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Phänomenologie des Geistes (II)
BEDINGUNG UND MÖGLICHKEIT - ZWEI STELLVERTRETER DES GRUNDES IN DER WISSENSCHAFT
Die Phänomenologie des bürgerlichen Geistes hat einen ihr eigenen Fortgang, der mit Notwendigkeiten des Denkens nichts zu tun hat: Hier erwachsen die verschiedenen Formen der Argumentation nicht der Erkenntnis, die sich zum Wissen hinarbeitet, sondern den Fehlern, die man sich erlaubt und statt sie zu beseitigen - absichern will. Das Resultat der in dieser Wissenschaft üblichen Pseudo-Vergleiche (siehe MSZ 4/80) ist deshalb auch nicht das Eingeständnis, daß man über die Eigenart der behandelten Gegenstände nichts herausgefunden hat, wenn man sie jenseits ihrer existierenden Formen zu bestimmen trachtet. Vielmehr scheint jeder Denker mit der tautologischen Versicherung der Existenz seines Objekts, das mit anderen keineswegs zu verwechseln ist, wenn man es vielleicht auch nur schwer davon unterscheiden kann, so zufrieden zu sein, daß er ohne viel Federlesens zu der Besprechung dessen übergeht, wie es sich im Verhältnis zu anderen Gegenständen, die es gibt (oder auch nicht), bewährt. Und auch diese Betrachtungsweise macht ihm nicht bewußt, daß er dabei die Bestimmtheit der zu erklärenden Dinge schon voraussetzt - sie üben Funktionen aus, beruhen auf anderem oder eröffnen Möglichkeiten -; im Gegenteil: er will dieses Verfahren als Vertiefung schon feststehender Erkenntnisse und Fortsetzung der Erklärung verstanden wissen. Daß im folgenden also von den Bedingungen und Möglichkeiten die Rede sein wird, die den Objekten wissenschaftlicher Untersuchung eigen sind, darf kaum vermutet werden. Stattdessen präsentieren sich die Gegenstände zum wiederholten Mal als etwas, das sie nicht sind; mit Bedingungen und Möglichkeiten werden sie gleichgesetzt.
Der Markt der Möglichkeiten
Nachdem der Ökonom sich zunächst in dem nicht ganz passenden Vergleich mit einer geldlosen Steinzeitwirtschaft, die den Aufgaben der modemen Ökonomie nicht gewachsen ist, versichert hatte, daß letztere ohne Geld und Preis schwer vorstellbar ist, drängt ihn die auf diese Weise kundgetane Unzufriedenheit mit seinem Gegenstand dazu, dessen Leistungen auch positiv zu würdigen. Einer Erklärung des Preismechanismus tritt er damit allerdings nicht näher, wenn er ihn nun statt als Wunschtraum des Neandertalers als Lösung von gleich drei Problemen auf einmal vorstellig macht:
"In unserem ökonomischen Mischsystem ist es der Preismechanismus, der über Angebot und Nachfrage die drei grundlegenden ökonomischen Probleme löst. Dieses System ist zwar keineswegs perfekt, aber es ist eine Möglichkeit, die Fragen des Was, Wie und Für-Wen zu beantworten." (Samuelson, Volkswirtschaftslehre I, 83)
Denn so sehr es stimmen mag, daß die Produktion und Verteilung, die den Kapitalismus auszeichnet, irgendetwas mit Preisen, Angebot und Nachfrage zu tun hat, so wenig folgt daraus, daß die dabei entstehenden Möglichkeiten der Grund und Zweck des Preismechanismus sind. Und der Umstand, daß der Nobelpreisträger, kaum nimmt er sich einmal die existente Ökonomie vor, von dieser gleich wieder absieht, um sich unabhängig von ihr "drei grundlegende ökonomische Probleme" auszudenken, berechtigt ihn keineswegs zu der Auffassung, Angebot und Nachfrage seien mit der Bedeutung für Samuelsons menschheitsgeschichtliche Seinsfragen identisch und dadurch erklärt, daß sie "Fragen beantworten".
Einem anderen Ökonomen genügt diese Scheinbegründung denn auch nicht; freilich hält er sie nicht für falsch, sondern für ausführungsbedürftig. Er entschließt sich deshalb dazu, die Logik der Möglichkeit soweit auszuschöpfen, daß ihm auch ohne jede Angabe eines Grundes fast so etwas wie die Ableitung von ökonomischen Notwendigkeiten gelingt. Zuerst macht er die Abstraktion von der Bestimmtheit der Ökonomie, mit der er sich beschäftigen will, explizit, was ihm vermutlich sehr unideologisch vorkommt:
"Hierfür (nämlich für die Wirtschaftsorganisation) stehen zwei prinzipielle Wege offen. Der eine, der sich zunächst (!) aufdrängt, besteht in der Aufstellung eines verbindlichen volkswvirtschaftlichen Produktionsplans, der von einer Zentralinstanz festgelegt wird." (Heus, Grundelemente der Volkswirtschaftstheorie, 19)
Der Wunsch des Theoretikers, seinem Gegenstand nicht gleich begeistert um den Hals zu fallen, in allen Ehren - aber auch eine planwirtschaftliche Produktion ist nicht einfach mit der Vorstellungsgabe eines Ökonomen zu erklären, die aus der umwerfenden Einsicht, daß jede Wirtschaft irgendwelche Probleme zu organisieren hat, gleich "zwei prinzipielle Wege" abzuleiten weiß, wie dies geschehen kann. Der Mann der Wissenschaft tut uns den Gefallen, diesen Fehler sogar zuzugeben; er fährt mit der Einsicht fort, daß er statt über die ökonomische Realität lediglich über das Fassungsvermögen seiner Gedanken geredet hat - leider ist für ihn diese Selbstwiderlegung zugleich eine Eigenschaft seines Gegenstands:
"Obgleich die Vorstellung (!) einer Wirtschaft, die nach einem festgelegten Plan abläuft, gedanklich (!) leichter faßbar ist (!). war eine derartige Organisationsform für die entwickelten 'Volkswirtschaften bis zum ersten Weltkrieg unbekannt." (op. cit., 19)
Und diese Umkehrung des Möglichkeitsfehlers ist wahrlich eine Verschlimmbesserung: Wenn es schon nichts über Plan- und Marktwirtschaft aussagt, daß man sie sich als Möglichkeiten der Wirtschaftsorganisation denken kann, so wird derartigen Gedankenspielen in keiner Weise dadurch Abbruch getan, daß Möglichkeit und Wirklichkeit nicht dasselbe sind. Der Schlußfolgerung, "daß das zunächst leichter Faßbare und Einsichtige nicht zugleich das leichter zu Handhabende ist. Hingegen gilt das Umgekehrte für die Marktwirtschaft als ihr Gegenstück." (op.cit., 20),
ist daher zwar der Wille des Herrn Heuss zu entnehmen, die Wirtschaftsform, die es ihm angetan hat, als von der Geschichte getroffene bessere Auswahl "prinzipieller Wege" zu rechtfertigen und zugleich noch die Schwierigkeiten seines Geistesberufs herauszustreichen. Der Beweischarakter dieser Logik ist jedoch zu bestreiten. Die reale Unmöglichkeit gewisser gedanklicher Möglichkeiten, die der Ökonom hier deduziert, lebt nämlicln ebenso wie die erste Form des Fehlers, jenseits aller wirklichen Wirtschaftsorganisation Alternativen "der" Organisation "der" Wirtschaft zu besprechen, von der simplen Unterstellung, daß eine von jedem bestimmten Zweck und jedem besonderen Charakter getrennte Ökonomie auf jeden Fall die "Probleme" zu "handhaben" hat, die dem Theoretiker bei Betrachtung der existierenden Wirtschaftsform aufgefallen sind. Wenn man sich den Marktmechanismus aber wegdenkt und sich die ihm (zu Recht oder Unrecht) zugeschriebenen Leistungen einfach in der Form überzeitlicher Problemstellungen weiter aufbewahren will, dann versteht es sich natürlich von selbst, daß der Markt die beste Möglichkeit ist, seine Leistungen zustande zu bringen! Diese Weisheit dann als Bewußtwerdungsprozeß der Wirtschaftsgeschichte über die ihr von Natur aus innewohnenden Möglichkeiten zu kolportieren, entbehrt insofern nicht einer gewissen Komik:
"Erst im 18. Jahrhundert gelang es, den Standort zu gewinnen, von dem aus es möglich war, im Markt die eigentliche Koordinationsinstanz zu erkennen."
Wie ein 'Heureka!' ging es damals durch die Reihen der Wirtschaftssubjekte, die bis dahin in einem quälenden Grübelzwang befangen waren, wie es nur möglich sei, daß Nürnberger Tand durch alle Land wanderte, obwohl weder das Augsburger Bekenntnis noch der Westfälische Friede darüber irgendwelche Absprachen getroffen hatten:
"E r ist e s" (ecce mercatus!) "der die Handlungen und Dispositionen einer Vielzahl von Wirtschaftssubjekten untereinander abstimmt, obgleich die einzelnen Unternehmungen und Haushalte ohne Absprache mit den anderen Produktion und Konsumtion planen und ausführen." (op. cit., 20)
So landet auch der für alternative Möglichkeiten offene Heuss wieder bei dem Ausgangsfehler, das ökonomische Phänomen des Marktes mit einer (nun umständlich als notwendig hergebeteter.) Bedingung für Koordinationsleistungen in eins zu setzen, deren Charakter als Eigenschaft des Marktes bloße Behauptung ist, weil in der Besprechung des Markts als Möglichkeit über ihn selbst, sein Subjekt und deshalb auch über das Wie der "Koordination" überhaupt nichts ausgesagt wird; statt uns die Eigenarten kapitalistischer Produktion und Verteilung nahezubringen, versieht der Möglichkeitsökonom lediglich seinen Wunsch nach gleichgewichtigen Marktsituationen ("Abstimmung") mit dem Schein einer Begründung.
Das Schöne, als Bedingung seiner selbst betrachtet
Auch ein Germanist, so wenig sein Gegenstand auf den ersten Blick mit schnöder Nützlichkeit zu tun hat, beherrscht die eben erörterte "ökonomische" Betrachtungsweise, wenn er über ein Kunstwerk unter der eigentümlichen Bezeichnung "ästhetischer Zustand" folgendes zu berichten weiß:
"Der ästhetische Zustand ist durch Ordnung und Komplexität gekennzeichnet. Seine Ordnung darf (!) nicht so regelmäßig sein, daß der Rezipient im Kunstwerk nur das Schema, seinen vorgegebenen Stil erkennt. Ein solches (epigonales) Produkt wäre vollkommen redundant, es wäre ein ästhetischer Pleonasmus, eine bloß Wiederholung von schon Bekanntem. Die Ordnung darf jedoch auf der anderen Seite nicht zu gering sein, d.h. das Kunstwerk kann nicht vollkommen (!) auf den Stil verzichten, sonst würde es als solches gar nicht erkannt werden." (Grundzüge der Sprach- und Literaturwissenschaft, Bd. I, 112)
Gerade der Kunstfreund, der in seinen Ausführungen nicht müde wird zu betonen, was ein Werk der Kunst alles nicht darf, will es seiner ausgezeichneten Besonderheit nicht verlustig gehen, versteht es meisterhaft, diesem Gedanken so Ausdruck zu geben, daß von der Eigenart künstlerischer Objekte in , seinen Begriffsbestimmungen hinten und vorn nichts zu entdecken ist. Denn mit der "Kennzeichnung" durch Ordnung und Komplexität erfährt man herzlich wenig über die Charakteristik des ästhetischen Gegenstands, dessen Benennung als "Zustand" vollends von der besonderen Zweckmäßigkeit absieht, die ein Kunstwerk in der Regel aufweist. Und die Maßverhältnisse, mit denen der Ästhetiker die künstlerische Form, die er "Ordnung" nennt, zu umschreiben sucht, sind auch nicht eben erhellend: Statt der Mitteilung, das Kunstwerk müsse ein adäquates Maß an Gestaltung - ein "theoretischer Pleonasmus" - beinhalten ("nicht zu regelmäßig", aber auch "nicht zu gering", "nicht vollkommen" ohne Stil), hätte man sich Aufklärung darüber gewünscht, worin diese Adäquatheit denn bestehen solle. Nichts dergleichen erfährt man aber. Stattdessen unterstellt unser Germanist einfach mit der Existenz seines Gegenstands zugleich dessen Identität als ästhetische und bespricht sie als Bedingung von Erkenntnismöglichkeiten des Rezipienten, dessen Reaktion tautologisch aus der Wirkung eines Mehr oder Minder an "Regelmäßigkeit" des Kunstwerks hergeleitet wird und dennoch ein Kriterium zur Entscheidung über den Kunstcharakter des Werks abgeben soll. Der Blödsinn, der diesem Maßstab entspringt: die Besonderheit des ästhetischen Objekts soll darin liegen, daß man es von anderem (teils von anderen Kunstproduktionen, teils überhaupt von nichtkünstlerischen Dingen) unterscheiden kann - eine "Besonderheit", die das so bestimmte Kunstwerk unglücklicherweise mit dem Rest der Welt gemeinsam hat -, ist nur konsequent. Denn obwohl die Beschaffenheit der Kunst von "Interesse", "interesselosem Wohlgefallen" bis zu Unbehagen an "epigonaler Redundanz" mancherlei Stellungen des Betrachters ermöglichen mag, ist es gar nicht logisch, dieses Verhältnis des Rezipienten zu seinem Objekt umgekehrt als dem Wesen der Kunst eigenes Verhältnis zum Betrachter zu behaupten. Das "ökonomische" Prinzip dieses Fehlschlusses ist eben die Identifikation von dem, was ein Kunstwerk ist, damit, was es für ein - seinerseits nicht - näher charakterisiertes - Subjekt bedeutet, bewirkt, bedingt und Funktionen ausübt; unverkennbar tritt auch hier wieder an die Stelle der Erklärung der Besonderheit des besprochenen Gegenstands die Genugtuung über seine Existenz, die einen Germanisten zu 'tiefen' Ausführungen über ihre Bedeutung für 'uns' (= sich) animieren; und seine Differenz zu anderen macht sich nur noch in der Sorge geltend, sie möge um der erwünschten Leistungen willen ja nicht verlorengehen.
Gefangene der Bedingungswelt
Das Verfahren ist natürlich umkehrbar; gerade weil in der Bestimmung eines Gegenstands als Bedingung und Möglichkeit dessen Identität stets in Verhältnissen liegt, die sie unterstellen und erklären sollen zugleich, ist sie problematisch und kann daher sowohl hinsichtlich dessen, wozu sie "dem Menschen" angeblich verhilft, als auch hinsichtlich dessen, was sie ihm verwehrt, thematisiert werden. Zwei Linguisten haben dieser letzteren Form des Fehlers in einer nach ihnen benannten Hypothese weltweit Anerkennung verschafft. Der eine benannte das Prinzip:
"Wir sehen und hören und machen überhaupt unsere Erfahrungen in Abhängigkeit von den Sprachgewohnheiten unserer Gemeinschaft, die uns gewisse Interpretationen vorweg nahelegen." (Sapir, zit. nach Whorf, Sprache - Denken - Wirklichkeit, 74)
Diese Theorie der Relativierung unserer Erkenntnismöglichkeiten durch den kulturellen Bedingungshorizont, den uns die Sprache auferlegt, begeht den Möglichkeitsfehler negativ: Daraus, daß die Sprache die Objekte der Erfahrung bezeichnet - was in der Tat die Bedingung "gewisser Interpretationen" ist -, folgt eben noch lange nicht, daß die Allgemeinheit der Vorstellungen, die in sprachlichen Zeichen präsent ist, mit ihrer Interpretation identisch ist. Dieser Sachverhalt ist auch mit gänzlich grundlosen Denunziationen wie "Sprachgewohnheiten" (als ob man mit dem Namen einer Sache schon, auch noch gedankenlos, eine bestimmte Auffassung über sie übernehmen würde!), die manches "nalielegen" (wenn, dann ist diesem nicht umsonst so vagen Ausdruck ein gewisser Suggestionswille anzulasten), nicht aus der Welt zu schaffen. Über der Tatsache, daß die sprachliche Einteilung der Gegenstände durchaus etwas mit der jeweiligen Kultur und ihren Notwendigkeiten zu tun hat (weshalb Eskimos über 16 verschiedene sprachliche Unterscheidungen für "Eis" verfügen mögen, ohne daß deshalb unserem Wort "Eis" die Objektivität verloren ginge: schließlich handelt es sich doch auch bei den subtilen Differenzierungen "Blau-Eis", "Pack-Eis" usw. usf. stets um - Eis!), vergißt der an kulturellen Differenzen interessierte Linguist ganz, daß die damit mögliche Interpretation immer noch eine bestimmte Verwendung der sprachlichen Mittel unterstellen, deren Ermöglichung durch die Sprache dabei in keiner Hinsicht eine Rolle spielt. - Sein Fachkollege, der sich um die Illustrierung des d argelegten Fehlschlusses bemüht, kommt über ihn denn auch zu geradezu verblüffenden Einsichten in die ökonomische (!) Realität unserer Tage. Erst bringt er einmal alles, was er über die Zeit weiß, um seine Existenz, weil er bei den Hopi-Indianern anderes gehört hat:
"Im Gegensatz zu der Weltauffassung der Hopis befördert (!) unsere objektivierende Auffassung der Zeit die Historizität und alles, was mit der Aufzeichnung von Ereignissen zusammenhängt." (op. cit., 94)
Die kulturelle Differenz in der sprachlichen Benennung von Zeitverhältnissen ist ihm also Anlaß zu der Erfindung eines Bedingungsverhältnisses, das es gar nicht gibt - ob zwischen Ereignissen eine zeitliche Abfolge besteht oder nicht, wird doch nicht an der "Auffassung" der Zeit liegen. Und die weitere Erläuterung:
"Die Weltansicht der Hopis ist zu subtil (?) und komplex (?), sie sieht alles zu sehr in kontinuierlicher (!) Entwicklung, um (!) einfache, klare Antworten auf die Frage nach dem Anfang 'eines' Ereignisses und dem Ende 'eines anderen' zu gestatten." (ebd.)
ist so verrückt, daß man zu ihrer Widerlegung keine Forschungsergebnisse über nordamerikanische Röthäute braucht - seit wann verbieten einem denn Annahmen über die Kontinuität einer Entwicklung, in ihr bestimmte Abschnitte auseinanderzuhalten? Und selbst falls die Herren Hopis einer derart konfusen Weltsicht mächtig sein sollten, braucht ein Wissenschaftler, der den Anfang seiner (Sozio)Linguistik ja selbst auch vom Ende vorheriger Ansätze unterscheiden kann, dergleichen nicht für "subtil" und "komplex" halten! Nun kommt aber die Perle, die Anwendung der spekulativen Bedingungskonstruktion des sprachlich strukturierten Weltbilds auf die kapitalistische Ökonomie:
"Nach unserer Auffassung erstreckt sich die objektive Zeit in die Zukunft ganz ebenso wie in die Vergangenheit."
Wer weiß, ob nicht stattdessen alles gleichzeitig passiert! Die andersgeartete Realität aber sub speciem "Kulturbedingtheit" einmal als Hypothese angenommen, folgt nach Whorf dies:
"Daher (!) teilen wir allen Leistungen pro Zeiteinheit gemessene Werte zu - ein Verfahren, das den Aufbau einer kommerziellen Zeitstruktur (!) gestattet (!): Zeitlöhne (die Zeitarbeit gewinnt gegenüber der Stückarbeit mehr und mehr das Übergewicht)" - wohlgemerkt: wegen unserer Zeitauffassung! - "Miete, Kredit, Zinsen, Abschreibungen und Versicherungsprämien. ... Ob eine Zivilisation wie die unsere in Verbindung mit einer ganz anderen sprachlichen Behandlung der Zeit möglich wäre, ist eine große Frage..." (op. cit., 95)
Man möchte den phantasiebegabten Sprachtheoretiker angesichts seiner Ableitungen zu den Hopis wünschen, wo er eher am Platz wäre! Erstens hat die Zeit ja wirklich einen objektiven Verlauf und nicht nur in unserer Auffassung, die zweitens nicht identisch mit ihrer sprachlichen Behandlung ist. Drittens folgt aber auch aus einer bestimmten sprachlichen Behandlung keinesfalls, daß deshalb die Zeit zur Leistungsmessung dient, bloß weil sie sie ermöglicht; und die Messung von Leistungen nach ihrer Zeit ist viertens kein Verfahren, das dem Kommerz vorausgeht, sondern vielmehr wegen seiner Notwendigkeiten praktiziert wird. Weshalb Zeitlöhne, Mieten und Kredit fünftens natürlich auch alles andere als eine kommerzielle "Zeitstruktur" sind, da die Berechnung nach Zeiteinheiten deren Struktur unterstellt und nicht erst hervorbringt. Sechstens ist unsere Zivilisation also bereits in Verbindung mit Whorfs Kreditsekunden und Lohnjahren ein reines Phantasiegebilde, weshalb sich die offene Frage nach der Möglichkeit alternativer Gedankenkonstruktionen gar nicht stellt.
Mit einem Wort: ein soziales System
Wie sich zeigte, ließ der interessierte Standpunkt, die Bestimmtheit und Notwendigkeit der behandelten Phänomene durch ihre Verkehrung zur grundlosen - hinsichtlich ihrer Möglichkeiten "der" Wirtschaft, "dem" Subjekt aber mehr oder weniger zuträglichen Zufälligkeit bereits in den bisherigen Beispielen die Fortsetzung zu, sich von der Abstraktion von den existierenden Objekten der Wissenschaft aus nicht nur zu ihrer falschen Bestimmung, sondern auch zur Neukonstruktion von Funktionen oder Gegenständen hinzuarbeiten, die nur in der Welt der Wissenschaft vorkommen. Wie schnurstracks das möglich ist, ohne daß der behandelte Gegenstand dabei anders vorkommt als als Anstoß der theoretischen Bemühung, von dem diese sich im selben Atemzug emanzipiert, führt uns ein Erziehungswissenschaftler vor. Er interessiert sich nicht für die Erziehung als durch bestimmte Bedingungen ermöglicht oder als bestimmte Möglichkeit von anderem - nicht dieser oder jener, sondern schlechthin "der gesellschaftliche Zusammenhang der Erziehung" bildet sein Thema, so daß ihm gleich zum Auftakt seiner Abhandlung folgender Wurf gelingt:
"Das soziale System bedingt die in ihm enthaltenen Schichten, diese bedingen die in ihnen vor sich gehenden Sozialisationsprozesse, welche wiederum das Verhalten der Schichtangehörigen bedingen." (Rückriem, Der gesellschaftliche Zusammenhang der Erziehung, in: Funk-Kolleg Erziehungswissenschaft 1, 261)
Hier könnte er eigentlich auch schon wieder aufhören, denn dies ist in der Tat - der gesellschaftliche Zusammenhang der Erziehung. Sie hängt zusammen. Der Schein ihrer Bedingtheit, den das dreimal auftauchende Wort "bedingen" erweckt und wohl ausdrücken soll, hier würde eine Erklärung geliefert, lebt allerdings sehr vom guten Willen des Lesers; denn woran genau soll er in Gottes Namen eigentlich denken? Erst darf er siclr einmal irgendein - vermutlich jedes - "Verhalten" von Leuten vorstellen, dessen Zweck vomehm ausgespart wird, obwohl der Theoretiker auf jeden Fall seine "gesellschaftliche Bedingtheit" ausgespäht hat. Diese Bedingtheit besteht dann näher darin, daß sie hervorgebracht wurde, natürlich von einer Bedingung, die sich sinnigerweise durch nichts anderes als ihr Resultat auszeichnet: sie bedingt nämlich das soziale Verhalten, weshalb sie zu Recht "Sozialisation" genannt wird. Dieser rätselhafte Vorgang, dessen Zweck in seinem Resultat liegt, hat ebendarin auch seinen Grund: Sofern er nämlich ein "schicht"spezifisches Verhalten bedingt, ist er seinerseits auf die Existenz von "Schichten" zurückzuführen, von denen man wiederum genau dies erfährt - sie zeichnen sich durch spezifische Sozialisationsprozesse aus. Sofern diese allerdings i n ihnen vorgehen, ist schwer vorstellbar, daß die Schichten zugleich ihre eigenen Bestandteile bedingen, was auch einem "System" schwerfallen dürfte, das als Zusammenhang von Schichten und gleichzeitig von ihnen getrennte Bedingung gedacht werden soll. Nicht irgendwelche konkreten Bedingungsverhältnisse erfährt man also, sondern die ganze Deduktion beschwört nichts anderes als eine Betrachtungsweise: Bei allem muß man den Bedingungscharakter des jeweiligen Phänomens im Auge behalten - und der besteht einfach darin, daß in der Gesellschaft alles füreinander da ist, mit einem Wort: in einem Zusammenhang steht. Die Tatsache, daß das nicht zu bestreiten ist, ist dem soziologischen Erziehungstheoretiker Grund genug, so zu tun, als ob dieser Zusammenhang es auch wäre, auf den es bei allem, das er bespricht, ankommt. Weshalb er sich - siehe oben - lauter Kategorien ausdenkt, die sein Kriterium des Zusammenhangs, der Funktion und des Bedingens in mannigfache apart existierende Gegenstände übersetzen, die man sich nun zu dem, was man so kennt, als dessen Gründe dazudenken soll. Deshalb kommt er auch auf die komplementäre Idee, an die Realität, die in seinen Kategorien gerade nicht zum Ausdruck kommt, mittendrin wieder zu erinnern. Nur geben seine Beispiele der Vorstellungsgabe des Lesers keinerlei Hilfestellung, sondern fordern denselben guten Willen wie die Abstraktionen von vorher - mußte man sich erst irgendwelche realen Verhältnisse zu den soziologischen Begriffen dazu denken, so muß man nun im Dschungel des Konkreten erahnen, inwiefern sich hier das allgemein Behauptete geltend macht:
"Daß es einen (?) Unterschied der sozialen (!) Entwicklung ausmachen muß, ob ein Kind... die Gelegenheit hat, in eine Ballettschule, einen Tennisclub, eine Reitschule, eine Mal- oder Musikschule einzutreten oder ob es diese Gelegenheiten nicht wahrnehmen kann; ob ihm die Möglichkeit geboten wird, fremde Länder und ihre Menschen kennenzulernen, seinen Horizont auszudehnen, einen anspruchsvollen Geschmack zu entwickeln und auch zu verwirklichen oder ob ihm diese Möglichkeit grundsätzlich verschlossen ist, nur weil der sozio(!)-ökonomische Faktor, das Einkommen seines Vaters, dies verbietet... ist wohl unmittelbar verständlich." (op. cit., 281)
Unmittelbar verständlich ist jedoch allenfalls, daß all das "einen Unterschied" ausmacht; was es zu beweisen gegolten hätte, ist hingegen unmittelbar unverständlich und reine Glaubenssache - nämlich, welchen Unterschied das ausmacht, was das Soziale an der dadurch bedingten Entwicklung sein soll, inwiefern das Einkommen des Vaters ein nicht nur ökonomischer, sondern sozioökonomischer Faktor ist (also neben seinem beschränkten Vorhandensein, das manches nicht erlaubt, noch gesonderte positive Wirkungen zeitigt), kurz: inwiefern alles Angeführte nicht nur eine Grundlage der Entwicklung (über deren Verlauf damit noch gar nichts entschieden wäre), sondern zugleich ein eine bestimmte Entwicklung bedingender Grund sein soll. Der Leser wird also schlicht aufgefordert, die Existenz der angegebenen Unterschiede für eine hinreichende Veranschaulichung ihrer "Bedingtheit" und somit Begründetheit zu nehmen! Da auch Rückriem der Klasse der berufsmäßigen Komiker angehört, erlaubt er sich, diesen logischen Unfug einfach einzugestehen -
"Ein entscheidender Einwand (!) könnte... erhoben werden: ... es würde nur dargestellt, daß es Schichten gibt, daß sie sich nach bestimmten Kriterien" (ach?) "so oder so" (ach so?) "zusammensetzen... Nicht gesagt würde dagegen, warum es diese Schichten überhaupt gibt und wie es zu dieser Schichtung unserer Gesellschaft kommt." (op. cit., 303); den durchaus auch entscheidenden Einwand, daß es ebensowenig gesagt wurde, wie man überhaupt zu der Darstellung von "Schichten" kommt, ohne deren Warum und Wie angeben zu können, lassen wir einmal unberücksichtigt) -,
um darauf mit dem schlagenden Witz zu antworten:
"Dazu ist zu sagen, daß die vorliegenden Bedingungsverhältnisse nur von dem Gesamtzusammenhang des sozialen Systems aus zu erklären sind." (ebd.)
Zwar kann man also keins der angegebenen Bedingungsverhältnisse als solches erklären, aber alle zusammen aus ihrem "Gesamtzusammenhang" - interessant! Die verheißungsvolle Gesamterklärung schreitet in einem Finale, das man Wort für Wort genießen muß, bis zum voraussehbaren Schlußakkord von Höhepunkt zu Höhepunkt. Was ist "eine entscheidende Bedingung" der Schichtung? "Die Herrschaftsverhältnisse". Und was ist das? "Diese Herrschaftsverhältnisse... bilden in einem gewissen Sinn die Struktur unserer Gesellschaft bzw. das soziale System." In welchem Sinn? Sie sind "der Regulator der sozialen Schichtung". Wie darf man sich das nicht vorstellen? "Natürlich... nicht in Form plumper, unverhüllter Gewalteingriffe". Wie dann? Es "handelt sich hier um eine Hierarchie von Positionen, die komplementär zugeordnet und durch eine Abstufung des Prestiges abgesichert sind". Aber war das nicht schon die Schichtung selbst; jetzt ist doch von ihrer "Regulation" durch die "Bedingung" der "Herrschaftsverhältnisse" die Rede? "Mit einem Wort: Es handelt sich um ein soziales System." (alles op. cit., 303 f.)
Im übrigen: Wer voreilig diesem Trommelfeuer von Beteuerungen, die Existenz von Unterschieden in "unserer Gesellschaft" sei Grund für ihre Regulierung und/oder Absicherung brw. umgekehrt, ein reichlich umstandsloses Einverständnis mit allem, was es gibt und den Theoretiker nur "im Zusammenhang" interessiert, bescheinigen möchte, irrt "in einem gewissen Sinn". Der Soziologe beherrscht natürlich die Bedingungslogik auch rückwärts und verfehlt nicht den Hinweis, daß er mit seiner aufwendigen Angeberei, zu jedem Phänomen die entsprechende Bedingung gefunden zu haben, - eben auch nur Bedingungen gefunden hat, was heißt: Gerade weil er eben "bewiesen" hat, daß alles so sein muß, wie es ist, muß es auch nicht so sein, wie es ist. Anders ausgedrückt: Wie man schon bisher statt einer Analyse von irgendwelchen Verhältnissen stets nur erfahren durfte, wie sie zu erklären sind, wie man sie verstehen muß, wie man sie sich nicht vorstellen darf, - genauso geht es weiter:
"Da aber die Herrschaftsverhältnisse nicht als quasi naturwüchsig angesehen werden dürfen (!), sondern immer aus ganz konkreten (!) geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen" (woraus denn sonst!) "heraus verstanden werden müssen (!), kann (!) die Abhängigkeit der Sozilisation nicht naturhaft (!) oder (!) mechanisch bzw. (!!) kausal gedacht (!) werden. Es bleibt die Frage, was denn Sozialisation oder (?) Erziehung gegen konkrete Herrschaftsverhältnisse auszurichten vermögen." (op. cit., 306)
Erst das "soziale System" als Bedingung von Unterschieden bestimmen, die es um seiner Aufrechterhaltung willen reguliert, und es dann mit der Erinnerung an seine Bedingungen mit demselben Argument ("gesellschaftlich" ist es!) zur bloßen Möglichkeit degradieren, die keineswegs kausal wirksam vorgestellt wertlen darf - in dieser Dialektik von Hase und Igel ist ein Soziologe mit seinem kriterienlosen Maßstab des "Zusammenhangs", der sich unweigerlich immer geltend macht, nicht zu übertreffen!
Von der Humanisierung der Geisteswelt
Der Fehler, die Gegenstände der wissenschaftlichen Erörterung nicht für sich, sondern im Verhältnis zu anderen, als bedingte und anderes Ermöglichende zu bestimmen, verdankt sich nicht dem Wissensdurst, sondern einem recht eigentümlichen Interesse bürgerlicher Denker.
Ganz allgemein wollen sie offenbar auf einen Beweis hinaus, den ihre Objekte als solche nicht hergeben; weshalb diese nicht als das beurteilt werden, was sie sind, sondern daran gemessen werden, was sie eigentlich sein sollten. Diese Abstraktion von ihren Notwendigkeiten verfährt gleichwohl nicht prinzipienlos - im Gegenteil: die stete Identifikation jedes konkreten Objekts mit seinen Bedingungen, Möglichkeiten und Funktionen praktiziert ja diese objektiven Verhältnisse als Prinzipien der Wissenschaft, an denen sich die Realität mehr oder minder blamiert, Das Denken tritt in dieser bürgerlichen Metaphysik also neben die Welt, von der sie den Anspruch erhebt, das gesammelte Wissen zu repräsentieren - und repräsentiert doch nur einen Zweck, den es sich jenseits aller Erkenntnis zugelegt hat: den der Gemäßheit der Wirklichkeit an die Bedürfnisse "des" Menschen, der seinerseits nur dadurch charakterisiert ist, daß die Welt ihm doch erlauben muß, mit ihr zurechtzukommen, Es ist also ein Idealismus, der sich von diesem vorgefaßten Zweck aus jeden Gegenstand als "Problem" zurechtlegt, um dessen "Lösung" im Verhältnis zu anderem ausfindig zu machen - ein Verfahren, das freilich endlos ist, weil noch jede Möglichkeit, als die ein Objekt festgehalten wird, mit Hilfe anderer Bedingungen zum Verschwinden gebracht werden kann und umgekehrt. Eben darin ist der Idealismus, der sich über das Vorhandene erhebt, dann auch wieder affirmativ: Da "der" Mensch immer das negative Abziehbild seiner "Probleme" bleibt, bekennt die Theorie selbst sich zu ihrem Urteil über ihren Gegenstand - "es irrt der Mensch, solang er strebt".