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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1987 erschienen.

Zur politischen Psychologie des Rüstungsschachers namens Null-Lösung
EIN BISSCHEN FRIEDEN?

Erst einmal nur ein bißchen Lob für die Supermächte. Dafür, daß sie vorhaben, demnächst ihre Null-Lösung zu unterschreiben. Auch ein bißchen herzlichen Glückwunsch an die Menschheit, die allzeit hoffende und friedliebende. Nun war es doch nicht so verkehrt, daß sie sich seit fast 50 Jahren zwei Staatsgewalten leistet, die dank ihrer Waffen zu allem in der Lage sind, was Sicherheit gibt außer zu einem militärischen Sieg über die andere Seite. Denn jetzt haben sie es eingesehen, erstschrittsfähig, für den Anfang, was jedes Kind aus der Zeitung, vom Verteidigungsminister oder von der Friedensbewegung weiß: die ganz große Weltpolitik, in der zwei Militärblöcke ihr Kräftemessen organisieren, unterliegt einem heilsamen Zwang: "Im Zeitalter des Atomkriegs ist Krieg kein Mittel der Politik mehr" - oder so ähnlich. Glauben freilich tut es keiner so recht, und der mit der Null-Lösung konstatierte Erfolg bewirkte auch keinen Freudentaumel, der einem "Durchbruch" angemessen wäre. So weit ist es nämlich keineswegs gekommen, daß die gelobte, vom Kräfteverhältnis, von der Abschreckung, vom atomaren Winter gar erzwungene Vernunft gesiegt hätte. Über die Logik einer Politik, die auf Freiheit abonniert ist und keinen Zwang leidet, der nicht von ihr ausgeht.

Dieselben, die das Lob spendieren, relativieren es deshalb auch. Sei es mit dem "ersten Schritt", sei es mit "bloß 3%", gelegentlich mit der Aufzählung von Bedingungen, welche die Russen erfüllen müssen, damit es weitergeht, das Abrüsten. Und ganz locker mit dem Programm der allemal fälligen oder jetzt gerade notwendigen Aufrüstung.

Strategie und Frieden

gehen wunderbar zu verwechseln. Vorausgesetzt ist dabei nur die Bereitschaft, die Kriegsberechnungen und die entsprechenden Rüstungsfortschritte daran zu messen, was sie nicht leisten, aber nach den Plänen von Politik und Militär zu leisten hätten. Der Nachweis, daß mit dem akkumulierten Kriegsgerät dem Osten nicht beizukommen sei, fällt nicht schwer, wenn es so ist. Die Strategen der NATO haben diese Ohnmacht zu allen Gelegenheiten selbst kritisiert - und die praktische Selbstkritik als Aufrüstung betrieben. Daß sich die Russen auf demselben Gebiet keine sozialistische Mißwirtschaft geleistet haben, steht für sie ziemlich fest. Es hat die demokratischen Sicherheitsbeauftragten außer zum Weitermachen sogar dazu beflügelt, den Vergleich der Waffen mit dem Osten zu besprechen, über Rüstungskontrolle zu verhandeln, obgleich Waffen außerhalb des Geschäfts mit ihnen eigentlich ein sehr unpassender Vertragsgegenstand sind. Mit der Rüstungsdiplomatie sind dann so markante Zielsetzungen wie "Stabilität durch Gleichgewicht", "Gleichgewicht der Abschreckung" etc. in die Welt gekommen und das jeweils erreichte Kräfteverhältnis war die Bedingung und Sicherung des Friedens. Der Schein, daß es mit dem Rüstungsschacher um Frieden geht, stammt aus dem Umstand, daß selbst ein Russe nicht so blöd ist, ohne Anerkennung und Zugeständnisse zu verhandeln. Seitdem wird nach einem Aufatmen signalisierenden Gemeinspruch "geredet statt geschossen" - was zur endgültigen Verwirrung der demokratischen Keuschheit enorm beigetragen hat. Die hat nämlich das "statt" nicht als das Eingeständnis von Leuten genommen, die bei Reden über Waffen an deren Gewicht im Vergleich denken; vielmehr hat sie die über den "Rüstungswettlauf" zustandegekommene Ohnmacht in Sachen kriegerischer Erfolg zum Argument gegen das Rüsten überhaupt befördert. In Ansehung eines aktuell unbrauchbaren Mittels ist manchem der Gedanke lieb und teuer geworden, man könne es auch wegwerfen und eben darüber reden.

So richtig schön ist dieser Gedanke dann geworden, als das Versagen der Kriegsmittel vor den durchaus bekannten Vorhaben ihrer Beschaffer mit Beweisen belegt wurde. Diese Beweise bewegten sich dank ihrer wohlkonstruierten Glaubwürdigkeit sämtlich auf der Schiene untertäniger Heuchelei. Die angewandte Psycho-Logik verstand sich nämlich auf lauter Argumente, die aus wirklichen wie erfundenen Mängeln der Rüstung die Notwendigkeit des Friedens ableiten. Die Lüge vom Zwang der Vernunft, die aus den Waffen kommt und zur Abrüstung drängt, zirkulierte in zig Fassungen - und trug einiges zum Lob der "Abschreckung" und ihrer Organisatoren bei (natürlich nichts zur Feier der russischen Atommacht). Dies schon deswegen, weil das pure Argument des Typs: "Seht ihr, in Washington und Bonn, die gesamte Aufrüstung von 35 Jahre bringt gegen die ebenfalls vor-, nach- und mitrüstende Sowjetunion nur jeweils neue höhere Stufen der Abschreckung ohne Vorteil!" nur das Ärgernis derer ausgedrückt hätte, die da auf Abhilfe sinnen. Fällig war ein garantiert keimfreier Beweis, der keine Verwandtschaft mit der sowjetischen Drohung und den sie begleitenden rüstungsdiplomatischen Offerten erkennen ließ. Eine im besten Sinn des Worts sachfremde Überzeugung mußte dargelegt werden, um den Betreibern der Rüstung deren Überflüssigkeit und Schädlichkeit nahezubringen. Eben dieses Messen der Rüstung an Maßstäben, auf die sie gar nicht berechnet ist, hatte dann Konjunktur:

- die Kosten und die guten Taten, die mit dem Geld gingen

- die nukleare Katastrophe samt minutiös berechnetem Temperatursturz

- die Möglichkeit einer Ersatz-Verteidigung, der "sozialen"

- die Imitation von vergleichendem Zählen und "overkill"

- die Computer mit ihrer notorischen Unzuverlässigkeit etc. etc.

Die Zurückweisung dieser friedensbeflissenen Politikberatung fiel den Anwälten der NATO nicht schwer: Sie bestanden schlicht auf der Unwahrheit, daß es ihnen genauso wie allen Kritikern um den unabdingbaren Frieden gehe - und der wäre samt den Kritikern ohne die von ihnen ins Werk gesetzte "Abschreckung" nicht zu haben Den heilsamen Zwang zum Frieden verbuchten sie auf ihr Konto, wobei sie es ablehnten, einen Beitrag zu diesem Zwang auch dem Osten zuzugestehen - obgleich der viel zur "Abschreckung" beisteuert.

Reykjavik

Einer ganz anderen Bemühung, sie von der Fortsetzung ihrer strategischen Kalkulation, also von erfolgversprechender Aufrüstung abzubringen, sehen sich die Regierenden der freien Welt in den Verhandlungen mit dem Osten gegenüber. Zumindest seit jenem denkwürdigen Treff auf Island, als der neue Chef der SU den Vorschlag unterbreitete, einen neuen Typus von Verhandlungen zu absolvieren. Ohne sein einziges schlagkräftiges Argument groß zu betonen, hat Gorbatschow es in Anwendung gebracht: Die Russen haben die Abschreckung auf stets erweiterter Stufenleiter mitverbrochen, weil sie sich der Feindschaft des Westens erwehren wollen; und sie werden - wenn es sein muß - weiterhin genauso verfahren. Allerdings sehen sie keinerlei Vorteil darin, halten sie ein immer wuchtigeres Abschreckungsszenario für schädlich und bitten die USA, dies in ihrem Interesse genauso zu sehen. Statt ewig nur Ermittlungen über die militärischen Fähigkeiten der anderen Seite anzustellen; statt Rüstungskontrollverhandlungen zu führen und in vergleichenden Berechnungen des gegnerischen Kriegspotentials den Willen zur Überlegenheit zu begutachten nach dem Stand der angeschafften und geplanten Wuchtbrummen -, sollte man zu tatsächlicher Abrüstung übergehen. Der Vorteil eines vereinbarten Patt auf immer niedrigerer Ebene wäre ebenso enorm wie zweiseitig - meinte Gorbatschow -, und er ist auf Granit gestoßen. Denn daß sich mit solchen Abrüstungsverfahren das SDl-Projekt der einseitigen Friedensstiftung nicht verträgt, hat er auch noch erwähnt.

Die amerikanische Ablehnung war einerseits eindeutig - SDI steht nicht zur Disposition -, andererseits milde: Selbst die Pentagonvertreter wollten vermeiden, daß die Russen die Reaktion wie die Ablehnung eines Ultimatums auffaßten. Deshalb auch Lob für die "Initiative", sowie das Versprechen auf Berücksichtigung aller Möglichkeiten echter Abrüstung - freilich jenseits eines Verzichts auf SDI. Das hat die Russen etwas brüskiert, zumal der westliche Chor im Wechselgesang das Lied vom "Paket" anstimmte, das in Moskau "aufzuschnüren" wäre; dem Willen zum Abbruch des "Wettrüstens" die Ablehnung eines "Junktims" entgegenzuhalten, ist in Moskau durchaus als nicht sehr freundlich empfunden worden. Die demonstrierte Unsicherheit darüber, ob es sich überhaupt noch lohnt, mit den fanatischen Betreibern amerikanischer Überlegenheit zu verhandeln - immerhin eine Konsequenz aus dem "entweder-oder" von Reykjavik -, hat sich ein paar Wochen hingezogen.

Die Rüstungsdiplomatie stand also durchaus in Frage. So daß alle Vertreter des menschlichen Imperativs "Frieden tut not!" alle Hände voll zu tun hatten, die "historische Chance" davor zu retten, verpaßt zu werden. So wurde jedenfalls im Westen die Weigerung der USA, ihren strategischen Willen aufzugeben, der Kritik entzogen.

Die Null-Lösung

ist mit Sicherheit keine Frucht des Gerüchts, Friedenschancen dürfe man nicht auslassen - und ein amerikanischer Präsident sei darauf angewiesen, "Erfolge" vorzuweisen, weil er sich in der Bekämpfung des "internationalen Terrorismus" blamiert habe. An der wohlfeilen Deutung der US-Politik als mehr oder minder friedenssichernder Veranstaltung läßt sich das Pentagon garantiert nicht messen. Eher schon liegt man richtig, wenn man hier den erzdemokratischen Blödsinn vermutet, der selbst in Rüstungsfragen eine enorme Abhängigkeit der Regierung in Washington von des Volkes Meinung entdeckt. Denn der Vorwurf, an entscheidender Stelle nachgegeben zu haben, läßt sich von einem Reagan bestimmt nicht dadurch entkräften, daß er jetzt schon wieder versöhnlich wird - dazu noch gegenüber dem "Reich des Bösen".

Die Berechnungen sind wieder einmal anders aufgegangen. Die USA haben dem Bedürfnis nach wirklichen Schritten der Abrüstung entsprochen, weil sie zeigen wollten, daß ihr Beharren auf SDI keine Aufkündigung der Bereitschaft bedeutet, auf die SU auch einzugehen - diplomatisch. Und die SU hat sich zu der Auffassung durchgerungen, daß der Versuch, die Amis mit den Angeboten von Reykjavik von SDI abzubringen, gescheitert ist; so daß für sie ebenfalls die Entscheidung für Abbruch oder zugunsten einer leidlichen Fortführung der Diplomatie mit "konkreten Teilerfolgen" anstand. So und nicht anders haben sie sich geeinigt, die Gangster von der Friedensfront. Die NATO-Amis sind zu der Überzeugung gelangt, daß die Euro-Raketen als Bedrohung, damals mit dem "Doppelbeschluß" und nicht ohne Kosten eröffnet, keine entscheidende Rolle im Streben nach Überlegenheit gebracht haben. Ihre Partner vor Ort sehen zwar jede Menge Probleme heraufziehen - sie haben schließlich gewonnenes Gewicht in der Ost-West-Konfrontation eingebüßt -, aber die matten Querelen unter den NATO-Nationalismen lassen sich gut überstehen für die Weltmacht Nr. 1. Immerhin hat sie, ihr SDI vor Augen, dieses den Russen hart als Verhandlungsgegenstand verweigert und somit die große Option nicht vergeigt - ohne eine "Eiszeit" einzuläuten! Die Ostblock-Russen geben eine Option auf gegenüber Europa als aufstrebender Kriegsmacht, schnüren ihr blödes"Paket" auf - aber immerhin haben sie eine Option weniger zu gewärtigen und können die Unbrauchbarkeit eines unfertigen SDI sowie anderes mit den eigenen Fähigkeiten samt Abrüstungswillen konfrontieren.

Es geht also weiter. Die Rückkehr zum Rüstungskontrollgebaren war für beide Seiten die vorzuziehende Lösung. Das Novum besteht darin, daß der Verzicht auf ultimatives Gehabe bzw. auf seine Konsequenz wirkliche Waffen - die alles andere als unbrauchbar sind - zu einer Verhandlungsposition hat werden lassen. Kosten erspart das nicht, es macht welche von der Fortsetzung der Rüstungsbemühungen hier wie dort ist ja genausoviel die Rede wie von der "Abrüstung". In Sichtweite ist letztere freilich nicht.

Und die Anwälte des unausweichlichen Friedens

wissen nicht mehr so recht, was sie sagen sollen. Einerseits sind sie nach eigenen Angaben enorm "gelähmt". Gorbatschow, so hört man, habe sie mit seinen Forderungen - die ja aus dem Munde einer Weltmacht so "realistisch" sind, wie die Null-Lösung zeigt - einfach aus dem Felde geschlagen. Zusammen mit den Amis bedient der neue Russe glatt den Idealismus des Abrüstens - und die eigenen Herren bekräftigen ihren Realismus des Aufrüstens, der zu Abrüstung und Frieden führt. Sie erledigen ja Reykjavik und den Doppelbeschluß. Mehr als daß die ehemals guten Gründe des Protests zuschanden geworden sind, daß die Glaubwürdigkeit der Friedens-Opposition dahin ist, fällt den Verwechslern von Strategie und Frieden nicht ein. So können sie sich mit ihrer Rolle und Funktion in der Welt befassen. In der Welt von Krieg und Frieden haben sie ohnehin nur eine Rolle gespielt: Sie waren nützliche Idioten der westlichen Friedens- und Abrüstungslüge, der Demokratie, die sich die Illusion gerne gefallen läßt, bei ihren Waffen ginge es allemal um Frieden. Auch in Gestalt des Vorwurfs, einmal wäre es nicht so gewesen.

Jetzt stehen sie da, die Entdecker des Friedens (und seiner Vernunft) bei der Betrachtung des Atomwaffenarsenals. Und wundern sich, daß ihnen trotz jeder Menge Verdacht und Mißtrauen die guten Gründe für ihre Scheiß-Bewegung ausgehen. Das liegt gewiß nicht daran daß die NATO eine Friedensbewegung ist.