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Dieser Artikel ist in der MSZ 4-1983 erschienen.
Frankreich
DIE MAIUNRUHEN DER CITOYENS
Angesichts der "Sparprogramme", die in Frankreich mit so ziemlich denselben Methoden wie hier durchgezogen werden, - nach dem Motto: ihr zahlt und wir belangen euch mit billiger Lohnarbeit, Arbeitslosigkeit, Armut und Raketen - nehmen sich die Maiunruhen der Reiseunternehmer, Rechtsanwälte, Studenten, Cafetiers, Kleinhändler und tutti quanti - bis auf die Arbeiter - als eine recht trostlose Angelegenheit aus.
In der produktiven Abteilung herrscht - dank der großen Gewerkschaften und der KPF - in den letzten Monaten Betriebsfrieden. Die letzten Streiks in der Autoindustrie fanden im November statt und wurden von Anfang an von den feinsinnigen Medien als "unfranzösich", "von Khomeinis und Maghrebinern aufgeheizt" denunziert. Die aktuelle Unzufriedenheit der Bürger trägt sich dagegen der Form nach viel militanter vor als die Lahmlegung von einigen Autofließbändern. Und dennoch können Kleinhändler, die mit Molotows die Pariser Börse schließen, Studenten, die Parkuhren zugipsen und sich Straßenschlachten mit der Polizei liefern, oder Bauern, die ein Gefängnis stürmen, in einem Finanzamt rumzündeln, etc. in der rechten französischen und ausländischen Presse mit einem gewissen Wohlwollen rechnen nach dem Motto: in der Sache recht, aber mit falscher Methode.
Straßenkampf für Privilegien
Daß das Volk im sozialistischen Frankreich geschröpft wird, ist eine öffentliche Selbstverständlichkeit - gerade so, als wären die proletarischen Existenzen genau dazu da und hätten genug zum Einsparen.
"Die Frage ist nur, wie lange die Gewerkschaften ihr Fußvolk (!) bei der Stange halten können",
fragt sich ein Menschenfreund in der "Süddeutschen Zeitung". Daß jedoch der medizinische Nachwuchs staatlicherseits verbilligt werden soll, gilt als unverschämte Attacke auf ehrwürdige berufliche Privilegien, als sozialistische "Gleichmacherei". Da stört nicht, daß Gesundheit als Sparposten, - "ein Loch in der Securite sociale" - behandelt wird; empörend soll sein, daß junge Ärzte demnächst als billige Stationshilfen auf Konkurrenzvorteile verzichten sollen; daß "das Privileg,... einige Jahre in der Ausbildungsphase unter berühmten Professoren gearbeitet zu haben", angetastet werden soll, bringt Medizinmänner zur Verweigerung ihrer Dienstleistungen. Und das Krankenhaushilfspersonal läßt sich bei den Streiks auch noch zu den nützlichen Idioten für Standesinteressen der Weißkittel machen. Der Medizinerstreik begann im April beim Hilfspersonal und den Assistenzärzten; weitete sich dann in der Fakultätshierarchie aus. Die "ganze Einheit des Spitalärztekorps" war sich sicher, daß hier am unpassenden Material gespart wird.
"Im Vordergrund bei all diesen Protesten stehen nicht so sehr materielle Foiderungen als eher der Wunsch, die Regierung solle von einer Neuordnung der medizinischen Laufbahn und einer Abänderung der Hierarchie im Ärztewesen Abstand nehmen",
zumal die Medizinerzunft behauptet, nach einer "Nivellierung von oben nach unten" gemeint ist die Abschaffung der staatlich finanzierten Privatbetten - vor lauter Sozialismus kaum noch Standesunterschiede zu kennen. Mit ihrer angestammten Berufsheuchelei streiten sie ausschließlich für eine bessere medizinische Versorgung - der Privatpatienten.
Die oft bebilderten Studentenstreiks - ZDF und ARD beliebten nur das Faktum und die staatliche Niederschlagung gleich ohne jede Aufklärung vorzuführen - sind von Juristen und Medizinern ausgegangen. Unter der Parole "Frankreich braucht Eliten" demonstrierten die Jungakademiker einträchtig mit ihren verkleideten Profs, unter deren Talaren die 68er Studenten einst 'den Muff von 1000 Jahren' entdeckt hatten. Und die aktuelle Umkehrung der alten linken Studentenparole 'Arbeiterkinder in die Uni' lautet 1983 "Keine Nichtabiturienten an die Hochschulen". Die französische Intelligenz ("Wir sind hier, weil die Reform die französische Intelligenz zerstört") sieht sich von einer sozialistischen Hochschulreform bedroht, die möglichst viel Studenten an die Uni lassen will, um aus den Massen mit verschärfter Selektion eine leistungsfähigere Elite für die Nation hervorzubringen. Vor dieser Reform war ganz fiktiv eine Bildungskatastrophe aufgemacht worden - als hätte es je an studierten Dienern mit dem entsprechenden geistigen Rüstzeug für Staat und Kapital gefehlt. Mauroy, der Mann, der mit dem Vorwurf einer international zu geringen Produktivität das französische Unternehmertum dazu auffordert, vermehrt die fortschrittlichen Methoden der Freisetzung von Arbeitern zu benutzen, will auf der anderen Seite einen bedenklichen Mangel a n Akademikern festgestellt haben. Ob Frankreich da nicht eine nationale Produktivkraft vemachlässigt hat:
"Kann die Regierung es hinnehmen, daß Frankreich bezüglich des Prozentsatzes junger Akademiker nur den achten Rang einnimmt?"
Nicht gegen ihre Verpflichtung auf's Wohl der Nation empören sich die Studenten, sondern dagegen, daß deren Organisation als Privileg nun durch gewisse Formen der Konkurrenz beeinträchtigt werden soll. Sie wehren sich gegen eine neue Eingangsprüfung zum Hauptstudium und verlangen von der Regierung einen numerus clausus gleich zu Beginn des Studiums, damit die nachrückenden Konkurrenten draußen bleiben - selbstverständlich in deren eigenem Interesse: "'Wo sollen die neuen Studenten unterkommen, wenn wir doch fast schon 1400 im 1. Jahr sind?".
Und weil dieser "unpolitischen" Elite - darauf sind sie stolz - die rechten Parolen gegen die sozialistische Gleichmacherei nicht fremd sind, kommt es in Paris und anderswo zu "antimarxistischen" Studentenmärschen, auf denen Mitterrand das Ende von Allende prophezeit wird. Da halten es die Linken - im Prinzip regierungstreu - für "höchste Zeit, die Straße nicht den Rechten zu überlassen!" Sie veranstalten - zwecks Verteidigung der Linksregierung! - Gegendemonstrationen, in denen die Öffnung der Universitäten begrüßt, die Verschärfung der Auslese aber bedauert wird, was nicht gerade von Einblick in den Zweck der Konkurrenz zeugt. Und sie entdecken in der geplanten Umbesetzung eines Univerwaltungsgremiums mit 1/6 Kapitalvertretem, 1/6 Gewerkschaftern und 1/6 Vertretern des sogenannteu öffentlichen Lebens den Einzug von schmutzigen Kapitalinteressen in ihre alma mater. So marschieren sie getrennt, spiegelverkehrt: Jura-Profs z.B. demonstrieren gegen die "Syndikalisierung" und "Banalisierung" der Wissenschaft, die die Hochschul-Reform angeblich mit sich bringt, unter dem gemeinsamen Kampfruf: "Facultes, liberte".
Das Freiheitsrecht auf Kleinhandel
Und auch die Krauter und Kleinhändler gerieten in Rage. Dem nationalen Korporationsgeist der akademischen Elite steht das Standesbewußtsein der Handwerker, Kleinhändler und -kapitalisten, - leutselig 'petits pations' genannt - in nichts nach. Sie münzen ihre Betroffenheit in puncto Steuerbelästigung, Bilanzschnüffeleien, staatlichen Zwangsanleihen, Geschäfts- und Handelsbeschränkungen z.B. über staatliche Preiskontrollen auch in ein standesgemäßes Biedermannsprogramm um. Die allerletzten Freiberuflerverbände führen ihre Mitglieder zu Tausenden und gleich mehrmals in einer "Defilee der Freiheit" quer durch Paris und die Provinzen. Gerade so als ob sie von Beruf Franzose wären, demonstrieren sie ihre Unzufriedenheit singend mit der Marseillaise und führen sich so auf, als sei das moderne Frankreich ein vorbürgerlicher Ständestaat, dessen Regierung zur pfleglichen Erhaltung ihrer vielzähligen Gewerbetreibenden und Respektierung von deren Würde verpflichtet sei. Die Kleinhändler protestieren als ehrliche Gewerbetreibende, um ihre Standesehre zu verteidigen, "Solidarität mit den Professionen, die öffentlicher Verfolgung ausgesetzt sind", weil angeblich einige unter ihnen von der Regierung als 'illegale Preistreiber' diffamiert worden sind. Irgendwie kann einem so ein Friseur oder Fischhändler auch mal leid tun. Wenn er die Durchsetzung 'schwerer Zeiten' a la francaise zu spüren bekommt, und selbst sein bornierter Protest von staatlichen Spezialisten, CRS, zusammengeschlagen wird, will er partout nicht bemerken, daß seine Obrigkeit in Paris ein anderes Programm verfolgt, als ausgerechnet die Zunft der Friseure zu fördern. Solche Untertanen, die aus ihrem Metier ein Anrecht auf professionelle Berücksichtigung basteln, bringen eben auch als Spitze ihrer Kritik am Regierungsprogramm nur den Berufsstandpunkt hin:
"Mitterrand, ein Inkompetenter, umgeben von Inkompetenten."
Als ob die Regierung einer imperialistischen Nation sich dadurch als "inkompetent" erweisen würde, daß die staatliche Beanspruchung der nationalen Wirtschaftskraft und die Maßstäbe der Kapitalakkumulation keine Existenzgarantie für kleine Privateigentümer enthalten.
Moderner Bauernkrieg
Die Bauern bekommen seit Jahren zu spüren, was es heißt, über den EG-Markt in Schrumpfexistenzen und wenige gewinnbringende Unternehmer sortiert zu werden. Ein Schweinezüchter aus Quimper:
"Die Preise sind so niedrig, daß wir nichts zu verlieren haben. Wenn wir nichts unternehmen, wird es die meisten von uns in einem Jahr nicht mehr geben."
Und sie rühren sich in bekannt militanter Form. Sie haben ihren M. le President ausgepfiffen, als dieser ihre Probleme mit den seinigen teilen wollte. Aber an dessen internationale Schuldnerideologie -
"Gewisse Formen des Wirtschaftsimperialisnius aus den USA... und Verbündete, die uns einen ökonomischen Krieg erklären, europäisches Komplizentum" -
glauben sie als bäuerliche Franzosen aufrichtig. So sehr stehen die Landwirte zum Ideal des 'produire francais', daß sie rasend vor Wut für die französische Wurst- und Schinkenproduktion mit Eisenstangen und Molotows ein bretonisches Gefängnis stürmen, Anstalt und Auppasser ramponieren, um zwei Kollegen zu befreien. Diese hatten wegen Einbruch in die lokale Wurstfabrik gesessen - wo sie die Unterlagen für ihren unnationalen Ruin finden wollten: deutsche Importzettel von deutschen Schweinen. In Paris führten sie in einem Demonstrationszug die leibhaftige Schande, einen deutschen Lastwagenfahrer, der zollfreies Schweinefleisch aus der CSSR geladen hatte; als "Gefangenen" mit.
Der Bauernprotest richtet sich nicht dagegen, daß und wie der EG-Agrarmarkt die Kapitalisierung der Landwirtschaft voranbringt, indem er auch diesen Berufsstand dem Kriterium der Rentabilität gleich international unterwirft und auf diese Weise ein europäisches Exportgeschäft gleichzeitig mit einem gesamteuropäischen Bauernlegen zustandegebracht hat. Ganz national-dumm bekämpfen die Bauern die ausländischen Konkurrenten als Ursache ihrer Schädigung und lassen ihrer Wut darüber freien Lauf, daß ihre Regierung nicht ihrer angeblichen Pflicht nachkommt, exklusiv die Landwirtschaft als die eigene Existenzgrundlage gegen französische Profite mit ausländischer Ware zu verteidigen. Und so lassen sie ganz respektlos ihrem Zorn, nicht als nationaler Nährstand gefördert zu werden, freien Lauf: Verwaltungsgebäude werden demoliert, Bullenautos landen im Kanal, das französische Grenzpersonal wird vorübergehend überflüssig gemacht, und in Brüssel haben sie - anläßlich der EG-Grenzausgleichsverhandlungen, die vor allem durch die Währungsschwäche Frankreichs anstanden - ihrem Landwirtschaftsminister gegen dessen europäische Komplizen Dampf machen wollen. Nachdem die
Französische Polizei
die ganze Zeit ihre Pflicht getan und die Demonstrationen abgeräumt hatte, nahmen die Polizeiorganisationen die Statistiken verletzter Polizisten samt zweier Todesfälle (bei einer Razzia im Pariser Nuttenviertel) zum Anlaß, nach deren würdevoller Beerdigung eine Demonstration des Inhalts zu inszenieren, die Polizei sei das eigentliche Opfer der sozialistischen Regierungspolitik. Mit der Forderung, der Justizminister - "Badinter, Mörder!" - und der Innenminister sollten zurücktreten, protestierten sie gegen die Liberalisierung des Strafrechts als eine einzige Untergrabung des Rechtsstaats unter Verletzung diverser Bannmeilen, was wachestehende Polizeikollegen - damit ist der Skandal perfekt - auch noch solidarisch zuließen. Daß mit dieser parteipolitisch gefärbten Demonstration der Ordnungskräfte, deren Berufsstandpunkt naturgemäß eher zu den umstandslosen Befürwortern von Ruhe und Ordnung tendiert, die an der Veranstaltung auch tatkräftig beteiligt waren, allerdings gleich die Ordnung selbst in Frage gestellt worden wäre, wie es diverse in- und ausländische Zeitungen wissen wollten, ist einigermaßen albern. Wenn Polizisten gegen eine ihrer Meinung nach "zu milde Behandlung von Kriminellen" und für so staatszersetzende Forderungen wie eine effektive Vorbeugehaft demonstrieren, erschüttern sie weißgott nicht die staatliche Ordnung. Die politische Antwort war dementsprechend: Mit der sofortigen Entlassung einiger Anführer aus dem Polizeidienst wurde klargestellt, daß Polizisten als fraglose Vollstrecker von Ruhe und Ordnung zu fungieren haben und daß ihnen das Politisieren auch nur als ihre Privatmeinung zusteht, während die politische Entscheidung über das Wie und Warum von Ruhe und Ordnung ausschließlich Sache der Gewaltinhaber ist.
Die zeigen sich dann umgekehrt, was die "Probleme" der polizeilichen Berufsausübung betrifft, durchaus verständnisvoll: Premierminister Mauroy hat seiner Polizei die Bildung eines Nationalrats zur Verbrechensbekämpfung zugesagt.
Wenig Betroffenheit bei der Regierung
Die sozialistische Regierung benutzt die Proteste - leicht verändert - agitatorisch für sich. Nach den Brüsseler Verhandlungen verkündet der neue Agrarminister Rocard "Die demonstrierenden Bauern sind eine Unterstützung für die französische Regierung", und die bedrohten Bauern werden stille - als seien ihre existenziellen Nöte inzwischen gut in Paris aufgehoben.
Auch gegenüber den übrigen Demonstrationen, Streiks und nachgereichten differenzierten demoskopischen Neigungskurven über die Figuren in Paris zeigen die Machtinhaber wenig Betroffenheit. Warum auch? Mitterrand kennt die conditio sine qua non seiner Macht ebenso gut wie die Presseheinis. "Was Mitterrands Mannschaft den Franzosen an Austerität zugemutet hat, hätte unter jeder rechten Regierung den Generalstreik ausgelöst."
Die Regierungsbeteiligung der Kommunisten und der damit auch von der Basis eingekaufte Betriebsfrieden, das praktische Stillhalteabkommen mit den entscheidenden Gewerkschaften CGT und CFDT überlalßt mit dem Prädikat 'Bewegung' den Veranstaltern der "Austerität" die ganze Fülle der staatlichen Macht.
...dafür viel Gewerkschaftssolidarität mit ihr
Gibt es schönere Treuebeweise als die gemeinsamen Gewerkschaftsdemonstrationen am 1. Mai, das gewerkschaftliche Bekenntnis zur prinzipiellen Gefolgschaft? Die Parole hieß schlicht: "Pour". An "Forderungen" war an diesem "Kampftag der Arbeiterklasse" zu hören, das Changement solle sich besser (!) im Alltag auswirken. Nur die relativ kleine rechte Gewerkschaft, FO, hat keine reine Dafür-Demo veranstaltet, - allein um sich in der Gewerkschaftskonkurrenz zu profilieren. Ihr einstündiger (!) Generalstreik am 18. Mai diente keinem anderen Zweck als der Selbstdarstellung:
"sie hat einen Test der Unzufriedenheit und der Mobilisierungskapazität durchgeführt."
Auf die entscheidende Grundlage seiner Macht kann Mitterrand sich also verlassen. Und das ist kein Geheimnis für niemanden. Hämisch tituliert die "Süddeutsche Zeitung" den Kommunistenchef Marchais als "Mitterrands Getreuer", und das ist er auch, denn die systematische Schädigung der Werktätigen reklamiert er als Abweichung vom Kurs, Frankreich stark zu machen:
"die französischen Werktätigen erwarten eine andere Logik, bei der das produire francais im Mittelpunkt stehe."
Mit der Sicherheit über den Gehorsam der Deppen der Nation im Rücken kann Mitterrand die Unzufriedenheit seines akademischen Nachwuchses arrogant abkanzeln: "Ein mittelmäßiges Theater", und sich auf die proletarische Unterstützung berufen: Die Gewerkschaften lassen "ihre" Linksregierung nicht von rechts angreifen. So wenig fürchtet Mitterrand die oppositionelle Unzufriedenheit seiner Bürger, daß er es sich erlaubt, mit der Schädigung ihrer Interessen für eben diese Benutzung der Staatsmacht Propaganda zu machen. Das eigentliche Opfer der sozialistischen Regierungspolitik will er selbst sein, denn wegen seiner volksfreundlichen Wohltaten sieht er die Reaktion marschieren. Weil die Verarmung der einen Sorte von Untertanen ohne Widerspruch über die Bühne geht - die Parteinahme der Gewerkschaften für "ihre" sozialistische Regierung gerantiert die staatstreue Interpretation dieser Opfer als unerläßliche Begleiterscheinungen auf dem Weg zum sozialistischen Fortschritt -, wird die Unzufriedenheit der anderen Sorte von Untertanen von deren Verursacher in der ganzen Arroganz der Macht von oben politisiert und umgedeutet: auf den sozialen Fortschritt in Frankreich zielen Angriffe von rechts. Weil die Gewerkschaften hinter der Regierung stehen und ihre Mitgliedschaft in aller Loyalität die gehörigen Opfer bringen lassen, wird der Protest der anderen für ungehörig erklärt, und die Sozialisten mobilisieren dagegen das Gerechtigkeitsgefühl ihrer proletarischen und gewerkschaftlichen Parteigänger. Mit der alten Parole der Arbeiterbewegung: Wenn Opfer, dann gleichmäßig und auch welche von den bessern Leuten, inszenieren die Vertreter des "Changement" ihre sehr unterschiedliche, weil funktionelle Inpflichtnahme der Nation dergestalt als Kampf um die soziale Gerechtigkeit. Den protestierenden Untertanen wird mit dieser Technik der Herrschaft die Rechnung aufgemacht: Unzufriedenheit gibt es nur als Mißbrauch von rechts - oder ihr seid für uns! Mauroy warnte die rebellierenden Studenten vor der Verführung "durch rechtsextremistische Elemente, und weil Extremismus immer schlecht ist, droht er allen,
"diese extremistischen Gruppen werden so bestraft, wie die Republik diejenigen bestraft; die sie nicht respektieren."
Ganz vom Standpunkt der uneingeschränkten Gewalt wird jedem Aufmucker mit dem Staat gedroht - Wer gegen uns ist, der ist selber schuld... Schulbuchmäßig - l'etat c'est moi - droht Mitterrand mit der 'Vertrauensfrage':
"Der erste Verantwortliche im Staat bin ich. Nicht die Straße, sondern ich selbst habe zu entscheiden."
Eine einzige Demonstration von oben, daß die sozialistische Verpflichtung. auf's Volk keine Skrupel gegenüber dem Einsatz der Staatsmacht gegen dessen Proteste kennt.
Schadenfreude beim deutschen Erbfreund
Diese unverfrorene Technik der Herrschaft ist in der hiesigen Presse nicht Gegenstand. Im Hochgefühl der bundesdeutschen Beendigung "sozialistischer Experimente" wird schadenfroh am Beispiel Frankreich über deren Unvernunft herumraisonniert. Französische Anklagen gegen den deutschen Konkurrenzerfolg werden mit dem scheinheiligen Hinweis auf das eigene angeblich sozialistische "Über-seine-Verhältnisse-leben" zurückgewiesen. Und während auf der einen Seite die französiche Ausgabe des "Sparprogramms" als Rückkehr zur Vernunft gewürdigt wird, verfolgt man auf der anderen Seite mit dem gleichbleibend gehässigen nationalen Interesse die jetzigen Auseinandersetzungen als typische "Fehler" der "sozialistischen Gleichmacher". Die werden in deutscher Gründlichkeit gleich zu einer existentiellen Gefährdung der französischen Staatsmacht aufgebauscht - statt die höheren Stände anzugreifen, sollte sich Mitterrand lieber den deutschen - 'sozialen Frieden' zum Vorbild nehmen.
"Sozialismus in der Klemme?" wird scheinheilig gefragt und die Bilder von zusammengeschlagenen Studenten und entlassenen Polizeipräsidenten sollen die Antwort geben, na, klar! - auch wenn sie gerade das Gegenteil bezeugen. Für das Bild vom angeschlagenen französischen Sozialismus lügt die Journaille bei.der 'Berichterstattung' über die Unruhen wie gedruckt, um z.B. die Demonstration der Polizei mit der Forderung nach Vorbeugehaft (!) und Verstärkung der Polizeimittel in einen schweren Schlag gegen die Pariser Regierungsmannschaft zu verwandeln.
Das Urteil, daß Mitterrand eine schwache Demokratie anführt, wenn soviel Leute das Recht auf freie Meinung und Demonstration mißbrauchen, läßt die deutsche Presse flugs nach einer "stärkeren" Ersatzmannschaft Ausschau halten, die gleich auch noch eine staatsmännische Rüge erteilt bekommt:
"Weder Gaullisten noch UDF beeilten sich aus dieser Schwachstelle Kpaital zu schlagen." "Es blieb im Lager der Rechten erstaunlich still.",
ganz so, als würde hier die Parteiopposition in Brokdorf oder bei Anti-NATO-Demonstrationen in den ersten Reihen marschieren.
"Der Opposition paßt der Kampf auf der Straße nicht. Gaullisten-Chef Chirac meldet sich in Paris als Staatsmann und nicht als 'junger Wolf' zu Wort." -
Diese demokratische Presse, deren einzige Sorge stabile Herrschaft anderswo ist, spekuliert jetzt schon auf "vorgezogene Neuwahlen" und bedauert, daß für die Machtübernahme keine Mannschaft nach ihrem Geschmack bereitsteht.
"Für eine Wachablösung, käme sie morgen, fühlt sich die Opposition nicht reif."
Ohne jeden demokratischen Schnörkel wird Bonn für Paris als Musterexemplar in Sachen gelungener Ermächtigung vorgestellt. So sehen die Wunschträume demokratischer Pressefritzen aus: sich selbst ein befreundetes Nachbarland als Kopie deutscher Herrschaft vorzustellen.