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RÜSTUNGSDIPLOMATIE AUF DEM VORMARSCH
Die Bundesregierung gibt sich öffentlich "irritiert" über eine neue "Propaganda"-Kampagne der Sowjetunion und verbittet sich jede "Einmischung in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik und der europäischen Partner". Was haben die Russen sich zuschulden kommen lassen? Wie haben sie sich "eingemischt" - und vor allem: in was eigentlich?
Die Sache: Internationales Recht für bundesdeutsche Rüstung
Die Westeuropäische Union, eine Unterorganisation der NATO, hat jüngst beschlossen, seit 1954 bestehende Bestimmungen über die Aufrüstung der BRD aufzuheben. Damals war der Eintritt der BRD in die NATO und ihre Wiederbewaffnung 10 Jahre nach der Niederlage gegen die Alliierten mit der Einschränkung in die Wege geleitet worden, die Bundesrepublik müßte auf weitreichende Raketen und strategische Bomber verzichten. Das trug damals den Bedenken Frankreichs und Großbritanniens gegen ihren europäischen Konkurrenten Rechnung und entsprach der vorgesehenen Rolle der BRD als NATO-Vorposten. Jetzt hat die WEU der Bundesrepublik die Produktion von "Flugkörpern großer Reichweite und Lenkflugkörpern" sowie von "Bombenflugzeugen für strategische Zwecke" freigegeben.
Das ist weit mehr als nur die "natürliche Konsequenz" und Anerkennung dessen, daß sich die BRD seit nunmehr 30 Jahren als verläßlicher NATO-Partner bewährt und alle eventuellen Bedenken zerstreut hat. Beschränkt in der Anschaffung all der Zerstörungsmittel, die Macht und Einfluß gewähren, war die BRD ja längst nicht mehr; und beschränkt bei den Rüstungsanstrengungen und -ausgaben hat sie sich ja nicht. Um die amerikanischen Kurz-, Mittel- und Langstreckenraketen und Atomsprengköpfe herum ist schließlich die größte und schlagkräftigste konventionelle Armee in Europa aufgebaut worden; die BRD entscheidet in der NATO über alle Weltgegenden mit und rüstet mit. Und die "nationale Sicherheit" und "Verteidigungsfähigkeit" dieser Raketenrepublik wird längst so definiert, als ob sich die Bundesrepublik auf dem europäischen Schlachtfeld ganz allein mit der Sowjetunion messen (können) müßte.
Nur unter diesem anmaßenden Gesichtspunkt erscheint ein westdeutscher Verzicht auf Waffen untragbar, die bis in die Zentren der Sowjetunion und weiter treffen können - Waffen, die auf westlicher Seite überreichlich vorhanden und in der BRD stationiert sind und die von ihr mitbefehligt werden.
Mit dem WEU-Beschluß ist dieser Anspruch der BRD auf eine vollwertige eigenständige Verteidigungsfähigkeit gegen den Osten in den Rang eines westlichen Völkerrechts erhoben worden. Wer zweifelt daran, daß unsere Politiker, die so tatkräftig nach der Devise "Frieden schaffen mit immer mehr Waffen!" handeln, diesen Zugewinn an (Rüstungs-) Freiheit entsprechend benutzen werden. Schließlich paßt er genau in das neue NATO-Bedürfnis hinein, daß "das Bündnis" logischerweise im Anschluß an die Aufrüstung Westeuropas mit amerikanischen Atomraketen entdeckt hat: mehr, viel mehr "konventionelie" Aufrüstung. So viel davon, daß man dem Feind die bittere Entscheidung aufzwingen kann, entweder klein beizugeben oder selber Atomwaffen einzusetzen. Daß er letzteres nicht tut: dafür sollen die neuen Atomwaffen gut sein. Daß er eigentlich gar nicht anders kann: dafür gehört "konventionell" aufgerüstet. Eins ist fürs andere eben gar kein Ersatz oder eine Alternative; Atomwaffen und nicht-atomare Rüstung fordern und ergänzen einander. Die Atomraketen nützen um so mehr, je härter man die Russen "unterhalb der Atomschwelle" in Bedrängnis bringen kann; dies Bedrängnis zahlt sich nur dann als Kriegserfolg aus, wenn der Feind ein scharfes "Atomschwert" zu fürchten hat.
Der Beschluß, der BRD die dicksten "konventionellen" Kaliber zu erlauben, ist der Auftakt zu diesem Rüstungsfortschritt; und er ist zugleich das diplomatische Signal dafür, daß es der NATO um die Mittel für erfolgreiche militärische Erpressung der Sowjetunion geht.
Die diplomatische Abwicklung: eine einzige Feindschaftserklärung
Dagegen haben sich die Sowjetunion und ihre Verbündeten verwahrt. In einer diplomatischen Beschwerde weisen sie darauf hin, daß mit diesen Beschlüssen gegen Geist und Buchstaben von Nachkriegsverträgen verstoßen wird, die die Siegermächte dem besiegten Deutschland auferlegt haben; daß die Sowjetunion also hier übergangen und vor den Kopf gestoßen wird; daß damit eine neue Stufe der Bedrohung erreicht ist, die sich die Sowjetunion nicht einfach gefallen lassen kann... Bei dieser diplomatischen Note hat es die Sowjetunion zunächst belassen und damit auch noch ihren Willen unterstrichen, nicht gleich ihrerseits mit einem Gegenaffront zu antworten. Was hat sie damit erreicht?
Die Bundesregierung hat das als Gelegenheit genommen, die Sowjetunion öffentlich zurückzuweisen und zu diffamieren, ganz aus dem Geist des neuen Rüstungsbeschlusses heraus. Da folgt eine diplomatische Frechheit nach der anderen:
- "Einmischung" sei das, wie gesagt. Im Klartext: Wenn die NATO uns das bedingungslose Rüsten gegen den Osten erlaubt, hat die ehemalige Siegermacht Sowjetunion dabei nichts mitzureden und sich nicht auf Abmachungen von damals und später zu berufen.
- Übertriebenes Sicherheitsdenken sei das. Im Klartext: Die Sowjetunion darf sich nie, wir uns aber immer, 'bedroht' sehen.
- Man könne sich "keinen Reim darauf machen", warum die Sowjetunion plötzlich einen so unfreundlichen Ton anschlägt, wo doch alle Beziehungen mit ihr normal laufen. Im Klartext: Wenn wir rüsten, dann müssen sich die Russen verhalten, wie wenn nichts geschehen wäre.
- Die Bundesregierung habe keinerlei Absicht, strategische Waffen je zu produzieren. Aber: Das Recht dazu behält sie sich ausdrücklich vor; denn ohne die Freiheit, sich je nach Bedarf doch dazu zu entschließen, will der zweitgrößte NATO-Staat nicht mehr weitermachen.
Die bekanntlich so entspannungs- und abrüstungswillige Opposition haut kräftig in dieselbe Kerbe. Bahr warnt in Moskau bei "Abrüstungsgesprächen" die Sowjetpolitiker: "Auch für die SPD würde eine Fortsetzung solcher Vorwürfe (gemeint sind sowjetische Befürchtungen wegen der westdeutschen Aufrüstung) Konsequenzen haben." So demonstriert er mitten im Feindesland die unerbittliche Einigkeit aller Demokraten - die Sowjetunion in die Schranken zu weisen. Die erste Nutzanwendung des neuen Beschlusses ist also eine neuerliche, im frechen Ton kaum noch zu überbietende, diplomatische Kriegserklärung des Inhalts: Wenn wir gegen Euch Waffen aufstellen und immer neue Waffenprogramme beschließen, dann ist das unser gutes Recht und Ihr habt die Schnauze zu halten.
So spricht man, bevor man die Waffen sprechen läßt.