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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1984 erschienen.
Warum "Revanchismus" zu Recht in Anführungszeichen steht
DER REAL EXISTIERENDE REVANCHISMUS
Wird die unschuldige BRD zu Unrecht mit Dreck beworfen? Wird eine ganz untadelige Friedenspolitik übler Absichten bezichtigt, nur weil Moskau um seine Vorherrschaft bangt? Geht es um ein "normales" Verhältnis der beiden deutschen Staaten um der Menschen willen, das der Kreml nicht dulden will? Oder rollt die "Propagandawalle" nur wegen des Ärgers über den mißlungenen Versuch, Europa unter das Diktat der SS 20 zu stellen? Kohl, Genscher und Co. strotzen vor Unschuld. Regierungs- und sonstige Sprecher rufen - wen eigentlich? zu Mäßigung, Besonnenheit, Zurückhaltung auf. Allgemein gilt, die sowjetischen Vorwürfe seien völlig gegenstandslos. Wie kommen sie nur darauf? Rätselraten.
Eindeutige Zurückweisungen des "Revanchismus"-Vorwurfs
Die Position der BRD ist doch so klar wie gerecht! Was haben die Russen eigentlich dagegen, daß die BRD rüstet, und zwar unübersehbar für ein Programm, das auf die Sicherung gegen mögliche Überfälle der Nationalen Volksarmee garantiert nicht berechnet ist? Dürfen Bonner Politiker etwa eine Gelegenheit auslassen, sich auf ihren Grundgesetz"auftrag" zu verpflichten, die "deutsche Frage" zu lösen, also der DDR ein Ende zu bereiten? Ist es nicht recht und billig, daß für jeden deutsch-deutschen Verhandlungsfortschritt der DDR ein politischer Preis abverlangt wird, daß Kredite als ökonomische Hebel eingesetzt werden, um sich "in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen"? Ist es schließlich verwerflich, daß diese Unternehmungen darauf zielen, "die sozialistische Ordnung in der DDR zu untergraben", auch wenn hiesige Politiker dafür andere Vokabeln verwenden: "Wandel durch Annäherung", "Liberalisierung", "Normalisierung"...
Nein, die Sowjetunion "liegt neben den Realitäten", verkünden unsere Politiker und bedienen sich zielsicher des sowjetischen Fehlers. Solange die Russen die "Gefahr" des Revanchismus in "Kreisen" und "Kräften" wittern, welche Einfluß auf die gültige Bonner Politik nehmen; solange die Vorstellung eines nationalen Kraftakts zur "Wiedereingliederung" verlorener Gebiete im Kreml die Runde macht; solange schließlich, wie die Sowjetunion die praktizierten Angriffe auf ihren verbündeten Staat unter "friedlichen Handel" einreiht, um bei der Verkündung der politischen Ideale der BRD umso lauter aufzu jaulen, so lange können sich die Männer der 'Wende' wie ihre Vorgänger lauter Unbedenklichkeitsbescheinigungen ausstellen. "Revanchismus" können sie beim besten Willen keinen entdecken in der Bundesrepublik, allenfalls "die eine oder andere winzige Gruppe, die schrille Töne von sich gibt. Aber das ist im Regelfall keine Frage der Politik, sondern eine Frage der Medizin." (Kohl). Das Programm der deutschen Einheit aber hat schon deswegen nichts mit Revanchismus zu tun, weil es sich dabei um eine Rechtsposition der BRD, siehe Grundgesetz, handelt: "in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden." Was kann es also dagegen einzuwenden geben?! So unverschämt ist das Selbstbewußtsein der Republik, daß der Revanchismusvorwurf einfach mit dem Hinweis auf die Mittel zurück gewiesen wird, mit denen dem feindlichen Block Schwierigkeiten aller Art, und zwar durch die BRD, bereitet werden. Und diese Mittel - von Techniken einmischungsträchtigen Geschäfts bis zur Ausstattung mit Gewalttragen dazu längst schon den Namen Friedenspolitik! In ganzen zwei Sätzen und mit einem beleidigten Augenaufschlag ist Kanzler Kohl beim Kern der Sache:
"Krieg und Gewalt sind keine Mittel der Politik, und die Bundesrepublik will einen Beitrag zum Frieden leisten, aber zu einem Frieden zu einer für uns entscheidenden Bedingung - das ist Frieden und Freiheit. Beides gehört zusammen."
Nach-Nachrüstungsangebote an die östlichen Nachbarn
Seitdem die Bundesrepublik eine Zweitausgabe des US- Raketenpotentials auf ihrem Territorium stationiert hat, demonstriert sie dem Osten gegenüber auffallend viel Bereitschaft, von dem Raketenthema abzusehen und für Entspannung und Frieden zu wirken. Die bis zur Stationierung geltende Heuchelei: 'Nachrüsten, nur um umso besser abzurüsten' hat dabei bezeichnenderweise abgedankt. In Moskau hat Kanzlerberater Teltschik den heutigen Sinn der "Nach"rüstung erklärt:
"Die Westeuropäer haben mit dem Beginn der Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen bewiesen, daß sie ihren Anspruch auf gleiche Sicherheit durchzusetzen bereit sind. Um nichts anderes ging es. In der Tat wäre es absurd zu glauben, die Sowjetunion durch Rüstung an den Verhandlungstisch zwingen zu können."
Bloß "gleiche Sicherheit" hat man sich also verschafft - gleiche Sicherheit mit der Führungsmacht des gegnerischen Blocks! und auf dieser Grundlage befindet die kleine BRD, daß es doch ein Fehler wäre, "die Beziehungen auf das Raketenthema zu verengen" (Windelen). Im Klartext: Die Sowjetunion hat die europäische Aufrüstung hinzunehmen und ansonsten die friedlichen Beziehungen zum Westen fortzusetzen - zu den Konditionen, die man hier aufstellt. Das heißt "Schadensbegrenzung". Gerade mit ihrem Rüstungsprogramm, das im übrigen ja auch längst noch nicht perfekt ist, sieht die BRD nicht den geringsten Grund, auf die Anwendung ihrer anderen, "friedlichen" Methoden zur Aufweichung des feindlichen Blocks zu verzichten. Als Antwort auf die sowjetischen Vorwürfe möchte Außenminister Genscher, nachdem Reagan und andere NATO-Führer vor einiger reit die Entspannung für ziemlich bis ganz tot erklärten, jetzt auf einmal wieder ein großes Entspannungsprogramm lancieren:
"Der Versuch der Sowjetunion, Westeuropa ihr militärisches Entspannungskonzept ohne gleiches Recht auf Sicherheit aufzunötigen, ist gescheitert. Umgekehrt wäre es auch falsch, wenn der Westen die notwendige Festigung seiner militärischen Sicherheit als ausreichendes Mittel zur Lösung der West-Ost-Probleme betrachten würde. Wir haben uns bei der Nachrüstung dafür eingesetzt, daß der Westen nun nicht zu einer Politik der Stärke übergeht, sondern dem Osten eine langfristige Zusammenarbeit auf vielen Gebieten anbietet. Je früher die Sowjetunion die darin für sie liegenden Vorteile erkennt, desto besser. Doch muß Moskau zu dieser Erkenntnis von allein gelangen. Westlicher Vorschlagsaktionismus wirkt da eher hemmend... Jetzt ist die Zeit reif für einen neuen Versuch, eine breit angelegte, langfristig tragfähige Entspannungsregelung zwischen West und Ost auf der Grundlage des Gleichgewichts und der Gleichberechtigung zustande zu bringen."
Keine "Politik der Stärke" - die Sowjetunion muß bloß die zweite gegen sie aufgestellte Raketenfront als unabänderlich akzeptieren! Und solange sie darauf besteht, daß die Raketen zurückgenommen werden müßten, wenn die Ost-West-Beziehungen nicht leiden sollen, setzt die friedliche BRD sie schlicht dadurch ins Unrecht, daß sie nach Kräften für gute Beziehungen zu den Satelliten sorgt. In diesem Sinne beglückwünschen sich die bundesrepublikanischen Politiker zur ersten Kreditinszenierung mit der DDR regelrecht wie zu einem gelungenen Test auf den Erfolg der eigenen Politik der Stärke:
"In dieser Lage war der Kreditwunsch der DDR durchaus hilfreich. Durch die Garantie konnte die neue Bundesregierung signalisieren, daß sie bei konsequenter Wahrung der Sicherheits- und Bündnisinteressen der Bundesrepublik Deutschband durchaus bereit sei, mit der DDR zu kooperieren.
Nach allem, was wir wissen, ist das Signal auch so verstanden worden, zumal in der Kreditannahme auf dem Höhepunk t der Anti-Nachrüstungskampagne ja ein Eingeständnis der DDR lag, daß die Welt nach dem November nicht zu Ende gehen würde, was sich ja dann auch bestätigt hat...
Betrachte ich nur die DDR, so wäre es für deren innere und wirtschaftlich-finanzielle Lage in der Tat höchst unvernünftig, ja gefährlich, die Verbindungen und die Zusammenarbeit nach Westen abzuschneiden... Insgesamt möchte ich aus dem Beispiel Nachrüstung die Lehre ziehen: Die wirtschaftlichen und stabilitätspolitischen Interessen des Sowjetblocks verwehren diesem augenscheinlich, nach Belieben zwischen den Optionen friedliche Koexistenz oder Kalter Krieg hin- und herzuwechseln." (Windelen)
Ein schönes Eingeständnis davon, daß unsere Politiker nur zu gut wissen, mit welchem Kaliber von Aufrüstung sie die Sowjetunion konfrontiert haben! Grund für einen "Kalten Krieg" wären die Raketen durchaus - und jetzt werden die Führungsmacht wie ihre Satelliten auf ihre Bereitschaft überprüft, ihn auch zu eröffnen. Die in der "Entspannungsperiode" geknüpften Beziehungen, die anders gelagerten Interessen der Ostblockstaaten werden ausgenützt, um ihnen zu demonstrieren, daß sie sich wegen der Raketen eine Verschlechterung der Beziehungen zu ihrem eigenen Schaden nicht leisten können. Sie sollen im Gegenteil der BRD weitere ostpolitische Erfolge verschaffen. Das heißt dann "ein Geflecht von Beziehungen" schaffen, wiederum eine enorm friedenspolitische Angelegenheit:
"Gerade in einer Phase der Abkühlung zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion können konstruktive bilaterale Beziehungen in Europa wie ein Sicherheitsnetz zwischen Ost und West wirken. Sie verhindern, daß alle geknüpften Verbindungen, oft mühsam genug zustandegebracht, reißen." (Teltschik)
Man möge nur kurz einmal davon absehen, daß und wie die BRD maßgeblich an der Herstellung dieser Abkühlung beteiligt war. Unsere Politiker erheben nachgerade einen Rechtsanspruch darauf, ihre in den Jahren der Ostpolitik erworbenen Mittel zur Einflußnahme auszubauen, und zwar in eindeutiger Absicht: Das Bekenntnis, "Verbindungen" am "Reißen" "hindern" zu wollen, unabhängig davon, was die Beteiligten vorhaben, ist ein Bekenntnis zur Schaffung von Abhängigkeiten; und zwar auf der anderen Seite; Abhängigkeiten, die deren Kalkulationsfreiheiten einschränken.
Gerade als wollte man die östliche Beschwerde, durch einen Raketenzaun ließe sich schlecht miteinander reden, offensiv dementieren, behandeln BRD-Politiker die Raketen als den allerbesten Grund, die Beziehungen immer noch enger zu knüpfen. Und gelogen daran sind nur das "leider" und die Beschwichtigerrolle der BRD angesichts der "kühlen" Zeiten. Umgekehrt stimmt's: Warum soll mit den Raketen das Erpressungsgeschäft gegenüber dem feindlichen Block in allen anderen Sphären nicht umso besser laufen?
Deutschlandpolitische Kontinuität
Daß bei diesen Bestrebungen die DDR der gesuchteste Adressat ist, daß Ex-Kalte-Krieger wie Strauß, die noch vor ein paar Jahren die DDR nicht einmal überflogen hätten, um ihr nicht unversehens ein Stück Anerkennung zu erweisen, nunmehr pausenlos dort landen und Geschäfte "einfädeln", paßt vorzüglich ins Bild. Seit die BRD sich daran gewöhnt hat, die DDR vorläufig quasi anzuerkennen, steht die Deutschlandpolitik auch unter dem Titel "die Folgen der Teilung erträglicher machen". Das heißt entgegen dem beabsichtigten menschenfreundlichen Mißverständnis 1. das nationale Bewußtsein einer Teilung als eines zu beseitigenden Grundübels dauerhaft zu pflegen und 2. die Beziehungen zu diesem Gebilde auszubauen, um an möglichst vielen Stellen in das andere deutsche Staatswesen hineinzuregieren und in der Form die Zuständigkeit für die andere Hälfte immer weiter auszudehnen. Und seitdem die Christen regieren, blaniieren sich die sozialdemokratischen Erfinder dieser Politik gründlich mit ihrem Verdacht, ihre "mühsam geknüpften Verbindungen" würden nun von den "Ewiggestrigen mit ihren Berührungsängsten" ruiniert. Von wegen! Auf die Möglichkeit, die eigenen Interessen andernorts nachhaltig zur Geltung zu bringen, verzichtet kein verantwortungsvoller Staatsmann nur wegen früher einmal bevorzugter Stilmittel. Die Christen haben es nachgerade als ihr ostpolitisches Geschäft entdeckt, einerseits die gesamtdeutschen Rechtspositionen ohne jede "Ist-nicht-so-ernst-gemeint"-Attitüde hochzuhalten und andererseits der DDR immer mehr Zugeständnisse in Sachen Grenze, Staatsbürgerschaft, Umgang mit Staatsfeinden, ideologische Unterwanderung - lauter Fälle von Aufweichung der realsozialistischen Gesetzlichkeit - abzuhandeln. Sie weisen lauter Erfolge vor mit dem Gestus: Da seht ihr, die Politik der Härte zahlt sich aus! Die deutsche Frage kommt voran - mit den Raketen!
Wobei allerdings die DDR, also ausgerechnet das jahrzehntelang beschimpfte sozialistische Unwesen auf deutschem Boden, ganz entscheidend dafür zuständig ist, daß diese Erfolge zustandekommen. Denn so, daß die bundesrepublikanischen Forderungen so menschlich und gerecht sind, daß sie einfach erfüllt werden müssen, oder daß ein Honecker, weil er nun einmal ein Deutscher ist, gar nicht anders kann, als mit uns zu können, - so ist es ja nun auch nicht.
Die DDR: Die Westpolitik einer überaus "gefestigten sozialistischen Menschengemeinschaft"
Der zweite deutsche Staat, dessen Existenzberechtigung die BRD seit jeher bestreitet, woran sich bis heute nichts Grundsätzliches, sondern allein die Methoden geändert haben, der zweite deutsche Staat, der zu Beginn der Entspannungspolitik von seiner Vormacht zur Aufnahme von Beziehungen mit der "revanchistischen" BRD regelrecht gedrängt werden mußte, hat offenbar Gefallen daran gefunden. Die Politik der "menschlichen Erleichterungen", die der DDR lauter Auflagen bezüglich eines der BRD-Politik genehmen Umgangs mit dem eigenen Staatsvolk macht, nehmen die SED-Politiker offensichtlich auf ihre Weise: Weil die politische Einflußnahme nicht ohne politische Kontakte, Besuche, Verhandlungen, Verträge, kurz: gute Beziehungen zu haben ist, behandeln sie das schlicht als Aufwertung ihres Staatswesens. Sie nehmen die zunehmende Besucheranzahl aus dem Westen mit Genugtuung zur Kenntnis, als Beweis dafür, daß an ihrer blitzsauberen DDR kein BRD - Politiker mehr vorbeikommt. Der Vormundschaftsanspruch der BRD gegenüber der DDR, einmal als besonderes Interesse an der DDR betrachtet, erscheint ihnen mittlerweise als eine gar nicht so schlechte Geschäftsgrundlage.
Und zwar vor allem deshalb, weil sie der Auffassung sind, dem mit jedem BRD-Antrag verbundenen Angriff auf ihre Souveränität gewachsen zu sein, die Beziehungen also ohne Beeinträchtigung ihres Staatswesens zu dessen Vorteil ausnützen zu können. Die Komplimente, mit denen sich die andere deutsche Republik immer wieder schmückt, belegen die Selbstzufriedenheit der Kommunisten deutscher Machart: Nicht nur, daß sie den sozialistischen Aufbau schon längst für erfolgreich beendet erklärt haben und seit langem und pausenlos "die entwickelte sozialistische Gesellschaft gestalten". "Stabil", "effektiv" und "dynamisch" - so erläutern sie die herausragenden Vorzüge ihres Staatswesens bei jeder Gelegenheit; eine sehr wenig klassenbewußte Erfolgsbilanz, wenn man die Herren einmal an ihre verstaubte Terminologie erinnern will. Es ist ein Erfolg, wie Nationalkommunisten ihn sehen: Die DDR hat sich nicht nur gegen die Anfechtungen der BRD behauptet, sondern hat aus ihrem Staatsvolk eine pflichtbewußte, staatsbürgerlich gut erzogene Truppe mit einem durchaus DDR-eigenen Nationalismus gemacht, mit der ein Kampf um die nationale Produktion nach dem anderen erfolgreich abgeschlossen wird. Stabil, effektiv und dynamisch ist das halbe Deutschland zur Wirtschaftsmacht des Ostblocks aufgestiegen. Den Massen hält man immer wieder den höchsten Lebensstandard im Ostblock (und einen international zwischen Italien und England errechneten) als Verpflichtung zu weiterer Leistungssteigerung vor und sonnt sich ansonsten in dem Bewußtsein, ein gefragter Handelspartner mit "weltmarktsfähigen Produkten" zu sein - auch ein uraltes Ziel der Arbeiterbewegung. Dies ist ihr Erfolg, befindet die Honecker-Mannschaft. Die Bestreitung ihrer Souveränität durch die BRD wird einerseits nach wie vor in allen Einzelheiten registriert und der Öffentlichkeit als Schilderungen der laufenden Grenzverletzungen und Übergriffe in DDR-Rechtsverhältnisse anklagend vorgetragen; andererseits brauche man das nicht mehr so ernstzunehmen.
"Ich möchte darauf verzichten, hier im einzelnen anzuführen, wieviele Sonntagsreden und auch Reden anderer Art mit dem sogenannten Offenhalten der deutschen Frage ausgeschmückt wurden. Das kennen wir schon seit mehr als 3 Jahrzehnten. Natürlich wäre es verfehlt, die Drohungen zu unterschätzen; es wäre aber auch nicht richtig, sie zu überschätzen."
Was der Genosse Honecker hier mit seiner bestechenden Radio-Eriwan-Logik rechtfertigt, ist allerdings etwas anderes als die Feststellung, daß so etwas wie der zu früheren Zeiten befürchtete "als innerdeutsche Polizeiaktion getarnte" Überfall der Bundeswehr nicht eingetreten ist und wohl auch nicht eintreten wird. Er verteidigt vielmehr die neue Sorte Geschäft mit den alten Revanchisten, die die SED entdeckt hat, das Geschäft mit der eigenen Souveränität: Verlangt die BRD die Aufhebung des Schießbefehls an der Grenze - gut, dann kann man ihr mit einer Umorganisation der Grenze entgegenkommen, die das Schießen so gut wie überflüssig macht. Besteht die BRD auf ihrem ganzen deutschen Volk in Gestalt eines freien Verkehrs über die innerdeutsche Grenze - gut, dann kann man ihr eine flottere Grenzabfertigung, die Wiedereinreise ehemaliger "Republikflüchtlinge", die Ausreise einiger für überflüssig bis störend erachteter 'Elemente'und sonst noch einiges an Reisemodalitäten bieten. Lauter Zugeständnisse in Dingen, die die DDR-Oberen gemessen an der Stabilität der eigenen Herrschaft inzwischen als entbehrlich erachten, und wofür sie sich von der BRD eine Aufbesserung ihrer Positionen in politischer und ökonomischer Hinsicht erwarten, die den Aufstieg ihres Staatswesens endgültig zur beschlossenen Sache macht.
Konstruktive Zusammenarbeit zur "Schadensbegrenzung"
Das alles im Angesicht der Raketen- und sogar auch wegen der Raketen. Als nämlich der Genosse Honecker vor der Stationierung seinen Kollegen Kohl "im Namen des deutschen Volkes" darum gebeten hat, davon Abstand zu nehmen, hatte die hiesige Begeisterung weniger ihren Grund in der kindischen Schlußfolgerung der Öffentlichkeit, daß er es jetzt nun endlich "zugegeben" hätte, das mit dem ganzen deutschen Volk. Vielmehr haben Figuren wie Strauß, Genscher, Jenninger, Windelen usw. an dieser Aktion bemerkt, wie großartig gerade diese militärische Offensive dazu geeignet ist, "Besitzstände" der Ostpolitik unter ganz neuen Auspizien auszureizen. Sie haben bemerkt, daß es nicht die reine Friedensliebe war, die dem anderen Deutschen diese Formulierung eingegeben hatte; sie gewahrten die simple nationalistische Befürchtung, daß die Rüstungspolitik gegen den eigenen Block die Sonderbeziehungen gefährden könnte, in denen sich die DDR so vortrefflich eingerichtet hat.
Im Unterschied zu den hiesigen Heuchlern, die mit der Rede von der "Schadensbegrenzung" wirklich eine "pharisäische Logik" (Prawda) erfunden haben - erst "mit der Aufstellung der amerikanischen Raketen den Schaden anrichten" und dann "unter dem Vorwand der Schadensbegrenzung der Versuch, ihre revanchistischen Pläne zu verwirklichen" -, geht es aus der Sicht der DDR wirklich um ein Stück Schadensbegrenzung: Man möchte - einmal abgesehen von der rein militärischen Reaktion, der Aufstellung von Kurzstreckenraketen auf dem eigenen Territorium - zu keiner Änderung der Beziehungen veranlaßt werden, die die mit der BRD schon ausgehandelten oder möglicherweise noch auszuhandelnden Sondervorteile gefährden könnten. Insofern aber enthält die Rede von der Schadensbegrenzung, wie sie die DDR-Führer aufgebracht haben, auch ein gutes Stück Heuchelei. An ihre Begründung für den innerdeutschen Schacher, soweit er als ein Stück Friedenspolitik (Ost) vorgestellt wird, können sie eigentlich selbst nicht ganz glauben. Erst wird immer streng gemeinsam mit der Sowjetunion die BRD verurteilt:
"Mit allem Ernst wiesen Partei- und Staatsführer der UdSSR und der DDR auch bei ihrem bilateralen Gespräch darauf hin, daß sich die BRD durch die Raketenstationierung auf ihrem Territorium in eine Startrampe für nukleare Angriffswaffen der USA verwandle."
Und danach lautet die DDR-eigene Verlängerung regelmäßig:
"Das alles erhärtet die Notwendigkeit, nun erst recht alles zu tun, um die internationale Lage umzukehren und der friedlichen Zukunft der Menschen eine Chance zu eröffnen." Und vor allem "solche Schritte in den Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten, die den Interessen der Friedenssicherung, der Entspannung und einer gegenseitig uorteilhaften Zusammenarbeit dienen."
Das steht nun wirklich in keinem Lehrbuch des Marxismus-Leninismus, daß dieselben "Kräfte", die sich die Raketen aufstellen, durch ganz viel Ausreisegenehmigungen, Umweltschutz und Handel von ihren militärischen Ambitionen abgebracht werden können. Das "jetzt erst recht" der DDR-Politik ist nur ein Beleg dafür, daß für diesen Nationalismus 1. die Aufrüstung des Westens gar keinen recht einsehbaren Grund hat, 2. sich weniger gegen einen selbst als gegen die Sowjetunion richtet, 3. auch dort als Bedrohung vielleicht gar nicht so ernst zu nehmen ist, wie es die sowjetische Politik zur Zeit tut, und daß 4. auf jeden Fall für die DDR zur Zeit Lohnenderes und Wichtigeres auf der Tagesordnung steht als die Unterstützung der sowjetischen Versuche, den Westen zur Zurücknahme zu bewegen.
"Verantwortungsgemeinschaft" / Interpretation-West
Insofern hat die Beschwörung "im Namen des deutschen Volkes" überhaupt nicht dazu getaugt, der BRD die Raketen auszureden, im Gegenteil: Der Aufstieg zur Raketenrepublik war längst beschlossene Sache. Und auch die bundesrepublikanische Antwort auf den DDR-Antrag, beim Honecker-Besuch auch über Frieden und Raketen zu reden, erfolgte prompt und sachgerecht:
"Die Bundesregierung hat unmißuerständlich bewiesen, dßß sie die innerdeutschen Beziehungen allein auf innerdeutscher Interessengrundlage betreiben wird und sich nicht zu Leistungen nötigen läßt, die ihre vitalen Sicherheits- und Bündnisinteressen gefährden."
Im Klartext: Wir rüsten gegen das Bündnis der DDR nach Kräften, und da werden wir doch als allerletztes mit der DDR darüber verhandeln.
"Umgekehrt zeigt das Verhalten der DDR nach Stationierungsbeginn, daß auch sie nicht beabsichtigt, ihre Interessen am innerdeutschen Sonderverhältnis derart eng mit dem Thema der militärischen Sicherheit zu verknüpfen, daß ihr daraus Schaden entstünde." (Windelen)
Im Klartext: Unsere Frechheit macht sich bezahlt, die können es sich gar nicht leisten, sich nicht mit uns gut zu stellen!
Das bemerkte dringliche Interesse der DDR, sich weiterhin gute Beziehungen zu ihrem immer wuchtiger aufgerüsteten Gegenüber an der Front zu erhalten, hat man als Gratisgabe entgegengenommen, mit der sich "jetzt erst recht" wuchern läßt: Die Geschäftsbeziehungen, dank derer westdeutsche Ausbeuter kräftig an den Resultaten ostdeutschen Arbeiterfleißes teilnehmen, blühen; der Ertrag der Bemühungen, die deutsche Frage offenzuhalten, wächst, also alles, was getan wird, um die Grenze immer "durchlässiger", die Rechtsansprüche des einen deutschen Staates auf den anderen immer unverschämter zu machen; und schließlich läßt sich mit den blendenden innerdeutschen Beziehungen vor aller Welt demonstrieren, wie unrecht der Außenminister der östlichen Führungsmacht hat und wie wenig er mit seiner Beschwerde auszurichten vermag, die BRD könne "nicht so tun, als sei mit der Stationierung nichts Besonderes geschehen". Sie kann!
Und sie steigert ihre rüstungsdiplomatischen Unverschämtheiten nunmehr durch gar nicht dezente Hinweise, sie habe - eigentlich - im Ostblock lauter heimliche Parteigänger ihrer Linie, die Raketen seien eine ganz banale, bloß sicherheitstechnische Angelegenheit und die Sowjetunion solle von ihrem unbegründeten Groll endlich wieder zur Tagespolitik zurückkehren - so wie die beiden vorbildlichen deutschen Staaten, die jetzt gemeinsam den Schaden begrenzen, den der eine dem Bündnis des anderen zufügt.
Öffentlich und ohne jede Zurückhaltung werden die weitergehenden Spekulationen ausgebreitet: Ob und wieweit sich nicht bei den Satelliten ein regelrechter Widerstand gegen die sowjetische Rüstungspolitik erzeugen läßt; ob wir nicht, wenn im nächsten Jahr der Warschauer Vertrag ausläuft, sogar ein paar spektakuläre Austritte erleben können; ob also nicht der immerselbe Wunschtraum westlicher Friedenspolitiker - das östliche Bündnis in allen Fugen kracht und das NATO-Programm durch seine Selbstauflösung vereinfacht...
Verrückt sind diese Spekulationen in ihrer unverschämten Erfolgsgewißheit schon: Soviel haben nämlich auch noch die nationalistisch borniertesten Chefs der Satellitennationen mitbekommen, daß der schiere Bestand ihrer Herrschaft auf ihrem Kriegsbündnis und nicht zuletzt auf der Roten Armee beruht; eine freiwillige Übergabe ihrer Macht an westliche Ent-Russifizierungskommissare beabsichtigen sie sicherlich auch nicht. Aber derlei Erfolgsphantasien passen prächtig zu der jetzt stattfindenden Zersetzungsarbeit, die alle Mittel mobilisiert, um der Sowjetunion den Zusammenhalt ihres Bündnisses für den Verteidigungsfall möglichst sauer zu machen. Genauso funktioniert das unschuldige "Geflecht von Beziehungen", das unsere Ostpolitiker so gerne als ihre Leistung in Sachen Friedenssicherung rühmen: Als flankierende Maßnahme für die eigene Kriegsvorbereitung werden den Satelliten lauter mögliche Fortschritte auf Grundlage der schon eingerichteten Abhängigkeiten signalisiert, die ihre politische Bedeutung aufwerten und ihrer Wirtschaft zugutekommen könnten. Ungarn wird ein günstiges Abkommen mit der EG in Aussicht gestellt; Rumänien wird mit einer US-Satellitenstation und der erneuten Gewährung der Meistbegünstigungsklausel durch die USA belohnt; die DDR kommt in den Genuß der Aufhebung von ein paar handelspolitischen Diskriminierungen im innerdeutschen Handel; Staatsbesuche von NATO-Führern in nie dagewesener Häufigkeit werben um die ewig an ihrer weltpolitischen Minderwertigkeit herumlaborierenden Ostblockführer; und sogar Polen wird wieder heftig bereist und mit der Aufhebung von ein paar Sanktionen bedacht. Alles, um den Nationalismus eines Ceausescu, Kadar, Honecker oder Jaruzelski für die eigenen Berechnungen einzuspannen und deren Vorteilsberechnungen als Hindernis für die Kriegsvorbereitung im Ostblock auszubauen.
Revanchismus mit NATO-Zuschnitt
Und da sollen die Russen mit ihrer Revanchismuskampagne "ganz neben den Realitäten liegen"? Was, wenn nicht den an allen Fronten stattfindenden Angriff auf die Souveränität ihres Staatenblocks haben sie denn bemerkt? Und wenn sie der DDR deren eigene früher einmal aufgestellte Rechtspositionen vorrechnen, die Geraer Forderungen, die von der BRD nichts als die Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft, DDR-Justiz, DDR-Grenze und staatlicher Selbständigkeit verlangen - stimmt dieser Hinweis auf die Gefahren des jetzigen Handels mit der Preisgabe von Teilen der eigenen DDR-Souveränität, der immer nur die viel prinzipielleren Ansprüche der BRD bekräftigt, etwa nicht? Schließlich ist es doch die sehr zutreffende Erinnerung daran, worauf die 35 Jahre lang von der BRD bestrittene Existenz der DDR immer noch beruht - auf der Zugehörigkeit zu einem Bündnis, das dem BRD-Revanchismus von Adenauer bis heute Paroli geboten hat.
Wenn sich die Russen täuschen, dann nur in einem Punkt: Über welche Mittel der deutsche Revanchismus verfügt und wie daher seine Ansprüche heutzutage ausfallen. Wenn die Prawda sich über die Benutzung der "wirtschaftlichen Beziehungen zur DDR als Mittel zur Einmischung in die souveränen Angelegenheiten der Republik" entrüstet, über "Versuche, wirtschaftliche Hebel als auch politische Kontakte auszunutzen für Zugeständnisse in prinzipiellen Fragen, die die Souveränität der Republik angehen", kritisiert sie einen Mißbrauch - von Mitteln, die solch finsterem Zweck "eigentlich" widersprechen. Gleich im nächsten Atemzug betont die Prawda ihre Bereitschaft zu "gegenseitig vorteilhaften gutnachbarlichen Beziehungen und friedlicher Koexistenz", und bekräftigt weiterhin ihr Ideal vom eigentlich nützlichen und friedlichen Charakter der wirtschaftlichen Beziehungen. Aber eben genau dieser friedliche Handel, das Feilbieten von lauter brauchbaren, fortschrittlichen "Produktivkräften", die sich die Ostblockplaner nur zu gerne zur Beschleunigung des Wachstums ihres Volkseigentums beschaffen, ist ein Handel zum Zwecke der Einmischung! Seine Konditionen zeigen es seit den ersten Tagen der "wirtschaftlichen Zusammenarbeit"! Profite westlichen Kapitals wollen realisiert sein; für die Beschaffung der entsprechenden westlich genehmen Zahlungsmittel müssen immer mehr eigentlich zur nationalen Verwendung vorgesehene Güter auf dem Weltmarkt abgeliefert werden; um dort die Verbesserung von Handelskonditionen zu erreichen und die eigene Zahlungsfähigkeit zu verbessern, müssen Prinzipien der östlichen Wirtschaftsplanung aufgegeben werden usw. usf. Die Bewährung auf einem Weltmarkt, dessen Modalitäten ganz auf den Geschäftserfolg des Kapitals berechnet sind, verlangt den Ostblockwirtschaften lauter Zugeständnisse ab, so daß sie sich zwar einige der begehrten Mittel für ihre Nationalökonomie besorgen, können, dafür aber andererseits mit einer Zurichtung ihrer Wirtschaft gemäß den Bedürfnissen ihrer westlichen "Partner" zu zahlen haben. Und der ständig steigende Wohlstand der Massen ist dabei unter Garantie nicht vorgesehen, auch wenn der Verlauf dieser gutnachbarlichen Beziehungen nicht jedesmal einen solchen Abtransport der Reichtümer, halben Staatsbankrott samt Volksaufstand wie in Polen bewirkt. Auch das DDR-Wirtschaftswunder hat die Eigentümlichkeit zu verzeichnen, daß alle möglichen Kennziffern wie Volkseigentum, Produktivität, Warenproduktion etc. schneller steigen als der "private Verbrauch". Fröhlich hetzen westdeutsche Wirtschaftsjournalisten gegen das andere System,
"es wird zwar mehr und auch kostensparender produziert, es wird mehr erportiert, aber das Leben für die Verbraucher ist eher mühsamer geworden",
als ob sie nicht viel zu gut wüßten, daß ihr 'aber' gar keines ist. Wo landet denn schließlich der Reichtum, den die Brüder und Schwestern Jahr um Jahr mehr produzieren, aber nicht in ihren HO-Läden zu sehen bekommen, wenn nicht bei westdeutschen Handelskonzernen? Abgerechnet als bewunderungswürdige Leistung in den Bilanzen von Krupp, Siemens und Hoechst und mehrfach verzinst bei der Deutschen Bank.
Kapital und Kredit
stellen eine Waffe der westlichen Demokratien dar, und zwar nicht erst, wenn mit ihnen politische Zugeständnisse erpreßt werden. Schlicht durch ihr ökonomisches Funktionieren werden den Ostblocknationalisten, wenn sie sich dieser Mittel bedienen wollen, lauter Rechnungen aufgemacht, Bedingungen gestellt, an denen sie ihre Entscheidungen auszurichten haben. Kapital und Kredit untergraben die wirtschaftspolitische Souveränität, insofern die Erfüllung des Anspruchs auf Gewinn, mit dem ins Geschäft eingestiegen wird, manchen Gegensatz zu den Projekten eröffnet, die die "Planer und Leiter" der realsozialistischen Wirtschaft ansonsten so vorsehen. Und gerade die Attraktivität dieser Mittel für die Sorte Kommunisten, die im Ostblock regiert, die bei Kapital nicht mehr an Ausbeutung, sondern an "Technologie" denkt, mit der versehen die Leistungen des eigenen Blocks den nationalen Aufstieg unausweichlich machen müssen, macht dieselben angeblich so machtvollkommenen Herrscher sehr offenherzig für weitergehende politische Erpressungen.
Das bemerkt die Prawda eben nur an den Resultaten - am friedlichen Handel selber ist ihr noch nie etwas aufgefallen, genausowenig wie den Genossen Handelsministern, die auch nach wie vor mit den deutschen Wirtschaftsführern freundschaftlichst verkehren. Kapital und Kredit - mit diesen Waffen hat die friedliche Ostpolitik bereits solche Erfolge bei der Erschließung der Staaten erreicht, die früher einmal hinter einem "Eisernen Vorhang" liegen sollten, daß die für die Freiheit (des Kapitals und seiner Staatsgewalt) Zuständigen ihre ganz prinzipielle Unzufriedenheit mit diesem "Vorhang", oder auch der sog. "Teilung Europas" nicht länger verhehlen können. Die praktische Macht des Kapitals, das sich an der Nutzbarmachung der "geknechteten Völker" längst ausgiebig beteiligt, ist gewachsen - und mit ihr die Gesprächsbereitschaft der dazugehörigen Führer, die auf dieser Geschäftsgrundlage für alle Zeiten friedlich koexistieren und ihre nationalen Wege gehen möchten. Die wollen von ihrer Überzeugung nie lassen, daß letzten Endes ihre westlichen Kollegen auch gar nichts anderes wollen können als eben diesen Frieden! Wenn die Führer der Freiheit diese Erfolge aber mit der "Änderung des Klimas" zwischen West und Ost fortsetzen wollen, hält das die Sowjetunion für US-Abenteurertum oder, deutsch, für ein "Wiederhochkommen" des Revanchismus.
Die Aktualität eines alten "Auftrags"
Dabei ist es nichts anderes als das Gründungsprogramm der NATO, für dessen Verwirklichung die westlichen Demokratien mittlerweile soviel geleistet haben, daß sie zum Kern der Sache kommen: Ein Block, der seine Herrschaft nicht dem Wachstum des Kapitals widmet und dem dazugehörigen Recht verschreibt, bleibt auch dann ein Hindernis und Unrecht, wenn er sich bedingt auf ökonomische Benützung der ihm unterstehenden Produktivkräfte einläßt. Wenn er auf seinem alternativen Programm beharrt und dies auch noch mit einem konkurrenzfähigen Militairapparat verteidigt, hat er keine Existenzberechtigung, ist er das "Zentrum des Bösen".
Als Teilhaber an der westlichen Sorte Weltherrschaft sind die Ansprüche der kleinen BRD denn auch ganz anders beschaffen, als es die sowjetische Revanchismuskritik sich ausmalt. Es sind eben nicht die "Ewig-Gestrigen", die Stalingradverlierer, die Waffen-SS, das braune Gesindel, die jetzt wieder aus ihren Löchern hervorkommen, der deutsche Militarismus, der auch gegen England und Frankreich zwei verlorene Weltkriege rächen will, die Junker und Schlotbarone, die ihre pommerschen Güter und schlesischen Gruben zurückverlangen, lange Jahre im Untergrund tätige "Kreise", die jetzt wieder Oberwasser bekommen - mit denen würde die Sowjetunion auch wohl fertig. - Es sind die demokratisch vom deutschen Volk gewählten ehrenwerten Politiker, die nicht "i m Schatten der Raketen" zum Zug kommen, sondern diese Dinger gewollt haben, um die mit der Gründung der BRD verfolgten Berechnungen in allen Richtungen wahrzumachen. Das von den USA gewünschte Bollwerk, das von Adenauer zum treuesten Vasallen der USA gegen den Kommunismus erklärte Deutschland, das ebenso unerbittlich auf der Wiedervereinigung zu seinen Bedingungen beharrt hat, wie es berechnend-unterwürfig im westlichen Bündnis seinen Wiederaufstieg in die Weltpolitik vollzogen hat - bis hin zur Beschaffung sämtlicher Kriegsmittel, damit von deutschem Boden nie wieder ein erfolgloser Krieg ausgehen kann -, dieses Staatswesen meldet seine Ansprüche gegen den anderen Block an. Es sind nicht lange Jahre hindurch mehr oder weniger erfolgreich unterdrückte "Kreise", "Kräfte" oder "Tendenzen", sondern die Erben der Kalten-Kriegs-Politik eines Adenauer und der Ostpolitik eines Brandt und Schmidt, die die Erfolge ihrer Vorgänger fortsetzen. Es sind deutsche Imperialisten, die wissen, wie vorzüglich ihre nationalen Vorhaben im internationalistischen Programm ihres Bündnisses aufgehoben sind. Ein Revanchismus, der nicht mit großdeutschem Chauvinismus östliche Untermenschen überfallen will, sondern der seit jeher mit Kapital und Menschenrechten operiert, und dessen Verlangen nach einer Revision von Grenzen deshalb auch längst nicht an der Oder-Neiße-Grenze haltmacht, sondern bis hinter den Ural reicht. Daher fallen die empörtbeleidigten Zurückweisungen der sowjetischen Beschuldigungen auch immer so aus, daß der Beweis für die Unschuld der BRD damit geführt wird, daß sie sich ein viel grundsätzlicheres und gigantischeres Programm vorgenommen hat als bloß die Wiederbeschaffung von ein paair Territorien:
"Die deutsche Frage in ihrem moralischen und politischen Kern ist keine Grenz- und Gebietsfrage, sondern eine Frage der persönlichen Menschenrechte und der nationalen Selbstbestimmung."
Und solche "Werte" kennen bekanntlich keine Grenzen. Zu wundern braucht man sich also wirklich nicht darüber, wenn die Russen sich so aufregen. Viel eher darüber, warum kaum jemand den Beteuerungen aus Bonn die überaus klare Botschaft entnehmen will, daß und wie sie sich "die Lösung der deutschen Frage" vorgenommen haben.
"Europa" ist unteilbar
Nun, jeder kennt das "Argument", mit dem die Bundesregierung sich zur Wehr setzt, wenn dieser Anspruch auf neue Grenzen, dieser revanchistische Protest gegen das Kriegsergebnis, einmal beim Namen genannt wird. Das Argument lautet: "Wir wissen, daß das Problem der Teilung im nationalen Rahmen nicht gelöst werden kann. Die Teilung Deutschlands ist ein Teil der Teilung Europas; nur mit dieser zusammen ist sie aufhebbar". Und schon strahlt die ganze Mannschaft, von Kohl bis Vogel und von Apel bis Zimmermann, vor bestem Gewissen: Ach Gott, was ist man bescheiden!
Im Ernst: ausgerechnet das soll bescheiden und harmlos sein?! Das soll die Russen beruhigen, wenn westdeutsche Politiker ihnen treuherzig versprechen, ihre "nationale Frage" nicht im "Alleingang" zu lösen, sondern gleich ganz Europa einzubeziehen und eine "europäische Frage" daraus zu machen - ?! Ist damit der Anspruch, das Kriegsergebnis umzustürzen und die souveräne Macht über Land und Leute auf dem "alten Kontinent" neu zu verteilen, nicht bloß noch m a ßloser geworden?
Mehr noch: Die Bundesregierung weist immer mit bestem Gewissen darauf hin, ein deutschnationaler Revanchismus könne ohnehin keinen Erfolg haben; die "Frage" sei europäisch anzugehen; nur so wäre sie realistisch gestellt. Ja, ist das mit dem "Realismus" jetzt so gemeint oder nicht? Dann heißt das aber doch auch: Die staatlichen Abgrenzungen gleich in ganz Europa in Frage zu stellen, das hält die Bundesrepublik für den einzig erfolgversprechenden Weg, das ärgerliche Ergebnis des verlorenen Hitler-Krieges ungeschehen zu machen. "Unser Revanchismus ist europäisch und nur so, so aber auch wirklich realistisch und aussichtsreich!" - das soll nationale Bescheidenheit sein und das Gegenteil von Revanchismus?!
Klar, so patriotisch borniert wie die "Heimholungs"-Gelüste der Vertriebenen-Verbände ist die offizielle politische Linie nicht. Aber das ist der Unterschied; und das ist auch schon der ganze Unterschied. Die offizielle Politik liegt seit jeher auf der Linie, die jetzt auch US-Präsident Reagan ausdrücklich so formuliert hat: Die Abgrenzung von Herrschaftsgebieten in Europa nach dem Krieg wäre so nicht gemeint gewesen. "Jalta muß weg!" Wo, bitte schön, unterscheidet sich das denn von Hitlers "Versailles muß fallen!" - außer in den größeren Maßstäben, die das Programm, den 2. Weltkrieg nachträglich noch gegen die Sowjetunion geführt und gewonnen zu haben, in der Tat besitzt? "Wir wollen ein Europa, in dem Grenzen nicht mehr trennen!" - so lieblich lassen Bonns Politiker sich vernehmen. Wie unschuldige Kindlein tun sie so, als wüßten sie nicht, was es mit der Grenze zwischen NATO und Warschauer Pakt auf sich hat: Daß da die Sowjetmacht ihr "System" gegen das westliche abgrenzt und als weltpolitische Alternative behaupten will. Für die Sowjetunion steht mit Europas wichtigster Grenze ihr Bestand als nicht-kapitalistische, neutral gesagt: als andersgeartete Macht auf dem Spiel. Bundesdeutsche Politiker tun so - gegen besseres Wissen -, als wäre ihr Spruch gegen "trennende Grenzen" das Harmloseste von der Welt. Sollen sowjetische Politiker, denen damit der Wille zur Abgrenzung bestritten wird, sich etwa genauso blöd stellen?!
Das Recht auf Einmischung ist unteilbar
Ja, sie sollen: Das verlangt die Bonner Regierungsmannschaft als ihr gutes diplomatisches Recht gegen ihre Moskauer Kollegen. Mit einer Frechheit ohnegleichen zucken sie die Achseln, drehen sich quasi nach einem fiktiven Hintermann um, wenn die sowjetische Revanchismus-Anklage auf sie weist, und erklären sich für "nicht betroffen". I m Lande zetteln sie eine Kampagne gegen Hans Apel an, bloß weil der als Berliner SPD-Kandidat die offizielle Linie des Bonner Revanchismus - "Deutsche Wiedervereinigung nur im gesamteuropäischen Rahmen!" - zu einseitig betont und nicht gleichzeitig die andere Klarstellung dazugeliefert hat: "Im gesamteuropäischen Rahmen, aber bitteschön deutsche Wiedervereinigung!" Die verharmlosende Sprachregelung ist Apel zu verharmlosend geraten, als er gemeint hat, national gesehen wäre die "deutsche Frage nicht mehr offen". Gegen Apel ist gar nicht mehr "argumentiert" worden; die Verurteilung einer solchen "unglaublichen Äußerung" stand sowieso fest, und öffentlich überlegt wird nur, wie groß der Skandal sein soll, den man daraus macht. Das alles passiert gerade i m Lande - und nach außen, gegen die sowjetische Regierung und ihren Revanchismus-Vorwurf, wird blankes Unverständnis geheuchelt. Kein Mensch stellt überhaupt öffentlich die allerkleinste Überlegung an, ob an dem sowjetischen Vorwurf vielleicht doch irgendwo irgendwie was dran sein könnte. Stattdessen ergeht man sich in Spekulationen, was für "deutschlandpolitische" Streitereien wohl i m Kreml ausgetragen würden um die richtige Linie gegenüber DDR und BRD.
Gemessen an diplomatischen Gepflogenheiten ist diese Reaktion eine Beleidigung der gehobenen Sorte. Und man darf unseren schlauen Weltpolitikern alles mögliche unterstellen, aber nicht, sie wären sich darüber nicht im klaren. Sie wollen die politische Beleidigung der Sowjetunion - als Unterstreichung des Anspruchs, um den es gerade geht: Die Sowjetunion soll in Europa und über Deutschland nichts zu sagen haben. Ein Jahrzehnt lang hat die sowjetische Außenpolitik sich darauf verlassen, daß die leidige innereuropäische Grenzfrage erledigt wäre und niemand sie mehr praktisch aufwerfen will. Jetzt wird ihr mitgeteilt, daß das eine Täuschung war und ist. Und wenn sie sich darüber beschwert, wird ihr eiskalt entgegengehalten: "Wer so laut schreit" - wie die Regierung in Moskau -, "muß sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht selber vorhat, was er anderen unterstellt - nämlich das gesamte Vertragswerk zu unterminieren". So wird aus der sowjetischen Beschwerde ein Rechtstitel dafür gemacht, genau die Politik voranzutreiben, über die die Russen sich beschweren.
So geht diplomatische "Eskalation".
Die Raketen sind ja da.
"Mein eigenes Land, die Bundesrepublik Deutschland, hatte vor nunmehr 35 Jahren das Glück, zu einer stabilen Demokratie zu finden. Unser Staatswesen ist hervorgegangen aus der schwersten Katastrophe der deutschen Geschichte, der Zerstörung Deutschlands in der Niederlage des Zweiten Weltkrieges. Es mußte sich mit den schweren Belastungen auseinandersetzen, die das Regime Hitlers hinterlassen hat. Noch heute ist all dies nicht ganz überwunden. Deutschland, mein Vaterland, ist geteilt. Ein Teil der Nation hat sein Schicksal in freier Selbstbestimmung gestalten können, ein anderer Teil bis heute noch nicht. Deutsche Politik ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Unser Ziel ist es, in einem geeinten Europa in Freier Selbstbestimmung die Einheit Deutschlands in Frieden und Freiheit zu vollenden." (Helmut Kohl, Rede vor dem argentinischen Kongreß, 12. Juli 1984)
"Die wesentlichen Ziele deutscher Außenpolitik haben sich in diesen Jahrzehnten nicht verändert: Erhaltung der im eigenen Lande gewonnenen Freiheit. Bewahrung des Friedens und Überwindung der widernatürlichen Trennungslinie, die ja nicht nur in Form einer ahschreckenden Mauer unsere alte Hauptstadt Berlin teilt, die nicht nur Deutschland teilt, sondern die Europa teilt, denn jenseits dieser Mauer liegen nicht nur alte deutsche Gebiete, Städte, Provinzen - Weimar, Leipzig, Dresden, Eisenach -, jenseits dieser Trennungslinie liegen auch Prag und Bukarest und Budapest und natürlich auch Warschau und Krakau, um nur wenige europäische Städte zu nennen, die Symhole europäisch gegemeinsamer Geschichte sind." (Helmut Kohl, Rede vor dem argentinischen Rat für internationale Beziehungen, 6. Juli 1984)
Aber mal im Ernst
"Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß sich die Deutsche Frage allein durch Zeitablauf erledigen könnte. Die Geschichte lehrt, daß sich ein geistig so vitales und dynamisches Volk wie das deutsche mit einer so widernatürlichen und unmenschlichen Spaltung seines Landes auf Dauer nicht abfinden wird. Für uns sind Krieg und Gewalt keine Mittel der Politik. Wir werden mit aller Kraft auf einen Zustand des Friedens in anz Europa hinarbeiten, in dem as deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit wiedererlangt." (Helmut Kohl, Rede beim Essen des mexikanischen Präsidenten, 9.Juli 1984)
"Im Zeitalter Andrej Sacharows, d.h. der Menschen- und Bürgerrechtsbewegung in der Sowjetunion, vor allem aber im europäischen Machtbereich der UdSSR, den Stalin nach 1945 der Sowjetunion als cordon sanitaire, als Sicherheitsgürtel unterworfen hat, dürfen wir natürlich unsere moralische Solidarität mit diesem immer stärker werdenden Faktor der Zeitgeschichte nicht mehr vergessen. Wir sind zu dieser Solidarität nicht nur berechtigt, etwa durch die Internationalen Menschenrechtsakte und die Schlußakte von Helsinki, sondern auch verpflichtet, wenn wir in West-und Osteuropa glaubwürdig bleiben wollen." (Alois Mertes, Rede vor dem Dialog-Kongreß 'Westeuropa-USA-Japan', 8. Juli)