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Dieser Artikel ist in der MSZ 1-1982 erschienen.

Wissenschaftliche Revue (III)
DIE RADIKALISIERUNG DER WISSENSCHAFTSTHEORIE

Die Erklärung der politischen Zwecke aus allgemein-menschlichen Unerklärlichlceiten, wie in der Krisenphilosophie, oder ihre Hinnahme als politisch-sachgesetzliche Selbstverständlichkeiten, wie in der nationalbewußten Thematisierung von Geschäft und Gewalt, sind ihrem Inhalt nach Absagen an Wissenschaft überhaupt. Nicht bestimmte Behauptungen, sondern schon alle Anstrengungen, etwas noch zu begründen, werden damit für überflüssig erachtet. Theoretische Wahrheit und praktische Geltung der Theorie werden von der modernen Wissenschaft nur noch dort in Anspruch genommen - dort allerdings auch absolut -, wo sie sich selbst zum Gegenstand hat: in der Wissenschaftstheorie.

Der Zweifel an der Möglichkeit objektiver Erkenntnis begleitet die bürgerliche Wissenschaft neben ihren jeweiligen Einlassungen zur Sache beständig, als methodologische Selbstreflexion oder als eigenständige Wissenschaftstheorie. Eines steht dabei unabhängig von der Kenntnisnahme einzelner Bedenken gegen problematische "Wahrheitsansprüche" der Theorie oder jener Ideen fest, die Wissenschaftstheoretiker sich über eine "wirkliche" (nur leider noch nirgends praktizierte) Wissenschaft so denken können: Wer seinen Argumenten immer die Beteuerung vor- und nachschickt, er sei sich prinzipieller Irrtumsmöglichkeiten bewußt und wolle von der Geltung seiner Erklärungen nur im Sinne eines Ideals reden, das er selbstverständlich nur näherungsweise erreichen könne, der befleißigt sich einer Relativierung seiner Theorie, die mit dem Eingeständnis von Fehlern gar nicht identisch ist. Im Gegenteil: Gerade im Namen einer ganz grundsätzlichen - von irgendwelchen Behauptungen über einen bestimmten Gegenstand und deren Wahrheit bzw. Fehlerhaftigkeit also wohlunterschiedenen - Unzulänglichkeit von Wissenschaft überhaupt fordert ein solcher Theoretiker jeden, der ihn kritisieren will, zum Verzicht auf einen Streit um die Sache (der ist ja "unmöglich", wegen der angeblichen Natur der Wissenschaft) und zur Anerkennung seines von dieser Sache ganz unabhängioen Interesses an ihr auf, in dessen Dienst ihm konkurrierende, auch gegensätzliche Erklärungs"versuche" und "-ansätze" durchaus willkommen sind. Daß die wissenschaftliche Geltung von Argumenten innerhalb der bürgerlichen Theorie demnach zusammenfällt mit der politischen Gültigkeit jener Interessen, die Theoretiker als Maßstäbe für sich gelten und an denen sie sich relativieren lassen wollen, sucht die Wissenschaftsthrorie als Notwendigkeit jeder Wissenschaft zu beweisen. Wie dieser Beweis jeweils geht, auf welche praktischen Interessen an Wissenschaft zu seinem Zweck also jeweils verwiesen wird, dies verleiht auch der Wissenschaftstheorie ihre politische Konjunktur: Sie radikalisiert sich über den Beschluß der Nation, innenpolitisch nur noch Ideale des privaten Zurechtkommens als akzeptierte Interessen zuzulassen, und versucht daraus ein Thema für sich zu machen, indem sie gleich die Form wissenschaftlicher Argumentation - über bestimmte Behauptungen oder auch "Ansprüche" also weit hinaus - als untauglich, überflüssig oder gar schädlich zur Bewältigung der wirklichen Alltagsprobleme angreift. Über die "neue Wissenschaft", die dem einfachen Mann auf diese Weise endlich einmal adäquat werden soll, ist mangels hinreichender politischer Signale bisher freilich nur Andeutungsweises zu vernehmen: Welchen neuen Aufgaben r künftig adäquat gemacht werden soll, entscheidet sich aber zur Zeit...

Wissenschaft und Alltagspraxis

Sein Bekenntnis zu der neuen methodologischen Devise "Dem Volke dienen", die ihn zur Forderung einer "plebejischen Wissenschaft" hinreißt, leitet Joachim HIRSCH (Frankfurt) mit folgendem anpassungsfähigen Argument ein:

"Die kapitalistische Gesellschaft hat sich in mehr facher Weise als wandelbar und anpassungsfähig erwiesen." (Der Sicherheitsstaat, 132)

Diese Weisheit, die die marxistische Kapitalismuskritik durch die bloße Fortexistenz des Kapitalismus für widerlegt erklärt, erfreut sich ihrer Beliebtheit immerhin schon seit Marxens Lebzeiten und stimmt wahrscheinlich deshalb. Rein theoretisch betrachtet, ist sie allerdings wenig wert: Denn entweder ist die BRD-Gesellschaft kapitalistisch und hat sich um dieses ihres ökonomischen Zwecks willen verändert; dann besteht doch kein Anlaß zu Revision irgendeiner Kritik und daß Schmidt 1867 nicht englischer Regierungschef war, hindert auch niemanden daran, sein "Sparprogramm" für 1982 zu kritisieren. Oder aber der Kapitalismus ist den historischen Veränderungen in der BRD selbst zum Opfer gefallen; was HIRSCH zwar auch nicht behaupten will, für die Kritik des Kapitalismus aber ebenso konsequenzlos wäre, wie es der erste Fall ist eine Kritik wird nicht einmal dadurch falsch, daß es ihren Gegenstand nicht mehr gibt. Daß HIRSCH einfach die Macht fur ein Argument hält und deshalb die bisher ausgebliebene Veränderung der ökonomischen Verhältnisse - statt in ihr einen Grund für verstärkte Agitation der Arbeiter zu erblicken - dem Kapitalismus mit den schönen Adjektiven "wandelbar und anpassungsfähig" gleich als dessen Leistung unterschiebt, über die sich Linke einmal Gedanken machen sollten, läßt einige Zweifel an seinem Interesse an praktischer Veränderung zu. Und die Prätention, aus Erfahrung klug geworden zu sein -

"Die vielberedete 'Krise' der Linken rührt zu einem guten Teil daher, daß ein ganzer Traditionisbestand an politischen Analysen, Konzepten und Strategien sozialrevolutionärer Veränderung fragwürdig, ja, von der Entwicklung (!) nachhaltig (!) dementiert (!) worden ist." (a.a.O.) -,

bestätigt diese Zweifel. Wer anders läßt sich denn schon mit Argumenten, von denen er keinen einzigen Fehler zu benennen weiß, ausgerechnet von "der Entwicklung" dementieren (und das auch noch nachhaltig, also in die Zukunft hinein), die er angeblich bekämpfen will - als ein Parteigänger der Herrschaft, die ja bekanntlich die einen HIRSCH so sehr überzeugende "Entwicklung" gestaltet? Und wer anders kleidet seinen Willen, sich in seiner Argumentation immer hautnah an den praktischen Zwecken zu orientieren, die von "der Entwicklung" gute Erfolgsaussichten bescheinigt bekommen, denn schon in die von da aus nicht gerade naheliegende Sorge um "revolutionäre Wissenschaft" - als ein Theoretiker, der für den Schein der politischen Brauchbarkeit seiner Ideen von Wissenschaft auf mögliche Interessenten aus der linken Szene spekuliert? Wo HIRSCH kundtut, was ihm eigentlich am "Traditionsbestand" linker Theorie so ungemein wenig zeitgemäß vorkommt, emanzipiert er sich auch ganz vom Deuten auf politische Mißerfolge, das als Einladung zur Interpretation dieser Mißerfolge auf wissenschaftstheoretisch seine Schuldigkeit getan hat. Diese Interpretation hat mit dem suggerierten Ausgangspunkt nichts mehr zu tun:

"Viel bedeutsamer als an vielleicht korrekturbedurftigen Einzelaussagen" (des Marxismus, der in seinen Behauptungen also nicht widerlegt wird; das interessiert HIRSCH gar nicht) "ist indessen die Kritik an einer spezifischen Struktur von Theorie (!)... Theorie als im Rahmen herrschaftlicher Arbeitsteilung formulierte (!) Auskunft (!) über Subjekte und deren Handeln, als Feststellung von Regelmäßigkeiten und objektiven Zusammenhangen von außen (!), als katalogisierende Typisierung und Ordnung, kurz: als Produktion (?) von Wissen über gesellschaftliche Individuen, das diese verfügbar macht (?) und das wenig zu tun hat mit praktischem Wissen (!) der Handelnden von und über sich selbst." (a.a.O., 136)

Mit einem Aufschrei von Marxisten, die doch auch gesellschaftliche Individuen sind und über die HIRSCH sich hier als typischen Vertretern "von Theorie" - sein Feindbild identifiziert schon die Richtigen - ziemlich katalogisierend hermacht, rechnet der Theorieverächter offenbar nicht. Umgekehrt: Der unverhohlene Appell an den staatsbürgerlichen Stolz des praktischen Alltagsverstands, der sich nicht auch noch theoretisch kritisieren lassen will, wenn er sich schon praktisch alles bieten läßt, rechnet sehr damit, daß sich diese praktische Theoriefeindschaft mit einigem Einfühlungsvermögen schon in der des Theoretikers HIRSCH wiederfinden wird. So liegt einerseits auf der Hand, an welche Klientel dieses Angebot adressiert ist: Nicht Restbestände der politischen Linken, sondern solche Ehemaligen der Szene sollen sich für Wissenschaft a la HIRSCH interessieren, die zur Imagination heimlicher Aufmüpfigkeit in ganz normalen bürgerlichen Karrieren sich ab und zu ganz gern mit einer theoretischen Begründung ihrer Linkskultur ausstaffieren. Und andererseits ist auch klar, daß das Angebot sich nicht der möglichen Klientel verdankt: Denn das Gelaber über eine Wissenschaft, die dem Subjekt nicht gerecht werden soll, wenn sie es überhaupt zum Gegenstand ihrer Betrachtung, also zum "Objekt" macht (was soll eine Wissenschaft eigentlich sonst damit machen? Selbst HIRSCH redet über die Subjekte, wenn er deren Alltagserfahrungen u. dgl. beurteilt.), verrät mit seinem Abscheu vor "Auskünften über", "Feststellungen von außen" und "Typisierung" ja nur den Willen des Theoretikers zur Begriffslosigkeit. Die Berufung auf die unerhörte Rücksichtslosigkeit der Theorie gegen die Bedürfnisse der "gesellschaftlichen Individuen" dient nur dem erwünschten Schein der Praxisrelevanz und fällt dementsprechend wahllos aus - ob die Subjekte jetzt durch ihre theoretische "Verfügbarmachung" vergewaltigt werden oder dieser bntale Zugriff hinter ihrem Rücken erfolgt, weil die Verfügung mit dem praktischen Wissen der Leute "wenig zu tun hat", ist schon egal.

Zu einem ist das Ideal der Brauchbarkeit von Theorien für die kapitalistische "Alltagspraxis" der Individuen freilich gut - obwohl oder gerade weil es eine Beurteilung dieser Praxis, also auch deren Kritik als problematisch und schädlich verbietet: Es beflügelt eine Theoriebildung enorm, die den Verzicht auf Erklärungen mit aller Freiheit der Phantasie entschädigt und legitimiert. Die Untubarkeit objektiver Erkenntnis, von der alten Wissenschaftstheorie im Namen der Wissenschaft postuliert, leitet Hirsch gleich im Namen des Gegenstands der Theorie ab -

"(Bei der Wahrnehmung des komplexen Zusammenhangs,) in dem Subjekte immer zugleich Produkt und Produzenten gesellschaftlicher Verhältnisse sind... muß nun allerdings ein spezifischer überhistorischer und übersubjektiver Wahrheits- und Allgemeinheitsanspruch aufgegeben werden..." (a.a.O., 138) -,

wobei ihm der Widerspruch, aus einer allgemeinen Aussage über das Handeln kapitalistischer Individuen die Verwerflichkeit solcher Aussagen zu deduzieren, vor lauter Begeisterung für die Interessantheit "individueller Vergesellschaftungsformen" gar nicht auffällt.

Der somit durch nichts als die Faszination gültiger Praxis begründete Entschluß, Wissenschaft künftig nicht mehr an der Wahrheit (als ob er das je betrieben hätte!), sondern nur noch an der Lebensnähe ihrer Resultate messen zu lassen, gibt ein hübsches Programm ab:

"Wissenschaft darf sich somit nicht damit begnügen, in den Kategorien von Generalisierung, Gesetzmäßigkeit, Normalität, Objektivität, von Wissen über Objekte (!) zu operieren, also (!) in Kategorien, die Herrschafts- und Verfügungswissen auszeichnen. Vielmehr hatte sie sich zu entwickeln auf der Basis dessen, was 'plebejisches Wissen' ausmacht: im Kontext lokaler und begrenzter Wahrheiten, subjektiver Erfahrung, Individualität, Besonderheit, von Wünschen und Phantasien, am Wissen der gesellschaftlichen Subjekte selber." (a.a.O., 139)

Nur zu! Die Subsumtion der Wissenschaft unter die Erzmaxime des "plebejischen Wissens", daß gefälligst niemand über den Krieg mitzureden hat, der ihn nicht mitgemacht hat, kann doch nicht alles sein. Die Verherrlichung der Erfahrung, die der Theorie so überlegen ist in puncto Subjektivität, Individualität, Besonderheit - lauter formelle Kategorien, mit denen allen Ernstes die freie Ausgestaltung (eine recht nebensächliche Angelegenheit!) der "plebejischen" Techniken der Unterwerfung zum Ausgangspunkt "revolutionärer Praxis" hochstilisiert wird -, ist immerhin schon ein ziemliches Loblied der gesellschaftlichen Verhältnisse, die selbst den grauen Alltag als wahres Reich der Freiheit eingerichtet haben. Da wird sich der Mangel einer Begeisterung für Zwecke, von deren Inhalt man immerzu nichts erfährt, wohl auch noch beheben lassen.

Wissenschaft als Alltagspraxis

In der eigentlichen Wissenschaftstheorie ist man über den Beweis der Notwendigkeit affirmativer Theoriebildung, der sogar eine Berufung auf angeblich fehlgeschlagene Marxisten nötig hat, inzwischen hinaus. Hier genügt die Versicherung, daß die existierende Wissenschaft ohnehin längst schon so verfährt:

"Gleichwohl kommt meinem Verständnis nach der lebensweltlichen Vernunft insofern eine Vorrangstellung für die Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen gegenüber der wissenschaftlichen Vernunft zu, als die durch sie entwickelten normativen Vorstellungen die selbstverständlichen normativen Vorstellungen... auch der wissenschaftlichen Vernunft geworden sind." (SCHWEMMER, Die Vernunft der Wissenschaft, in: Wiss.theorie und Wiss.forschung, 1981, 75)

Das ist "selbstverständlich" nicht als Kritik einer derartigen "wissenschaftlichen Vernunft" gemeint. Die in dieseni Verständnis versammelten Fehler dienen vielmehr, dazu, die Wissenschaft vor Abweichungen von ihrer "lebensweltlichen" Herkunft zu warnen.

Erst wird ohne weiteres unterstellt, daß der praktische Umgang mit Alltagsproblemen und der dazu nötige Gebrauch des Verstands eine Gemeinsamkeit mit der Wissenschaft aufweisen soll, als ob die Erklärung irgendwelcher Gegenstände, ihre Erkenntnis, mit ihrer Kenntnis identisch wäre: so daß sich unter dem gemeinsamen Siegel der "Vernunft" der wissenschaftliche vom praktischen Verstandesgebrauch bestenfalls noch durch seine Quantität von Kenntnissen unterscheidet.

Nähme SCHWEMMER diese seine Unterstellung wirklich ernst, müßte er sein ganzes Programm zur Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen für absurd erklären; woher soll denn der Unterschied zwischen der "lebensweltlichen" und der "wissenschaftlichen Vernunft" kommen, wenn der Maßstab für beide ihre "normativen Vorstellungen", und diese dieselben sind, der irgendwie unterstelIte formale und quantitative Untschied dafür also bedeutungslos ist? Dessen ungeachtet möchte er doch auf die Feststellung, wer zuerst da war, wer von wem seine normativen Ideen stibitzt hat, einigen Wert legen - was zwar zeigt, daß er der wissenschaftlichen "Vernunft" mißtraut (um eine inhaltliche Differenz zum "Alltagswissen" daher weiß), sein Urteil über die "Vorrangstellung" der Lebenswelt aber keineswegs rechtfertigt. Denn selbst vorausgesetzt, die Ideale der Wissenschaft seien die der außerwissenschaftlichen Praxis (was nicht stimmt, da auch SCHWEMMERs "normative Vorstellungen" über das in der Theorie Ziemliche über die Welt der Wissenschaft hinaus kaum verbreitet sein dürften): Was sollte eine Beurteilung wissenschaftlicher Leistungen von den "normativen Vorstellungen" der Wissenschaftler abhängig machen? Oder wieso sollte eine Beurteilung dieser Vorstellungen sich daran orientieren, wo sie vielleicht hergekommen sind? Die scheinbare Berufung auf eine bereits stattfindende wissenschaftliche Praxis ist demzufolge nichts als reine Tautologie, die das von SCHWEMMER bevorzugte Verfahren, Wissenschaft nach dem Grad ihrer Entfernung von der außerwissenschaftlichen Praxis zu beurteilen, zu seiner Begründung bereits als richtig voraussetzt. Bedenken wie dies:

"In den Vernunftideen, den Kriterien der Wissenschaftlichkeit wie auch in den Konstruktionsschritten einzelner Theorien werden diese lebensweltlich bewährten Lösungsmuster nun aufgenommen. Sie werden dann allerdinlg zu universel verwendbaren (!) Argumenten umformuliert (!), ohne daß ihre ursprüngliche Beschränkung auf einen bestimmten Bereich unseres Handelns (!) noch in Erinnerung bleibt." (a.a.O., 73)

verdanken sich eben nur dem Entschluß von Wissenschaftstheoretikern, der Wissenschaft Beschränkungen ihrer Erklärungs"ansprüche" anzuraten, ohne sich mit ihren Erklärungen überhaupt zu beschäftigen. So verrückt, wie ein SCHWEMMER sich das vorstellt, verfährt ja nicht einmal die bürgerliche Wissenschaft: Da soll z.B. die Objektivität eines theoretischen Urteils nicht etwa darin liegen, daß von einem Gegenstand behauptet wird, r sei o, wie die Theorie ihn erklärt. Stattdessen soll 1. diese Eigenschaft jedes Arguments ein "Kriterium von Wissenschaftlichkeit" sein, als ob ein Zoologe mit Behauptungen über Giraffen insgeheim seinen Wissenschaftsbegriff unter die Leute bringen wollte. 2. soll die wissenschaftliche Objektivität sich dann einem "lebensweltlich bewährten Lösungsmuster" verdanken, nämlich der Gerichtsbarkeit, die auch "ohne Ansehen der Person" urteilt - und fällt nicht auch die Wissenschaft ein "Urteil"? (Der Begriff des Wahrheitskriteriums läßt folglich auf die Orientierung der Wissenschaft am Ski-Weltcup schließen, der ja alljährlich mit dem "Kriterium des ersten Schnees" beginnt.) 3. gelangt die Wissenschaft "dann allerdings" auf dem unbedachten Weg in den Besitz ihres juristischen Erbguts, daß sie die Strafprozeßordnung einfach "umformuliert", damit das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz "universell anwendbar" wird, also auch innerhalb der Wissenschaft dort, wo 4. der Gesetzgeber womöglich gar keine objektiven Urteile vorgesehen hat. Problem, Problem!

Weder von Erkenntnissen noch nur von Kenntnissen der existierenden Wissenschaft ist in dieser kuriosen Deduktion einer möglicherweise falschen und daher zu bedenkenden Übertragung "normativer Vorstellungen" aus der juristischen Lebenswelt in die theoretische Universalienküche etwas zu bemerken; und nur in der Vorstellungskraft eines Wissenschaftstheoretikers versteht es sich von selbst, daß die Wissenschaft sich zwar als gedanklicher vom praktischen Umgang mit ihren Gegenständen unterscheiden, in ihren Argumenten aber fortwährend auf Schranken Rücksicht nehmen soll, die solche der herrschenden Praxis sind. Daran gemessenen = grundlosen Bedenken gegen alles, was sie überhaupt noch als Theorie von der Praxis trennt, könnte die Wissenschaft nur nachkommen - und das ist offensichtlich SCHWEMMERs Ideal -, wenn sie die Beschäftigung mit der Realität gleich als die wissenschaftliche Überheblichkeit abtun würde: Sich bei Behauptungen über wirkliche Gegenstände der Urteile zu bedienen, die es bereits gibt, und davon abweichende Urteile auf Gegenstände zu beschränken, wo auch die Wissenschaft - nämlich als eigene "Lebensform" ihr gesetzgeberisches Recht hat, das soll es sein! Auf diese Idee einer gütigst erlaubten und gesellschaftlich garantiert nützlichen Zweiteilung der Wissenschaft der Zukunft in Lebenshilfe und Wissenschaftstheorie kommt auch nur einer, der in allen praktischen Fragen die Gewalt für das angebrachte Argument hält und die Theorie als von dieser ausgehaltene Institution der Freiheit zur Spinnerei schätzt; dafür argumentiert er sogar, trotz und wegen - seiner Theoriefeindschaft.

Fremdes Denken

Die Methode, Wissenschaft für obsolet zu erklären, indem man sie mit irgendwelchen erfundenen Funktionen identifiziert sie dient der Herrschaft durch Typologisierung der Subjekte (HIRSCH), sie ist eine problematische Form zur Bewältigung lebensweltlicher Fragen (SCHWEMMER) -, gestattet es nicht nur, im Namen der erwünschten Funktion gegen ihre eingebildete auf Objektivität, AIIgemeinheits- und Wahrheitsansprüche zu schimpfen. Mit der Frage danach, was dieses hybride Phänomen denn überhaupt ermöglicht hat und wodurch es vielleicht zu ersetzen wäre, sind Wissenschaftstheoretiker aus allen Fächern sogar der Wissenschaftstheorie ledig und in der Wahl ihres Standpunkts endlich ganz frei - wie stets, wo ein gesellschaftlich anerkanntes Feindbild sowohl Begründungen wie umständlich geheuchelte Nützlichkeit überflüssig macht. - Der eine betreibt Wissenschaftstheorie als eine Art Archäologie:

"Wissenschaft ist eine historisch besondere Art der menschlichen Orientienng in der Welt - genauer: eine unter geschichtlich vermutlich einmaligen Bedingungen entstandene spezifische Weise, Problemlösungen zu systematisieren. Als solche kann Wissenschaft als ebenso einzigartig wie z.B. der Monotheismus angesehen werden." (LUCKMANN, Vor(!)überlegungen zum Verhältnis von Alltagswissen und Wissenschaft, in: a.a.O., 39)

Daß er die Tätigkeit, die er selbst betreibt, für irgendetwas zwischen Bibliothekswesen und religiöser Offenbarung hält, muß diesem Mann nachgesehen werden; mit der Wissenschaft ist er so fertig, daß er sie geistig schon in grauer Vorzeit ansiedelt und erst dazu übergehen muß, sein ergriffenes Glotzen zu systematisieren.

- Ein anderer befaßt sich in seinem Angriff auf "Herrschaftswissen" mit der Wissenschaft nur unter dem Aspekt des "Intellektualismus der unmenschlichen Haltung also, alles erklären zu wollen, auf die heutzutage selbst die Kirche verfallen sein soll:

"Kein Zweifel, die 'fortschrittliche' Theologie des Hans Küng ist nur der Paradefall der konziliaren Modernisierung der Religion: Ihrer Versöhnung mit der Welt (!), bei der die Spannung zwischen Rationalem und Irrationalem preisgegeben, der Widerspruch der Religion gegen die Welt so sehr eingeebnet ist, daß die Rationalisierung des Irrationalen zur unmerklichen Irrationalisierung der Rationalitat wird" (gut gegeben!) "und der Theologie der Anspruch zufällt, alle menschlichen Prozesse zu erklären." (LORENZER, Das Konzil der Buchhalter, 1981, 283 f.)

Dabei hätte gerade die Religion für den Menschen der Gegenwart bessere Alternativen zu bieten:

"Es kann kein Zweifel daran sein" (schon wieder?), "daß die Anknüpfungsstellen für die Orientierung einer die persönlichen Phantasien umgreifenden kollektiven Identität im kirchlichen Kult liegen, nicht in der Ideologie der Kirche." (a.a.O., 226)

Papst hätte man werden sollen, nicht Psychoanalytiker; so wird das kein Kultbuch.

- Ein Seminar über "Hexerei und Magie" (Ffm.) mit seiner hochinteressanten Bemühung,

"von den uns fremden Konzeptionen" (des Denkens?) "her eine Kritik an der Universalisienng des wissenschaftlichen Wirklichkeitsbegriffs zu entwickeln" (KlPPENBERG, Magie. Die sozialwissensdiaftliche Kontroverse uber das Verstehen fremden Denkens, 9),

beseitigt schließlich letzte Zweifel darüber, daß die Skepsis gegenüber Wissenschaft keinen Theoretiker zur Berufsaufgabe, sondern zu neuen Ufern falscher Wissenschaft führt:

"Es ist offensichtlich, daß der Versuch, fremdes Denken zu verstehen, aufgrund der Erkennung, und Kritik eines Ethnozentrismus in eine neue Richtung weist: nämlich, die Verständlichkeit auf die Analogie effektiver Sprechakte zu gründen und nicht mehr an dem Verhältnis von Begriff und Sache gemäß unserer bürgerlichen Aufklärung zu orientieren." (Seminarpapier) Ganz genau.

Kapitalismus viel groß. Medizinmann bringt in Ordnung. Du warten. Verstanden?