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Dieser Artikel ist in der MSZ 9-1984 erschienen.

Systematik


DEUTSCHLANDS SORGENKIND NR. 1

"Neue NATO -Studie entlarvt Bundeswehr"

meldet die "Quick" auf ihrer Titelseite und wartet mit folgender "alarmierenden Enthüllung" auf: Bei der Bundeswehr fehlt's an allen Ecken und Enden - "Verteidigung der bundesdeutschen Flugplätze nicht adäquat... Einrichtungen der Luftabwehr der Marine ungenügend gesichert... Zu wenig Munition und zu wenig Ersatzteile... Pillenknick...". Kurz: zu wenig Tötungsmaterial, zu wenig Tötungspersonal für eine erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Feind. Die Redaktion der "Quick" sieht "unsere Armee" "in einem Dilemma, aus dem es kein Entrinnen gibt". Also: Aufgeben? Mit der Sowjetunion Frieden schließen? Von wegen! "Quick" fordert vom Kriegsminister "unverzügliche Maßnahmen zur Abhilfe", läßt ihn über seine nächsten Pläne plaudern - und Wörner stellt klar, woran sich die "Mängel", unter denen die Bundeswehr "leidet", das "Zuwenig" an Material und Personal, bemessen: Der NATO-Frontstaat BRD ist zwar schon sehr umfassend aufgerüstet, aber noch nicht ausreichend gefechtsklar. Also:

"Wir werden die Aufwendungen für Munition sehr stark erhöhen. In diesem Bereich haben wir in diesem Jahr bereits eine reale Steigerung um 35%. 1985 werden wir noch einmal drauflegen. ... Im Bereich der Elektrotechnik legen wir ebenfalls drauf. Im nächsten Jahr geben wir fast 30% mehr aus für Entwicklung und Forschung. Ich kann sagen: Was wir in den kommenden Jahren machen, wird die größten Lücken schließen."

Wenige Tage nach diesem bestellten Interview hat

Wörner in den USA

einen Vertrag unterzeichnet, mit dem die von der "Quick" beklagte Flugabwehr-"Lücke " aufs gelungenste "geschlossen" wird. Dieses Abkommen, das bereits vor einem Jahr ausgehandelt wurde, sieht einen Tausch vor, an dem die Bundesrepublik doppelt gewinnt: Die USA liefern der Bundeswehr kostenlos jene "Patriot"-Luftabwehrbatterien, die sie zur Ersetzung ihrer "veralteten" "Nike"-Raketen kaufen wollte. Dafür übernimmt die BRD die Verteidigung der hiesigen amerikanischen Flugbasen durch ihr eigenes "Roland"-System.

Für dieses Kompensationsgeschäft, bei dem das für die "Patriot"-Raketen vorgesehene Geld nun den deutsch-französichen "Roland"-Herstellern zufließt, verlangen die USA von ihrem Junior-Partner jetzt als zusätzliche Leistung einen höheren Beitrag zum Bau von neuen NATO-Flugplätzen, -Depots und -Fernmeldeeinrichtungen - die Differenz zwischen Forderung und Angebot liegt mittlerweile bei unter 100 Mio DM -, und sofort fällt dem kritischen Deutschland ein, wie schwer es doch "unser Verteidigungsminister" hat:

So verschwindet die wie selbstverständlich registrierte gelungene Aufrüstung gegenüber dem Osten -

"Mit den neuen Systemen ist die Luftverteidigung Mitteleuropas für die näch sten 25 bis 30 Jahre gesichert" -

hinter der viel aufregenderen Frage, ob unserem Manfred in den USA auch die ihm/uns gebührende Achtung zuteil geworden ist.

Die nächste "Lücke" will Wörner nach eigenen Worten "nach der Sommerpause schließen". Zu diesem Zweck hat er jetzt von einigen untergeordneten Parteigenossen eine öffentliche Debatte über

"Mehr Wehrgerechtigkeit"

anzetteln lassen.

Weil das deutsche Volk in den sechziger und siebziger Jahren im Bett zu unproduktiv gewesen sein soll, "haben wir das Problem rückläufiger Jahrgangsstärken". Diese unter dem Namen "Pillenknick" allseits geläufige Begutachtung der Intimsphäre vom militärischen Standpunkt aus will "bis 1994 ein Minus von etwa 80000 Soldaten" entdeckt haben.

Viel Mühe gibt sich das Verteidigungsministerium allerdings nicht mit der Aufrechterhaltung der Lüge, die Bundeswehr sei quasi per Naturgesetz auf ihre offizielle Stärke von 495000 Mann festgelegt, um funktionieren zu können.

"Viele der modernen Waffensysteme sind weniger personalaufwendig. Ich denke da an das 'Patriot'-System. Es wird das 'Nike'-System ersetzen und erfordert nur die Hälfte der Besatzung, obwohl es wesentlich kampfkräftiger ist. Was für dieses System zutrifft, gilt auch für andere." (Wörner)

Die Beibehaltung der Personalstärke ist also keineswegs einfach eine Beibehaltung der Kampfstärke, sondern im Rahmen der Modernisierung der Bundeswehr eine Aufrüstung, und die Forderung nach "mehr Wehrgerechtigkeit" ist dazu die ideologische Begleitmusik.

So soll es z.B. nach Auffassung eines Regierungspapiers, das bereits unter Verteidigungsminister Apel ausgearbeitet wurde, viel gerechter sein, wenn künftig

- Leute, die bisher als "untaugliche" Reserve behandelt wurden, zu "Tauglichen" befördert werden und ebenso wie neuerdings Theologen, Diplomaten, Entwicklungshelfer und Familienväter auch das Schießen lernen dürfen;

- Frauen in Posten einrücken, deren vorherige Inhaber dann andere Aufgaben übernehmen können;

- der Dienst bei Polizei, Bundesgrenz- und Katastrophenschutz nicht mehr als Alternative zu dem in der Bundeswehr gilt, sondern umgekehrt als dessen Fortsetzung;

- alle Uniformierten länger dienen dürfen;

- die verbliebenen "Untauglichen" und Ersatzdienstleistenden einen erhöhten Beitrag zum Militärhaushalt zahlen dürfen.

"Ungerecht" wäre es also, wenn es irgendeinem Teil der bundesdeutschen Bevölkerung gelänge, sich der ihm aufgezwungenen bedingungslosen Verfügbarkeit für den Gewaltapparat des Staates zu entziehen.

Geistige Führung

"Um den Nachwuchs für die Bundeswehr zu sichern, erwägt das Verteidigungsministerium Ferienfreizeiten für Jugendliche bei der Truppe. Unter der Rubrik 'Nachwuchssicherung in der Jugendarbeit' wird den Teilstreitkräften Heer, Luftwaffe und Marine in einem Schreiben mit dem Aktenzeichen 01-55-07 mitgeteilt, es werde geprüft, 'ob der Maßstab von Betreuungsmöglichkeiten der Bundeswehr für Jugendliche künftig großzügiger gesetzt werden muß, wenn der Auftrag der Nachwuchssicherung erfüllbar bleiben soll'. Unter anderem solle 'untersucht werden, ob beispielsweise künftig auf breiter Basis und regelmäßig Ferienfreizeiten der Bundeswehr für Jugendliche organisiert werden können." (Süddeutsche Zeitung)

Eine gute Idee. Erstens sind Kinder und Jugendliche bestens aufgehoben: Weg von der Straße, auf den größten Abenteuerspielplätzen der Nation, in kinderlieben Händen. Zweitens wird aus dem spielerischen Nachahmen der Vorbilder des wirklichen Lebens bei manchem vielleicht eine echte Leidenschaft. Drittens muß es die Truppe vermeiden "in den neunziger Jahren statt 495000 nur noch 300000 Soldaten" zu zählen, wo doch nicht einmal mehr die segensreichen Mechanismen der freien Marktwirtschaft automatisch wirken bei unserer wehrmüden Jugend und "der Andrang von Freiwilligen vor den Kasernentoren trotz Jugendarbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel in letzter Zeit nachgelassen" hat. Wenn knapper Sold und todsicherer Arbeitsplatz keine überzeugenden Argumente sind, dann kann man immer noch für möglichst viele die Truppe zur geistigen Heimat machen. Auf jeden Fall ist die Öffentlichkeit wieder einmal mit den Sorgen des Verteidigungsministers vertraut gemacht. Der hält nämlich 500000 Mann für die natürliche Stärke der Bundeswehr. Ihm wird schon was einfallen, wie er sie bekommt.

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Nur noch ideell zur Verfügung stehen der Bundeswehr

"Die Helden von Unterlaindern"

Dort haben diese nämlich Anfang Juli ihren "Tornado" versenkt.

"In einem Feuerball starben die Helden von Unterlaindern... Um ein Dorf zu retten, opferten sich zwei Piloten... Beide waren an diesem Morgen im Fliegerhoist Nörvenich bei Köln gestartet - zu einem der Routineübungsflüge, wie sie die Piloten der Bundeswehr ständig unternehmen. Ihr Tornado hatte keine Munition an Bord - zum Glück für Unterlaindern."

So kann man das natürlich auch sehen: Ein Kampfflugzeug fliegt 500 Kilometer (etwa so weit wie bis zur polnischen Grenze), und weil bei seiner unabsichtlichen Landung außer den beiden Soldaten zufällig sonst keiner draufgeht, handelt es sich bei dieser Erprobung hochkarätigen Tötungsinstrumentariums um einen Akt tiefster Mitmenschlichkeit. Tragisch mutet an diesem Vorfall allerdings an, daß der Absturz des "Tornados" vermutlich auf das Konto des NATO-Partners USA geht. Dieser soll nämlich durch seinen in den Osten funkenden Politsender "Radio Free Europe" die Maschine lenkunfähig gemacht haben. Die Arbeitsteilung zwischen propagandistischem und militärischem Export des hiesigen "way of life" bedarf also noch der Verbesserung.