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Dieser Artikel ist in der MSZ 12-1983 erschienen.

Systematik


DEUTSCHE DEMOKRATIE 1983

Eine Staatsform präsentiert sich - als Argument für sich!

Im privaten Leben zählt das Eigenlob nicht gerade zu den guten Sitten. Mit der demonstrativen Rechtschaffenheit und der Angeberei mit den Vorzügen, die man an sich selbst entdeckt, macht man sich unbeliebt und verdächtig. Anders in der Politik. Gewissermaßen als oberster Grundsatz der "politischen Kultur" rangiert da das Bekenntnis zu den unbestreitbaren Vorzügen der eigenen Staatsform.

Die maßgeblichen Herrschaften vermelden mit einigem Stolz, daß sie das Land demokratisch regieren. Demokratisch regiert zu werden gilt aber ebenso als Anlaß zu Bekenntnissen, in denen ganz gewöhnliche Leute betonen, daß sie es gut getroffen haben mit ihrem Staat. Der ebenso üblichen wie bornierten Wertschätzung der Besonderheit von Land und Leuten, von zufälligen wie notwendigen Eigen- und Unarten, wird da von ihren "Inhabern" ein über-nationales Kompliment hinzugefügt: "Wir leben in einer Demokratie!"

Für die offiziellen Vertreter des Staates ein unwidersprechliches Gütesiegel ihres Amtes und der Politik, die sie treiben! Welche Maßnahmen die Staatsführung auch vollzieht - ob aus der Beratung im Parlament nun ein Parteiverbot oder eine Steuererhöhung, ein Beitragssatz für Versicherungen oder die Anschaffung neuer Waffen hervorgeht -, in ihrer "Eigenschaft", demokratisch zustandegekommen zu sein, gebührt ihnen Respekt. Wo demokratisch entschieden, verwaltet und geführt wird, relativieren sich alle Einwände von Betroffenen sehr grundsätzlich. Die Unzufriedenheit mit Inhalt und Wirkung von staatlichen Regelungen sieht sich mit einer prinzipiellen Zurückweisung konfrontiert. Schließlich weist die Befolgung des demokratischen Amtsweges die Träger der politischen Macht als Instanzen der Freiheit aus, deren Beschlüsse in Ordnung gehen. Die demokratische Vernunft, die nicht Staatsraison heißen will, beruft sich auf das Recht und erhebt es zum Qualitätsprädikat aller staatlichen Ge- und Verbote. Jenseits von und über den Beschränkungen und Pflichten, die gewöhnlich für die Mehrheit aus den gesetzgeberischen "Leistungen" erwachsen, besteht besagte Sorte Vernunft darauf, daß der demokratische Rechtsstaat m Recht ist. In der Einhaltung der demokratischen "Spiel"regeln behaupten die Parteigänger dieser Staatsform etwas sehr Ernstes entdeckt zu haben: ein prinzipielles Einvernehmen zwischen Regierenden und Regierten. Und daran, daß sie dieses Einvernehmen immerzu ein klagen und verlangen, es möge hergestellt werden, fällt ihnen nicht ihre Lüge auf.

Ein Rechtstitel für eine Staatsgewalt

Mit der zur Dauerveranstaltung entwickelten Beweihräucherung ihrer Staatsform rechtfertigen engagierte Demokraten keine einzige Verfahrensweise im Hin und Her zwischen Staat und Bürgern. Gerechtfertigt wird die Politik, und zwar einzig mit dem Hinweis darauf, daß ihre Entscheidungen eben Resultate jener Verfahrensweisen seien. Eine Prüfung der Maßstäbe, nach denen die Regierung Wirtschafts-, Sozial- und Militärpolitik treibt, macht sich da erst einmal verdächtigt. Die Methode, mit der die zuständigen Volksvertreter zu Werke gehen, ist schon für sich ein Argument gegen Interessen, die sich gegen den Staat behaupten wollen.

Dabei ist den Sprachrohren der Demokratie immerzu klar, daß die Anerkennung obrigkeitlicher Maßnahmen, welche sie mit dem Fingerzeig "Demokratie" für fällig erachten, nicht in einer Harmonie von staatlichen Interessen und denen von Bürgern ihre Grundlage hat. Die einschlägigen Gegensätze sind ihnen sehr geläufig, und ihr Anspruch auf demokratischen Konsens richtet sich sehr einseitig gegen jegliches vorhandene oder eingebildete Interesse im Land, das ihrer demokratischen Regierung in die Quere kommen könnte. Wenn Fans der Demokratie "Freiheit" sagen, dann sagen sie immer jemandem den Preis an, den dieses extrem hohe Cut gerade wieder kostet. Mißbrauch der Freiheit wittern sie immer dann, wenn eine Abteilung ihres "mündigen Bürgers" die, gewährte Freiheit benutzen will und sie daran mißt, was herausspringt. Umgekehrt verdient das ausführende Organ der Freiheit, der Staat, der sie gewährt, den Geleitschutz ihrer eintönigen Argumentation. Die geht so weit, daß jegliches Vorgehen gegen staatliche Maßnahmen oder Vorhaben mit dem Prädikat Gewalt in den Bereich des Untragbaren hineindefiniert wird. Spiegelbildlich, um einmal zwei demokratische Zeitungen zu nennen, verliert der Staat mit dem Prädikat Recht seinen Gewaltcharakter: die Pleonasmen "Machtpolitik" und "Gewaltherrschaft" reserviert die demokratisch zurechtgestutzte Vernunft für alle, die sie außen und innen zu Gegnern des verehrten Gewaltmonopols erkoren hat.

Da die Demokratie als das Non-plus-ultra "menschlicher" Politik sich einfach nicht in Frage stellen läßt, hat sie auch das Recht, sich den größten Militärapparat aller Zeiten zuzulegen. Wozu, ist offenkundig. Um "die Freiheit und Gerechtigkeit zu verteidigen, worauf unsere Demokratien beruhen." (NATO-Erklärung) Auch in diesem Falle stört die Lüge, Staaten würden sich wegen ihrer Methoden im Verkehr mit den Untertanen in die Haare geraten" kein bißchen.

Eine Heimat für bescheiden gemachte Untertanen

Daß Demokratie zumindest eine relativ feine Sache ist, lassen sich gerade in der BRD auch die Angehörigen der Mehrheit einen ebenso verkehrten wie abstrakten Gedanken wert sein. Seit der Gründung dieser Republik dazu aufgefordert, den Vergleich mit dem deutschen Vorgängerstaat aufzumachen, haben sich Alt und Jung - aus persönlicher Erfahrung oder aus erzieherisch inszenierten Feierstunden und Holocaust-Filmen "begründet" - zu Bekennern in Sachen " Freiheit" gemausert. An ihrem Bekenntnis - "Diese Demokratie verschont einen doch wirklich mit Drangsalen, die unter einer faschistischen Diktatur an der Tagesordnung waren!" - könnte ihnen freilich einiges auffallen.

Erstens, daß sie davon Abstand genommen haben, die "Leistungen" des Staates zu beurteilen, in dem sie leben. Zweitens, daß sie vom Standpunkt eines Bürgers aus reden, dem das Mitmachen die selbstverständlichste Sache von der Welt ist - so daß er sich unter jeder Fuchtel immer nur einfallen läßt, was an Dienst und Gehorsam anfällt. Drittens sind sie, obwohl sie nie eine "Alternative" angestrebt haben oder nach einer gefragt worden sind, auf eine sonderbare Illusion verfallen; nämlich die, sie hätten sich nach gewissenhafter Prüfung für die jetzige Staatsform entschieden.

Entschieden haben sie sich dabei schon - für das Mitmachen im demokratischen Zirkus, und zwar unter Zuhilfenahme des, wie gesagt: abstrakten Arguments, es gäbe "Systeme", die ihren Leuten noch ganz andere Sachen abverlangen. Unter Absehung von ihren praktischen Schwierigkeiten, über die Runden zu kommen, sind sie zu dem Befund gelangt, ihrem Staat die Treue zu halten. Und dies ausgerechnet mit dem "Argument", das denen, die den Staat machen, immerzu in den Sinn kommt.

Die bundesdeutsche Fortsetzung ist bekannt. Nicht nur Hitler ist ein Argument für Kohl und Carstens, sondern auch der Russe. Mit dem kleinen Unterschied zu dem toten deutschen Staatsmann, der so viel verlangt und dennoch den Krieg vergeigt hat, daß diese Abteilung "Keine Demokratie" noch vorhanden ist. Wenn dann die Herrschaften, die so gnädig sind, Gedankenfreiheit zu gewähren und andere Gnaden der Demokratie, auch noch glaubhaft behaupten, daß sie im östlichen Staatswesen auf ein erhebliches Hindernis treffen, ist der Fortschritt auch dem bescheidensten Gemüt nicht verschlossen. Es darf nicht nur dankbar sein gegenüber seiner Nation, sondern auch einmal anspruchsvoll - im Namen der Freiheit. Bei dieser Übung, in welcher ganz brave Leute sich hinter einen sehr folgenreichen Rechtstitel ihres Staates stellen, sind die Statisten der Demokratie schon zu den Opfern unterwegs, die einem regierende Demokraten angeblich ersparen - im Unterschied zu in Verführungs- und Unterdrückungskünsten bewanderten Diktatoren. Aber das ist kein Wunder.

Wer nämlich das Leben in einem demokratischen Staat der großen Freiheit wegen für lohnend befindet, stellt sich auch der Freiheit zur Verfügung. Nicht erst dann, wenn ihn die Freiheit wissen läßt, daß es mit ihr aus ist, weil sie Sorgen mit ihren Feinden hat. Daß sich mit der Freiheit, für die man so dankbar sein darf und brav bleibt, weder das Ideal aller Unzufriedener, das Glück einstellt noch bescheidenere Wünsche in Erfüllung gehen merkt mancher. Auch, daß die Handelsvertreter der Freiheit deren Preis eintreiben und die freie Marktwirtschaft Saus und Braus in eigentümlicher Weise verteilt. Diese Erfahrungen beflügeln allerdings dienstbare Gemüter nicht dazu, die, Verwechslung von Freiheit und ihrem Fortkommen zu unterlassen. Lieber bestehen sie auf der Freiheit und Demokratie, für die sie geradestehen - und widmen sich dem forschen Rundblick in den Kreis ihrer Mitmenschen. Dort machen sie dann alle aus, welche die Freiheit mißbrauchen, schließen messerscharf, daß deswegen wohl für sie selbst so wenig berausschaut - und raten den Zuständigen, das demokratische Regieren ein bißchen ordentlicher zu gestalten.

Schuldige und Schädlinge; Leute, die sich zu viel herausnehmen, denen es am Anstand fehlt, den man selbst an den Tag legt; Typen, die die Freiheit weiß Gott nicht verdienen, und fünfte Kolonnen - all das sind die Entdeckungen, in denen sich kreuzbrave Bürger ihre Mißerfolge zurechtlegen. Und nicht nur das. In diesem ihnen tatsächlich gewährten Genuß werden sie sogar zu Kritikern der gerade fremden Demokraten: zu lasch sind sie, und jeder macht, was er will. Das geht nicht.

Da trifft es sich gut, daß zur Demokratie auch eine demokratische Erziehung gehört. So kann wenigstens jedes Schulkind aufsagen, worin die Vorzüge der Demokratie bestehen, Im Hochhalten dieser Vorzüge leistet es seinen Beitrag zur Erhaltung dieser relativ feinen Sache und weist gemeinsam mit allen gelehrten Liebhabern dieser Staatsform alle Extreme zurück. Die rechten Kritiker erinnert es daran, daß ihre Einwände in der Demokratie ganz gut zum Zuge kommen. Und die linken macht es darauf aufmerksam, daß ihre Feindschaft gegen den freiheitlichen Staat nur in diesem möglich ist. Deshalb sollten sie ihn nicht aufs Spiel setzen und an ihm herum machen, bloß weil die meisten Leute nichts von ihm haben. Ein rechtes Kind der Mitten weiß nämlich, was "wir" von der Demokratie haben und an ihr schätzen dürfen:

Erstens leben wir in einem Rechtsstaat. Da geht es vorschriftsmäßig zu, und bei gründlicher Lektüre der Gesetze weiß man, woran man sich zu halten hat und was erlaubt ist.

Zweitens gibt es freie Wahlen, so daß die Bürger selbst entscheiden, wer die Gesetze macht. Sie lassen nur die regieren, die ihnen passen - und wenn sie nicht zufrieden sind, können sie das nächste Mal andere wählen. Oder selbst einer Partei beitreten und das passive Wahlrecht auskosten.

Drittens gibt es eine pluralistische Öffentlichkeit, in der alle ihre freie Meinung vertreten dürfen. Da kann man jeden von allem möglichen überzeugen oder sich überzeugen lassen, das gibt eine Willensbildung für die Wahlen - und so nimmt man Einfluß auf die rechtsstaatliche Politik. Kritik ist möglich.

Diese drei Sonderangebote der Demokratie sollen, wann immer sie ausgegeben werden, natürlich für sie sprechen. Auch 1983 in der Bundesrepublik. Und das fordert einen kleinen Warentest heraus, der Qualität und Preis gleichermaßen berücksichtigt.

Die Herrschaft des Rechts

anerkennt und schützt die Interessen der Bürger, aber nur die rechtmäßigen. Die anderen bleiben auf der Strecke. Insofern unterstützt der Rechtsstaat die Bürger kräftig - beim Unterscheiden zwischen ihren Anliegen und dem, was erlaubt ist. Wenn sie diesen Unterschied nicht beherzigen, greift der Rechtsstaat ein - und zwar nach dem Geist der Gesetze, die er erlassen hat. Dabei vermeidet er auch heute jeden Schaden - für den Rechtsstaat und die Verfassung, auf der er gründet. Sogar bei seinen eigenen Unterabteilungen achtet er auf die Einhaltung der Verfassung.

Einige Schäden allerdings lassen sich auch '83 nicht ganz vermeiden. Das geht aber auch nicht anders in einem Rechtsstaat, der es im Interesse der sozialen Marktwirtschaft und der Freiheit für rechtens befindet, Person und Eigentum zu schützen und auch das Geld, nach dem jeder Reichtum geschätzt wird.

Wenn Geldvermehrung ein Recht für freie Bürger ist, das der Staat schützt, dann kann er den ausgiebigen Gebrauch der Natur für dieses Recht den Bürgern auch nicht vorenthalten. Sie dürfen, wenn sie sich ein Eigentum erworben haben, auch eine Fabrik darauf stellen. Wenn ihr Betrieb floriert, ist es recht. Und wenn darüber die restliche Natur für den Privatgenuß der meisten Leute unbrauchbar wird, so ist die "Umwelt" ein Problem. Aber noch lange kein Recht. Das Umweltministerium macht Gesetze, in denen steht, wieviel ab sofort kaputt gemacht werden darf - und das Innenministerium macht Gesetze, damit sich die Umweltdemonstranten nicht an bestehenden Rechten vergehen. Nicht an solchen des Staates und auch nicht an denen der Bürger, die für die Geldvermehrung - ihr Recht - etwas unternehmen. Damit wir weiter in einem Rechtsstaat leben.

Umsonst ist nichts, wenn das Recht herrscht, alles seinen Preis hat und das Nachmachen von Banknoten Unrecht ist. So müssen viele durch Arbeit an Geld kommen, und der Rechtsstaat gestattet das auch. Freiheit ist Freiheit! Schaden tritt allerdings in zwei Fällen ein: Erstens, wenn man immerzu arbeiten geht und seinen Lohn verdient. Die Arbeitsplätze sind nicht fürs Vergnügen, sondern für die Geldvermehrung eingerichtet, zudem wenig gesundheitsfördernd. Da heißt es sich einteilen, mit dem Geld und der Gesundheit. Und mit beiden kommen viele nicht so recht aus. Das ist aber in einem Rechtsstaat kein Problem. Für die Gesundheit können die Leute ja zahlen - die Zwangsversicherung erledigt das pünktlich. Und ansonsten gibt es eben "sozial Schwache", auf die der Rechtsstaat unter Respektierung ihrer Menschenwürde aufpaßt. Eine "Solidargemeinschaft", vom Staat in allerlei Kassen organisiert, betreut diesen Menschenschlag - und schafft die "gesetzliche Grundlage" dafür, daß alle gleichermaßen ihrer Pflicht nachkommen.

Zweitens tritt Schaden ein, wenn die freie Wirtschaft Leute nicht oder nicht mehr braucht, die das Recht darauf haben, mit Arbeit ihr Geld zu verdienen. Für diesen Fall klärt der Rechtsstaat streng rechtsstaatlich, was er ihnen aus den Kassen der entsprechenden Versicherung gibt und was er von den zahlungsfähigen, weil verdienenden Lohnabhängigen eintreibt. Das regeln einvernehmlich und gemäß der Verfassung Finanz- und Sozialministerium; dabei kommt schon manchmal ein "Sparprogramm" heraus, aber die entstehende Armut ist rechtsstaatlich geregelt. Für den Fall, daß auch noch "sozialer Sprengstoff" entsteht, gibt es Gesetze über erlaubte und verbotene Kampfmaßnahmen der Betroffenen. Das Recht darf natürlich nicht verletzt werden.

Auch dann nicht, wenn der Rechtsstaat für den Schutz seiner Rechtsordnung und der aus ihr sich ergebenden außenpolitischen Interessen "Streitkräfte aufstellt", wie es die Verfassung gebietet. Das Interesse an einem guten Leben leidet darunter schon, und der Verteidigungsfall ist kein Honiglecken. Nur darf der Rechtsstaat, der mit seiner Gewalt sämtliche Rechte schützt, sich am allerwenigsten in Frage stellen lassen. Auch Raketen sind eine Pflicht für jeden, der im Rechtsstaat, also von ihm lebt und abhängt. Das Innenministerium macht deshalb, gewissenhaft rechtsstaatlich, gerade für die äußere Sicherheit das Recht der Bürger - die innere Sicherheit - zur ersten Pflicht. Polizei und mehrere Abteilungen Geheimdienst, die im Rechtsstaat natürlich "Verfassungsschutz" und so heißen, widmen sich der leicht begreiflichen Aufgabe: Was Recht ist, muß Recht bleiben!

Die Qualität der Ware "Recht", die hier nur in ihren volkstümlichsten Absatzgebieten des Jahres '83 geprüft wurde, ist recht ansprechend.

Wer nicht allzu anspruchsvoll ist und auf die außerrechtlichen Begleitumstände des Rechtsstaats nicht überempfindlich reagiert, wer auch etwas einzustecken bereit ist, hat im Recht ein verläßliches Instrument, sich einzurichten.

Wer freilich jede Beeinträchtigung seiner Interessen gereizt registriert und gar auf die Durchsetzung seiner Anliegen sinnt, kommt in den kritischen '80er Jahren leicht mit dem Rechtsstaat in Konflikt. Der Preis ist, wie bei allen Qualitätswaren, gesalzen. Deshalb ist es geraten, den zweiten Weg zu gehen und - etwas, was wir selten empfehlen - zu verzichten. Dies um so mehr, als die "Garantien" des Rechtsstaats sich zunehmend darin erschöpfen, seinen fristgemäßen Fortschritten Respekt zollen zu dürfen. Was ja schon aus dem Argument "Rechtsstaat" hervorgeht: ein Gewaltmonopol, das man weniger aus einem positiven Interesse heraus schätzen soll, als gemäß einem negativen Maßstab: "Er könnte ja auch machen, was er will der Staat!" Wer mit diesem Irrealis im Kopf den Rechtsstaat begrüßt und achtet, dem wird die BRD der '8Oer Jahre die Leistungsfähigkeit des Rechtsstaats noch eindringlich demonstrieren.

Daß er nicht willkürlich verfährt, bestätigt der Rechtsstaat 1983 durchaus, vor allem in der gesetzgeberischen Tätigkeit, welche die "brisanten" Themen der von ihm verwalteten Gesellschaft betrifft. Daß er sich deshalb von Bedürfnissen und Interessen der betroffenen Mehrheit abhängig macht, ist den einschlägigen Werken kaum zu entnehmen. Sowohl in der Sozialpolitik wie in Rüstungsfragen schafft er neue Maßstäbe der Betroffenheit und Pflicht für seine freien Bürger, und dies nicht ohne den expliziten Fingerzeig darauf, daß seine Maßnahmen wegen ihrer rechtsförmlichen Abwicklung eine Infragestellung nicht dulden. Der "totalitäre" Anspruch des Rechtsstaates wird von der Regierung sogar als tägliche Anti- Kritik vorgetragen und organisiert. Das Recht des Souveräns auf eine keimfreie "innere Sicherheit", auf die Unanfechtbarkeit rechtsstaatlicher Entscheidungen, die allein die Handlungsfreiheit des Staates garantieren, darf nicht leiden. Dies ist der ganze Inhalt der "geflügelten Worte" von Kohl: "Wir schreiben 1983 und nicht 1933!" Von Zimmermann: "Es gibt kein Widerstandsrecht!" Aber auch von Glotz (SPD), dem anläßlich von Demonstrationen die "Kulturleistung des staatlichen Gewaltmonopols" einfiel.

Der Deutung all dessen, was erlaubt ist, weil für seinen ökonomischen Erfolg nützlich, als großartige "Rucksicht" auf die individuelle Freiheit hat dieser Staat freilich nichts entgegenzusetzen. Wenn seine Bürger ihre Einschränkungen mit dem literarischen Schreckensbild "1984" vergleichen und für erträglich befinden, so ist ihm dies schlicht ein Index für die vorhandene Bereitschaft zum Mitmachen. Verlassen tut er sich nicht darauf - die rechtmäßige Abschaffung auch der rechtsstaatlichen Formalitäten ist ja längst vorgesehen und die Lebensmittelkarten sind gedruckt.

Freie Wahlen - Konkurrenz um die Macht

Mit der Abgabe seiner Stimme wird dem Bürger zweifelsohne ein Recht eingeräumt. Nur worauf?

Die diesbezüglichen Klarstellungen waren in den letzten Wahlen der Bundesrepublik kaum mißzuverstehen. Einerseits waren Versprechen der Art, der Mehrheit der Regierten stünden ein besseres Leben oder wenigstens mehr "Chancen" in Aussicht, im gesamten Wahlkampf nicht zu vernehmen. Da standen "Opfer und Leistung " contra "gerechte Verteilung der Opfer", soweit überhaupt die Rede von den gewöhnlichen Anliegen der Mehrheit war. Die Erhöhung der Staatsschulden für gar nicht geheime Zwecke nahm einigen Raum ein - und die Einschränkung der fälligen Aufstockung dieser Schulden wurde der Abteilung "Sozialstaat" mit der größen Selbstverständlichkeit übertragen. Dabei wollte jeder der großen Kontrahenten dasselbe besser machen, und die wechselseitige Kritik spielte sich wochenlang in Gestalt des Vorwurfs ab: "Wer vergeigt den Staat? - Ihr!". "Uns gebührt das Recht auf die Macht" - wurde ohne Umstände für eine werbewirksame Parole gehalten - und sie war es auch.

Das Recht der Bürger auf Ermächtigung stand schlicht auf der Tagesordnung. Und die Entscheidung wurde ihnen mit lauter Notwendigkeiten der Politik ans Herz gelegt, die ihnen nichts Gutes verheißen. Der alte Typus der Wählerwerbung, die sämtlichen Interessengruppen etwas Spezielles verspricht, um dann die Relativierung aller "Leistungen" durch alle anderen vorzunehmen, war nicht gefragt. Eine Übersetzung privater Nöte in politische Programme, in denen sie dann vor lauter "Sachzwängen" verkommen und mit einem "leider" verabschiedet werden, hielten die Anwärter auf die Regierungsmacht für überflüssig. Nur noch eine Technik ist von Interesse gewesen: die dauernde Trennung zwischen nationalem Anliegen und dem der Regierung.

So sehr verlassen sich die Berufsdemonstranten in Sachen Regierungskunst auf die verlogene Gleichung "erfolgreiche Nation = erfolgreiche Bürger" inzwischen, daß sie im Namen einer Politik der Stärke erst einmal die zweite Hälfte der Gleichung tilgen. Für die Nation hat jedermann geradezustehen, und der verdient die Führung - in der BRD ist dieses Wort längst nicht mehr mit vergangenheitsbewältigenden Bedenken verbunden -, der Stärke nach außen- (ökonomisch und militärisch) am konsequentesten damit verbindet, im Inneren die fälligen Opfer einzutreiben.

An "Argumenten", die den totalen Staatsbürger forderten - die früher einmal mit dem Verdacht "faschistoid" belegt worden wären -, hat es da wahrlich nicht gefehlt. "Schwäche" in der Versehung des Regierungsauftrags wurde zum kritischen Schlager, so daß die "Handlungsunfähigkeit" einer mit ihrem Fußvolk diskutierenden Regierungspartei durch die "Politik der Wende" abgelöst gehörte - und wurde.

Die Einflußnahme des Wählers auf die Politik war damit auch schon gelaufen. Er hat entschieden, welche Mannschaft sich auf seine Kosten um den Erfolg der Nation kümmern darf. Und bewiesen, daß die Konkurrenz m die Macht dieser am allerwenigsten schadet. Seit ihrem Amtsantritt weist die neue Regierung jeden Einwand gegen ihre Taten einfach damit zurück, daß sie schließlich ermächtigt worden sei und jeder von ihr mehrheitlich erwirkte Umgang mit Raketen, Löhnen und Profiten, Arbeitslosen und Rentnern schlicht legitim. Diese Leuten wissen eben, was sie am Rechtsstaat und freien Wahlen haben.

Auch auf den Genuß des demokratischen Schlagers "freie Wahlen" sollten Untertanen des Staatswesens Deutschland-West lieber Verzicht tun. Er ist weder attraktiv noch preiswert - es sei denn, man hält sich etwas darauf zugute zu entscheiden, wer einen deckeln darf.

Freiheiten

werden in der Demokratie gewährt, damit sich das Volk bewährt. Sie sind Mittel, die unser Staatswesen einsetzt, verändert oder auch ganz fallen läßt kein oberster Haupt- und Generalzweck. Weder des freien Westens noch seiner führenden Nationen. Damit der Bürger ans Verfassungsgericht appellieren kann, an ein paar Sonntagen pro Jahrzehnt wählen und zu allem seine freie Privatmeinung äußern darf - dafür bietet das größte Militärbündnis der Weltgeschichte doch seinen Atomkrieg nicht auf.

Und der Bürger soll sich dafür aufbieten lassen?