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Dieser Artikel ist in der MSZ 6-1982 erschienen.
Antikommunismus
GRUNDWISSEN FÜR JUNG UND ALT
"Das Schlimmste im Leben ist der Krebs und der Kommunismus." Wenn schon ein Franz Beckenbauer in seiner geistigen Schlichtheit ein felsenfestes Urteil zustandebringt, ohne jemals einem leibhaftigen Kommunismus begegnet zu sein, sind die Wirkungen einer gründlichen Staatsbürgerbildung kenntlich.
Während Meinungen über fremde Länder sonst ihre Konjunkturen haben, in Einzelfällen auch gar nicht vorhanden zu sein brauchen, so daß die Weltkarte des Normalbürgers viele weiße Flecken aufweist die Meinung über den Ostblock ist, seitdem es ihn gibt, dauerhaft und in sich unerschütterlich. So opportunistisch die Einschätzung dei Ölscheichs den unterschiedlichen politischen Kalkulationen gefolgt ist, so dogmatisch verfährt sie gegenüber dem zum Hauptfeind erklärten Ostblock. Auch die Zeiten der Entspannung und sozialliberalen Ostpolitik haben den Grundkanon nicht erschüttert: Die einmalige Sicherheit in der Verurteilung einer bestimmten Sorte Politik kommt ohne jede Kenntnis aus, läßt sich durch keine Tatsachen erschüttern. Die laufend angestellten Vergleiche, mit denen die Überlegenheit des westlichen Systems "bewiesen" wird, liefern kein einziges Argument, weder gegen "drüben" und schon gar nicht für hier; sie bebildern nur das Vorurteil, das mit der Fragestellung; welches ist das bessere System? als Antwort längst feststeht. Denn ihre Gewißheit beruht schließlich auf dem politischen Beschluß, der Existenzgrundlage und Programm der eigenen Regierung ausmacht: Die erklärt die mangelnde Kapitulationsbereitschaft der sozialistischen Staaten zu einer elementären Bedrohung von dem, was einem Bürger hier lieb und teuer ist. Ein Frontstaat, der seine nationale Niederlage mit dieser Mission kompensiert und überkompensiert hat, kultiviert das Weltbild seiner Bürger bezüglich der grundsätzlichen, Gefahr, die der Kommunismus darstellt. Nicht die natürlich, die die speziell bundesrepublikanische Inanspruchnahme der Staatsbürger für den Erfolg der NATO mit sich bringt, sondern die Gefahr, die der Kommunismus als Angriff auf unser System definitionsgemäß ist.
Die schlechte Meinung, die ein Frontstaatsbewohner von allem hinter der Mauer zu haben hat, ist logischerweise das getreue Gegenbild der guten Meinung über die eigene Staatsgewalt und logischerweise genauso falsch. Zwei Kriterien besitzt die Kommunismusverurteilung, Wohlstand und Freiheit, und das, womit der hiesige Staat seine Bürger segnen soll, genau das soll der östliche Staat den seinen vorenthalten, sie bestenfalls mit Wohlstand als dem schlechten Ersatz für den Genuß der Freiheit bestechen, worin sich sein systemvergleichender Begriff erschöpft.
Wer aber die Lebensumstände, die die Benützung durch das Kapital für die Normalbürger herstellt, zu Wohlstand, zu einer besonderen Leistung des Staates für seine Bürger erklärt, wer die Freiheit, die Methodik der Herrschaft, in lauter vom Staat geschenkte Vorteile umdichtet, der führt die kläglichen Maßstäbe vor, mit denen ein Systemvergleicher die Welt mißt. Daß er sich nichts Schöneres vorzustellen vermag, als gerade so regiert zu werden, wie er regiert wird, ist nämlich die Quintessenz der Veranstaltung, in der sich der brave Staatsbürger in die Pose dessen wirft, der zu wählen hat, der die "Systeme" daraufhin vergleicht, wo es ihm besser behagen würde. Diese Freiheit, die er sich praktisch gar nicht zu nehmen gedenkt, die Welt an seinem Behagen zu messen, betätigt er denn auch theoretisch konsequent in der vernichtenden Verurteilung des Systems, das ihn nicht regiert.
Armut und Reichtum
Was hat sie alles nicht oder nicht in genügendem Maß, die Bevölkerung der DDR, im Unterschied zu uns, Kühlschränke, Fernseher, Telefone, PKWs usw. usf. So zahlreich die Belege für eine menschenunwürdige Existenz jenseits der Mauer auch ausfallen, so wenig ist bei dieser Begutachtung ein konsequent materialistischer Standpunkt am Werk. Das Kompliment an die soziale Marktwirtschaft, sie sei eine Art Versorgungsinstitution, abstrahiert nicht nur von den Bedingungen; unter denen man nur in den Besitz solcher Güter gelangt - arm muß man nämlich schon sein, um sich den lebenslangen Verschleiß der eigenen Arbeitskraft wegen einer Waschmaschine und einem Auto diktieren zu lassen. Darüberhinaus werden ausgerechnet Güter, deren Nutzen in der Funktionalität für die Reproduktion der Arbeitskraft aufgeht, zu Genußmitteln erklärt. Wenn aber am Ausstattungsgrad ein Arbeitnehmerhaushalts mit den Mitteln, die aufs Zurechtkommen berechnet sind, auf Transport, rationelle Erledigung der Existenznotwendigkeiten usf., wenn sich daran Wohlstand bemessen soll, dann ist der Vergleichsmaßstab die Dankbarkeit für das, was den notorisch Armen immerhin zugestanden ist. Ein trostloser Begriff von Reichtum, auf die paar Sachen eingebildet zu sein, ohne die ein hiesiger Arbeiter gar nicht dazu imstande wäre, jeden Morgen halbwegs brauchbar an seinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Wird das
Einkommen
der Brüder und Schwestern begutachtet, das schon durch das Fehlen einer ordentlichen Inflation, mal als DM genommen, so kümmerlich aussieht, so steht per se fest, daß es sich um Hungerlöhne handelt, für die zu arbeiten sich nicht lohnt. Daher sind auch alle Formen der Arbeitsverweigerung drüben total gerechtfertigt, andererseits "Beweis" für die Unfähigkeit des Staates, der immer zuviel Arbeiter beschäftigt, statt zu rationalisieren. Oder - wissenschaftlich ausgedrückt - die östlichen Löhne sind kein "Anreiz", sie können nicht zu solchen Leistungen "motivieren", wie sie bei uns ein so herrliches Wachstum zustandegebracht haben. Ganz als ob hierzulande Angebote der Arbeitgeberseite eingereicht und daraufhin überprüft würden, ob man sich durch sie auch genügend "angereizt" fühlt. In einem Land, in dem der angebliche Maßstab noch nie praktisch betätigt worden ist, in dem noch nie ein Lohn mit dem Argument zurückgewiesen worden ist, daß sich dafür das Arbeiten nicht lohnt, in dem umgekehrt immer bloß Arbeiter damit zurückgewiesen werden, daß sich ihre Beschäftigung nicht lohnt, hat die Verurteilung von Hungerlöhnen im Sozialismus denn auch nicht mehr zu besagen, als daß die gelungene Erpressung der Arbeiterklasse hier gleich auch noch zu dem Beweis benützt wird, daß ihr Einverständnis sichtbar vorausgesetzt werden kann - es sind ja angeblich alle zufrieden - und daß ihre Bedürfnisse dann wohl angemessen berücksichtigt werden.
Ebenso bescheiden fallen die übrigen Beweise für östliche Armut und westlichen Reichtum aus. Der Stolz auf die Tüchtigkeit der eigenen Wirtschaft, mit dem den armen Verwandten die Schaufenster der
Kaufhäuser
vorgeführt werden, zeugt davon, wie selbstverständlich die Trennung des eigenen Reichtums von dem der Geschäftswelt gehandhabt wird. Ganz als ob der Preis der ausgestellten Kostbarkeiten nicht auch hierzulande dafür sorgen würde, daß keiner übermütig wird, figuriert der käufliche Reichtum als einer von "uns allen". Und dieser Vergleich klappt immer, auch in Zeiten, in denen es drüben zunehmend mehr Dinge nicht zu kaufen gibt, in denen es hierzulande zum Privileg erklärt wird, überhaupt arbeiten und sich Mittel zum Kaufen beschaffen zu dürfen. Wer zu der Tatsache beglückwünscht wird, daß er etwas kaufen kann, soll von den Härten nichts wissen, die ihn die Beschaffung von Geld kosten, und noch viel abwegiger soll ibm der Verdacht sein, das eigene System sei auch an der Verarmung der Leute im Osten beteiligt.
Ebenso lässig, wie sich der hiesige Bürger für glücklich erklärt angesichts der Reichtümer, die er kaufen könnte, wenn er Geld hätte, gilt ihm die Armut im Osten bewiesen durch die im Vergleich zu hier so schäbig ausfallenden Mittel der
staatlichen Repräsentation
Daß Autobahnen und historische Gemäuer angeblich verkommen, während bei uns nicht nur Denkmäler gepflegt, sondern bei gleichzeitigem Sparprogramm ein Kulturpalast nach dem anderen gebaut wird, das sagt doch wohl alles darüber, welches Volk zu bemitleiden ist. Andererseits entdeckt man an den "monumentalen" Volkspalästen im Osten mühelos das heimtückische Ansinnen der Herrschenden, mit verschwenderischem Aufwand das Volk zu "indoktrinieren" oder gar Westberlin die Rolle als Haupt- und Kulturstadt deutscher Nation streitig zu machen.
Der Systemvergleich mit Hilfe des ersten Kriteriums fällt also äußerst devot aus: Wohlstand gibt es hier in Hülle und Fülle. Wenn er den Leuten nicht gehört, macht das gar nichts, da erklären sie sich zu ideellen Miteigentümern, während umgekehrt der knapp bemessene eigene Anteil zum Optimum dessen erklärt wird, was man sich auf der Welt nur wünschen kann. Es wird also ganz grundsätzlich Zufriedenheit mit den hiesigen und Unzufriedenheit mit den östlichen Verhältnissen verordnet, eine objektive Prüfung unterschiedlicher proletarischer Lebensumstände ist nicht gefragt. Ergibt sich nämlich einmal das umgekehrte Verhältnis, daß z.B., was Krankenversorgung, Kindergärten oder Mieten betrifft, der Bürger im Osten besser dasteht, hat das auch nichts zu bedeuten. Entweder wird es unter die Rubrik von Großzügigkeiten subsumiert, die sich die Staaten drüben eigentlich gar nicht leisten können, da gilt das Dogma, daß eine solche Rücksichtnahme auf die Arbeiterexistenz eine ökonomische Todsünde sein und sich bitter rächen muß. Oder - mit einem zwanglosen Übergang zum zweiten Kriterium - diese Leistungen taugen deshalb nichts, weil sie 1. bloß zur Bestechung oder 2. als Mittel staatlicher Kontrolle eingesetzt werden, also der Menschheit drüben bloß ein viel höheres Gut, die Freiheit, vorenthalten.
Freiheit und Unterdrückung
Freiheit ist, was man hier alles und drüben nicht darf. Höhere politologische Exkurse über den Nutzen der vielen freiheitlichen Institutionen sind nicht notwendig, der Systemvergleich des einfachen Mannes kommt sehr zweckmäßig mit den ihm zustehenden Freiheiten aus: Wählen und eine eigene Meinung haben darf man hier. Daß es sehr darauf ankommen täte, will er auch gar nicht behaupten, die Lobreden auf die Souveränität des Wählers und die Kontrollfunktion seiner Meinung gehen ihn nichts an. Die in der Form des Stolzes geäußerte Bescheidenheit, Zufriedenheit über die eigene Staatsgewalt zu äußern, die einem etwas erlaubt - die Verpflichtungen, die die sogenannten Erlaubnisse mit sich bringen, kommen natürlich nicht vor -, befaßt sich denn auch weniger mit der Schilderung der Vorzüge dieser Freiheiten. Ausführlich wird sie in der Beschwörung der Unerträglichkeit eines Staates, der diese Freiheiten nicht gewährt, und faßt sich als erstes in das überzeugend konkrete Urteil zusammen, daß drüben alles grau und eintönig sei.
Selten hat eine Farbe so sehr ein Urteil ersetzt wie dieses
Grau,
auf das kein Bericht verzichtet. Erweitert nur durch das Rot der Parteitransparente und Fahnen, das die aggressive Staatsgewalt sinnfällig macht. Sonst aber ist alles uni und öde, nicht weil die Ostreisenden plötzliche Farbenblindheit überkommen hätte, sondern weil die Reklame für ein so immaterielles Gut wie die Freiheit gewisser Bebilde dem Moment zu gewärtigen hat, von Ge- Zum zweiten will die Vorstellung von einem Staat, der mit der Freiheit jede menschliche Regung unterbindet, an diesem Staat keinen anderen Zweck entdecken als den des Verbots und malt sich die östliche Herrschaft demgemäß als einziges
großes Gefängnis
bzw. als Polizeistaat aus. Die Frage nach Sinn und Grund einer solchen Herrschaft, der Zwang pur ein Anliegen sein soll, stellt sich da nicht, an deren Stelle tritt die Vorstellung einer bedrückenden Atmosphäre, in der jedem ständig ein Polizist über die Schulter schaut, sich die Familien auch in ihrem Wohnzimmer bloß flüstern trauen, jeder jeden Moment gegenwärtigen muß, von Geheimdienstlem gegriffen und in ein KZ oder Gulag verschleppt zu werden. Spiegelbildlich, als Gegenüber eines Staates, der allein auf Unterdrückung aus ist, gerät das Volk zu lauter Staatsfeinden und heimlichen Widerständlern. Es macht nicht mit, nämlich genauso wie hier, sondern bloß unter beständigem Zwang, im Gegensatz zu hier. Eigentlich ist es ein Volk von Freiheitskämpfern, was außerhalb Polens mangels anderer Beweise die Witze über die Obrigkeit belegen. Oder der nicht stattfindende Freiheitskampf läßt einwandfrei auf die hinterhältige Manipulationskunst der Partei schließen, die es mit Gehirnwäsche oder materiellen Bestechungen geschafft hat, das Volk von seinem unbeugsamen Freiheitswillen abzubringen.
Die Politiker sind folgerichtig charakterlich
Gefängniswächter
oder Sadisten, die voller Bosheit und Freude Armut und Unfreiheit verordnen, während unsere schwer an ihrer Verantwortung tragen, wenn sie sich zu unpopulären Maßnahmen bekennen. Die drüben genießen selber all das, was sie ihrem Volk vorenthalten. Deshalb haben sie es auch nötig, ihr Privatleben zu verbergen und ihrem Volk sogar noch den Genuß zu verunmöglichen, den demokratische Politiker gewähren: die Befriedigung, festzustellen, daß sie auch Menschen sind. Oder sie tun das ganz einfach deshalb, weil sie keine Menschen sind, sondern seelenlose kalte Funktionäre.
Daß die Demonstration, wie schrecklich Verhältnisse ohne Freiheit sind, ohne solche Dummheiten nicht auskommt, daß ein Mitglied des Bundestages im Deutschen Fernsehen die Auffassung vertreten kann, der normale Besuch einer Kneipe sei in der DDR ein Ding der Unmöglichkeit, wirft ein schlechtes Licht auf die Freiheit. Es ist nämlich wirklich schwierig, daran Vorzüge für den einfachen Menschen darzustellen, ohne daß es albern wird. Schließlich unterscheidet sich das Leben eines Normalbürgers (Ost) von dem eines Bürgers (West) grundsätzlich gar nicht: Arbeiten, Sparen, Kaufen, Haushalten, von Zeit zu Zeit Urlaub, und das soll ohne demokratische Freiheitsrechte unerträglich oder unmöglich sein.
Die Nachteile eines Lebens ohne Freiheit müssen den ganzen Unterschied demonstrieren und sind daher auf viel Phantasie angewiesen. Und diese Art Bebilderung des Kommunismus verrät gerade durch ihre Unsinnigkeit - eine Gewalt ohne jeden Zweck, die nur ans Knechten denkt -, die Unterwürfigkeit des Maßstabs: Mit einem guten Grund und höheren staatlichen Sinn versehen, ist doch noch jedes Gefängnis und Arbeitslager woanders eine sehr vernünftige Einrichtung.
Ein schlechtes Licht auf die Freiheit wirft schließlich auch die letzte Abteilung Systemvergleich, die beide Kriterien kombiniert und im Bereich der Mode- und Geschmacksartikel endlich das rundum anschauliche Bild einer unerträglich tristen Herrschaft liefert. In diesem Bereich bietet der Sozialismus nämlich nicht die ganze Fülle der Genüsse der westlichen Welt, sei es, weil die sozialistische Industrie die Geschmacksprinzipien der kapitalistischen immer erst in einigem Abstand kopiert, sei es, weil die Kulturprinzipien der Partei immer erst nach einiger Zeit entdecken, was alles an höherem Blödsinn mit dem sozialistischen Menschen vereinbar ist. Und das hält das systemvergleichende Individuum für ganz schrecklich.
Keine Jeans, keine Rockmusik,
das hat jahrelang den Ostblock erledigt und erledigt ihn auch mit seinen trostlosen Modernisierungsanstrengungen immer noch.
Egal, ob die östliche Menschheit sich nun gerade mit diesen Bedürfnissen als ihren wichtigsten herumschlägt - von hier aus als verweigerte vorgestellt, muß das Leben drüben unerträglich sein. Das bleibt nun von der Freiheit als das Größte übrig: Ausgerechnet die Sphäre des Geschmacks, in der es der Menschheit gestattet ist, jenseits all der Umstände, die über sie entscheiden, die ihre Lebensbedingungen diktieren, zu demonstrieren, daß es auf ihre Individualität ziemlich ankommt. Dieser Maßstab soll die Verurteilung des Ostblocks perfekt machen. Und wenn sie dann die nicht gerade geringfügige Jeans-Produktion im Osten "entdecken", dann fällt ihnen zu dieser Sorte "Gulaschkommunismus" ziemlich genau dieselbe miefige Kritik ein, die sie den Herrschern drüben immer unterstellen. Da reißt westliches Konsumdenken ein und niederer Egoismus - und das im Unterschied zu hier auch noch staatlich geduldet und gefördert. In der Verurteilung der östlichen Kopien westlichen "Wohlstands" legen sie ein verpflichtendes Bekenntnis zur Freiheit ab: Sie ist die Tugend des Dienstes an der Allgemeinheit und deshalb der bescheidenen Zufriedenheit mit den eigenen Umständen.
Die Aufforderung, bleibe im Lande und nähre dich redlich, wird deswegen auch des öfteren gegen all diejenigen ins Feld geführt, die den Anschein erwecken, daß sie die Botschaft des Systemvergleichs nicht selbstverständlich praktizieren. Noch ohne daß irgendjemand eines der Urteile über das falsche System in Zweifel zieht - wenn er sich hier zuviel an Freiheit der Kritik herausnimmt, dann ist er schnell als Parteigänger des Systems der Unfreiheit dingfest gemacht und bekommt das einzige positive Urteil über den Ostblock zu hören, das dieser sich im bürgerlichen Lager verdient hat: Geh' doch nach drüben! Ihr Vorurteil, daß drüben eine Ordnung herrscht, die jeden uniformiert, fällt noch allen Freiheitsfans bei der passenden Gelegenheit ein, womit ein letztes Mal die Reden über die Vorteilhaftigkeit der Freiheit auf den Begriff gebracht werden.
Wohlstand - Freiheit
Drüben: Wohlstand = Unfreiheit
Die Süddeutsche Zeitung berichtet von den Schwierigkeiten der Tschechen, so wie die Polen zu sein, und deren Widerstandspotential in einem konsumorientierten, demoralisierten, verplanten Sowjetsatelliten:
"Die so oft diagnostizierte Demoralisierung in der heutigen Tschechoslowakei ist in Wirklichkeit nichts anderes als die Frucht jener durch Konsumorientierung hervorgerufenen Spaltung des Bewußtseins...
Die Macht ist konsolidiert, die Masse kann sich ungeachtet aller Engpässe immer noch sattessen, sie besitzt ihre Skodas, Wochenendhäuser, Schrebergärten..."
Aber, Gott sei Dank:
"Die ökonomische Krise hat auch Husaks Land längst eingeholt."
Wo bleibt der nationale Widerstand? Aha, da ist er im Widerstand der Unternationen.
"Es sind Zellen der Menschlichkeit, klein, introvertiert und still, die in der heutigen Tschechoslowakei überall existieren... Es wird gerade in diesem Milieu, in dem die Fähigen und Kultivierten Zuflucht gefunden haben und das sich der Kontrolle der Machthaber immer wieder entzieht, um die Identität der beiden mitteleuropäischen Nationen - Tschechen und Slowaken - gerungen: mit dem Regime, mit dem sowjetisierten System, aber auch mit der Konsum-Mentalität. Unter der Müllhalde des Nichtgeschehens geschieht also in der heutigen Tschechoslowakei recht Interessantes, ja Fesselndes." (Werner Paul: Wohin treibt die Tschechoslowakei, Süddeutsche Zeitung, 13.11.82)
Jetzt müssen deutsche Feuilleton-Redakteure schon in Müllhalden die Kultur als den eigentlichen Widerstand entdecken wie früher in Polen, als es noch nichts Besseres gab. Aber auch die Tschechen sind noch nicht verloren: Der Widerstand lebt, menschlich, national, geistig, kurz: in den Köpfen tseschechischer Feuilletonisten. Da lebt das bessere Volkstum, solange und weil sich das Volk nur den Bauch vollschlägt. Gegen den Internationalismus des Konsumterrors - Kulturnationalisten aller Länder, vereinigt Euch!
Die Bild-Zeitung verteidigt unsere Freiheit gegen jeden möglichen Widerstand mit der umgekehrten Gleichung:
Hüben: Freiheit = Wohlstand
"Nur in der Marktwirtschaft gibt es echtes 'Geld'. Unsere Münzen, unsere Scheine: damit kann man sich kaufen, was man will - im Inland und im Ausland. In der 'DDR' heißt die Währung auch 'Mark'. Doch für das 'DDR'-Geld kriegen Sie keine Autowaschanlage, keinen 100-Gramm-Barren Gold, kein Flugticket mit PanAmerica nach New York... Über die freien Preise der Marktwirtschaft hat jeder einzelne Verbrauchcr letztlich die ganze Wirtschaft in der Hand. Alle Unternehmer, und seien es angeblich noch so 'mächtige' Bosse, müssen nach der Pfeife der kleinen Hausfrau tanzen... Darum: Pflegen wir unsere Marktwirtschaft! Sie ist ein Grundstein unserer Freiheit!" (Bild am Sonntag, 6.11.82)
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