinn. "Da können wir doch keine Gewinnbeteiligung zahlen, meint Josephi. Es ginge doch nicht an, daß "der Aktionär leer ausgeht und die Arbeiter praktisch Dividende bekommen"." (Frankfurter Rundschau, 24.8.87)
Seinerzeit, als VW die ganzen "Sonderprämien" eingeführt hat, wird die Firma schon gewußt haben, warum sie den Lohn, den einer an ihren Fließbändern verdienen kann, in lauter Extra-Bestandteile aufgespalten hat. Heute will sie gleich die ganze Vertragsgrundlage ändern und ihre Arbeiterschaft ein Stück mehr auf einen tariflichen 'Normallohn' herabdrücken, der zwar einiges an Leistung garantiert aber überhaupt nicht darauf berechnet ist, daß der Empfänger mit ihm sein Leben bestreiten muß. Einmal an einen "modernen Arbeitsplatz" "gewöhnt", sind mexikanische Arbeiter mehr noch als ein deutscher Prolet auf Gedeih und Verderb an ihn gefesselt. Deshalb überlegt sich das fortschrittliche Unternehmen jetzt zu sparen und droht seinen "lieben Mitarbeitern" gleich ganze Abteilungen vom Lohn dauerhaft zu streichen. Die Macht dazu haben sie. Aktionäre und andere Devisenhändler werden es zu danken wissen.
Das Unternehmen läßt den Kampf der mexikanischen Arbeiter ins Leere laufen, indem es umdisponiert und die Produktion in anderen Werken rauffährt. Ein paar Dienste für den Gesamtkonzern werden von Puebla in Mexiko auch nach Kassel in Deutschland verlagert. Dort werden mit dem sozialfriedlichen IGM-Betriebsrat ein paar Sonderschichten ausgehandelt, und schon läuft der Konzernladen. Bei der dritten Sonderschicht sagt der Betriebsrat dann schon mal "Nein!" und tönt mit Solidaritätsphrasen durch die Fernseher - bis die Firma ihn an seine Pflicht erinnert, die "betrieblichen Notwendigkeiten" über alles zu stellen. Dies ist einer der Wege, wie ein deutsches Weltunternehmen mit deutschem Arbeiterfleiß auch noch sein mexikanisches Menschenmaterial fertigmacht.
Jetzt bekommen die VW-Arbeiter doch 78% Lohn"erhöhung". Der Solidarität des DGB haben sie das wohl nicht zu verdanken; die galoppierende Inflation hält das auch nicht auf; die Einkommen dürfen in gebührendem Abstand hinterhinken; das Unternehmen hat auf seine Zusatzansprüche nicht verzichtet, sondern sie zurückgestellt. In Mexiko heizen nicht Arbeiter, sondern deutsche Unternehmen Arbeitskonflikte an und "geben" dann schließlich "nach". Im geheuchelten Mitleid deutscher Zeitungen spiegelt sich der Erfolg - jedenfalls, was die Not der mit einem der raren Arbeitsplätze Beglückten angeht: "Der Lohn eines halben Tages reicht gerade für das Brot... Seit 1980 fielen ihre Realeinkommen um 45 Prozent." Daß solche Verhältnisse nur das Spiegelbild der allergerechtesten und allersozialsten sozialen Marktwirtschaftsverhältnisse, deutschen Unternehmergeistes, deutschen Arbeitsfleißes und deutscher Lohnbescheidenheit sind; daß es sich also um gewöhnliche Ausbeutungsverhältnisse handelt - das will die Frankfurter Rundschau natürlich nicht behauptet haben.