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Dieser Artikel ist in der MSZ 10-1984 erschienen.
Korrespondenz
"JESUS AUF SEITEN DER ELENDEN"
"Liebe Freunde!
Betr.: MSZ-Artikel "Hungern in Freiheit" (Nr. 6/84) und "Ach Gott!" (Nr. 7/8/1984)
Der Einsicht, daß die Hungergestalten der Kirche einen guten Dienst leisten, indem sie die christlichen Glaubensdogmen recht einprägsam bebildern, kann auch ich mich nicht verschließen; der Mensch ist ein nichtiger Erdenwurm, sündhaft und überheblich, weshalb es ihm oft so dreckig geht. Qual und Leid wird er aus eigener Kraft niemals loswerden können. Nur in Gottes Hand liegt es, erlöst zu werden, weswegen man fleißig beten und glauben muß. Gott wird's richten, sonst niemand, und er hat in Hunger ein Mahnmal seiner Macht und unserer Ohnmacht gesetzt.
Diese christlichen Glaubensinhalte kommen hier in Brasilien teilweise in neuem Gewand daher, dem der "Theologie der Befreiung" nämlich. Priester und Gläubige fordern im Namen Gottes eine materielle Verbesserung ihres Lebens, demonstrieren gegen politische Unterdrückung, besetzen Brachland von Großgrundbesitzern und sammeln Unterschriften gegen das Staudammprojekt von Tucurui. In den "Basisgemeinden" wird nicht nur gebetet und gesungen, sondern auch darüber geredet, wie man an billiges Brot und einen Abwasserkanal kommen kann. Jesus und die Bibel sind der moralische Berechtigungsausweis für solche Forderungen. Das Neue Testament stiftet die Gewißheit, daß man - obwohl reell arbeitsloser Favelado (= Slumbewohner) - als Kind Gottes aber ideell genauso eine Würde hat, wie der reiche Fabrikbesitzer und der dicke Bürgermeister, von denen man immer so schlecht behandelt wird. Jesus ist auf Seiten vor allem der Elenden, Armen und Unterdrückten.
Die Aussichtslosigkeit der eigenen Lage im Slum braucht einen gläubigen Christen also nicht an der umfassenden Macht der Liebe Gottes zweifeln zu lassen, sondern genau im Gegenteil: man muß nur den Anspruch, daß reale Zeichen der Liebe Gottes in der Welt trotz alledem dazusein haben, radikalisieren, indem man auf eigene Faust dem göttlichen Recht Geltung verschafft. Weil die Favelados so unverbrüchlich an Gott glauben, fordern sie ein weniger leidvolles Leben für sich von den weltlichen Autoritäten, und das jetzt in der selbstgerechten Gewißheit, die einzig wahren Träger von Gottes Plan mit der Welt zu sein. In diesem "Prozeß der Befreiung von Elend und Unterdrückung" wollen sie die Kraft Gottes sichtbar machen. Darum und nur darum geht es der "Theologie der Befreiung", also letztlich um dasselbe wie der alten Theologie, nur eben auf andere Art und Weise.
Indem diese lateinamerikanische Variante der Theologie sich nämlich für das Recht ihrer Anhänger auf Liebe, Würde und Bohnen stark macht, verweist sie neuerlich nur auf das eine: auf die Notwendigkeit, sein Schicksal in Gottes Hände zu legen. Ohne ihn geht gegen den Hunger nichts zu machen. Das ist der ganze "revolutionäre" Inhalt der Befreiungstheologie. Wenn hiesige Priester im Namen Gottes Brot und eine feste Behausung fordern, statt wie in Europa vor dem Götzen "Konsum" zu warnen, so betätigen sie sich letztlich nur als zeitgemäße Trommler für volle Gotteshäuser. Das einzige, was dabei für die Hungerleider rausspringt außer ab und zu einer Gratis-Gemüsesuppe, ist das stolze Selbstbewußtsein, mit seinen Tugenden der Armut - Opfermut, Solidarität usw. - Gott näber zu sein als so mancher Reiche. Wenigstens von Gott und seinen kirchlichen Verkündern wird man respektiert.
Folgerichtig warnen die Priester der Befreiung auch vor materiellem Reichtum und Egoismus, vor Marx und den kommunistisch beeinflußten Gewerkschaften, weil dort überall für Gott kein Platz mehr ist. Die menschlichen Ansprüche sind jedoch auf Erden zum Scheitern verurteilt, und der Himmel läßt sich hier letztlich nur in klitzekleinen Ansätzen vorschmecken, nämlich im solidarischen abendlichen Zusammensein der Basisgemeinde.
Gruß, G. K. Fortaleza, Brasilien"