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Helden der Arbeit
EIN "SYSTEMVERGLEICH"
"Ist das ein Leben? Keinerlei Raum für Individualität. Immer dasselbe, den Fünfjahresplan in vier Jahren, den Fünfjahresplan in drei Jahren."
"Gerade der Wille des Kollektivs! Den Fünfjahresplan in vier Jahren, sogar in dreien - das ist ein Anreiz, der... Hol's der Teufel, vor den Augen wächst ein neues Leben!" (Ilja Ilf, Ewgenij Petrow: Solotojteljonok. Das goldene Kalb. Syktywkar 1973, S. 127 f.)
Daß man als Arbeiter sein Leben mit viel Arbeit hinüberbringt, ist hierzulande normal, und das sieht man den Leuten an - nicht erst, wenn sie 50 sind. In der Sowjetunion kann damit einer Held werden.
Ein Held ist, wer sich für den höheren Zweck Vaterland gegen besonders widrige Umstände durchsetzt, und solche finden die sowjetischen Arbeiterhelden zur Genüge vor.
Die Aufgaben der Planwirtschaft...
So einer kämpft mindestens an drei Fronten: Zuerst einmal gegen sich selbst. Ganz ohne Aussicht auf mehr Lohn arbeitet er so schnell er kann und soviel wie möglich. Die Textilarbeiterin Walentina Nikolaewna Golubewa z.B. hat seit 1975 18 Jahresvorgaben geschafft und konnte sich Ende '80 vorrechnen lassen, daß sie für das Jahr 1993 arbeitete. Sie hat daraufhin feierlich versprochen, bis Jahresende noch ein paar Jährchen zuzulegen... Den Lohn für 1994 hat sie sich noch nicht auszahlen lassen.
Zweitens kämpft ein Held gegen seine Kollegen, die nicht zu Unrecht fürchten, daß dabei für sie höhere Arbeitsnormen herauskommen, weshalb so manch ein Held auch schon Prügel bezogen hat. Und schließlich kämpft er gegen die Betriebsleitung: "Du kriegst die Rekorde, und ich habe den Ärger damit", muß er sich vom Werksleiter sagen lassen.
"Von 1974 bis 1979 wuchsen die Bauleistungen der Brigade SMU-2 um 72 Prozent. Das war doppelt so viel, wie im Fünfjahresplan vorgesehen... Bei gleichem Arbeitsumfang verringerte sich der Personalbestand um ein Drittel... Das Wichtigste: die Bauleute der SMU-2 übergaben ihre Objekte fristgerecht oder vorfristig - mehr als fünfzig."
"Und jetzt werde ich Sie etwas betrüben: die SMU-2 ist ein zurückbleibendes Kollektiv. Vier Jahre lang hat es den Plan für den Verbrauch von Finanzmitteln nicht erfüllt, die mit dem Bruttoumsatz verbunden sind, z.B. für den Gesamtwert der Produkte. Sie paßte auch nicht in den geplanten Lohnfonds. Der Betriebsleiter bekam etwa dreißig Rügen. Die Verwaltungsmitarbeiter konnten an Quartalsprämien nicht einmal denken, obwohl diese Jahre voll schwerster Arbeit waren."
"Und die Staatsanwaltschaft interessiert sich für sie: Was sind das für Leute, die sich über die Instruktionen hinwegsetzen? Man hat auch den Minister selbst angerufen: Nehmen sie doch den Serikow weg, der macht viel Lärm und Ärger..."
Verbraucht ein Held wie der obige Brigadier Serikow weniger Material, so schadet er dem Betrieb, wenn der Staat dessen Planerfüllung am Materialverbrauch mißt, um den tatsächlichen Umfang der Produktion, unabhängig von den vom Betrieb angegebenen Zahlen zu kontrollieren. Verbilligt der Held die Produkte, so gehen dem Betrieb Prämien flöten, und der Lohnfonds wird gekürzt, den der Staat vom Umsatz abhängig gemacht hatte, damit der Lohn für ihn lohnend ist. Erhöht der Held den Ausstoß, so erhöht auf die Dauer der Staat dem Betrieb die Planziffer. Setzt der Held die Arbeitsnormen herauf, ist die Planerfüllung - von der Erfüllung der neuen Norm durch die gesamte Belegschaft abhängig. - gefährdet. Informiert sehiießlich der Held Partei, Gewerkschaft und Presse über die Rechenkünste der Betriebsleitung oder über Mängel der Produktion, so kann er seinen Betrieb über Nacht in die roten Zahlen treiben.
All das kann einem der hiesigen Normalhelden nicht passieren. Hierzulande sind die Verantwortlichkeiten von "Arbeitgeber" und "Arbeitnehmer" genau festlegt: Der eine kümmert sich um sein Eigentum, und der andere hat nur eine einzige Verpflichtung, die Arbeit. So viel zu leisten wie gerade irgend möglich, organisiert das Kapital durch seinen Arbeitsprozeß und das Lohnsystem, und das hat die Gewerkschaft tarifvertraglich als "Normalleistung" definiert:
"Normalleistung ist die Lewtung, die von jedem geeigneten Arbeitnehmer nach Übung und Einarbeitung mindestens erreicht werden kann, ohne die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit zu gefährden."
Und bei diesem Bestreben erfreut sich ein freier deutscher Arbeiter der weitgehendsten Unterstützung durch Meister, Abteilungsleiter und Chef, die ihm mit Normen, Akkordvorgaben und immer neuen Definitionen der Normalleistung hilfreich zur Seite stehen.
...rufen Helden auf den Plan
Daß man hingegen im ersten Arbeiterstaat der Welt mit viel Arbeit allein ein Held werden kann, hat den gleichen Grund wie die Widrigkeiten, die so ein Held überwindet: das Gewinnemachen als Staatsaffaire. Denn entgegen allen Gerüchten ist ja in der Sowjetunion der Profit nicht abgeschafft, sondern in eine rein nationale Institution verwandelt worden. Der Staat der Arbeiter hat es sich zum Anliegen seiner Gewaltausübung gemacht, festzulegen, wie er zu erzeugen und wieviel davon abzuliefern ist, und in seinem Profitstreben verlangt er auf der einen Seite immer möglichst viel, wie er auf der anderen Seite den Verbrauch gesellschaftlichen Reichtums durch die Betriebe als mögliche Verschwendung beargwöhnt. Dank dieses herzlichen Verhältnisses von Volkseigentümer und Volk ist z.B. für einen Betrieb eine Produktionssteigerung nicht unbedingt ratsam, erfolgt doch unter Garantie eine Erhöhung der Planauflagen, die - wird nicht genügend Material geliefert, weil der andere Betrieb dem staatlichen Soll nicht nachkomnmen kann - zu Planverfehlung und Abzug von Prämien führt. Oder es empfiehlt sich umgekehrt, möglichst viel Material zu verarbeiten, wird doch so das Produktionsvolumen drastisch erhöht, der Gewinnplan übererfüllt, und die entsprechenden Prämien folgen. Was die Arbeit schließlich anbelangt, wird von den Bürgern eines ganz seinem Arbeitsvolk gewidmeten Staates allein um dieses Umstands willen erwartet, daß sie ihrem Leistungswillen freien Lauf lassen.
Da die Mehrleistung jedoch nur mit dem ideellen Lohn eines in die Zukunft verschobenen Wohlstands rechnen kann, umgekehrt die Erpressungsmittel der kapitalistischen Ausbeutung nicht zur Verfügung stehen - das Recht auf Arbeit garantiert nämlich die Existenz, um die ein Lohnarbeiter hierzulande mit dauernder Mehrleistung kämpfen muß -, kalkulieren die sozialistischen Werktätigen ihren Arbeitseinsatz in gewissem Maß nach ihren Kriterien. Seinerseits entgilt ihnen der Staat die ihm immer nicht genügend lohnende Ausbeutung durch eine nur kärgliche Teilnahme am nationalen Reichtum, was zwar auch nicht die Leistungsfreude fördert, wohl aber die Armut der Produzenten zur Einrichtung auf Dauer macht.
Gegen all die mißliebigen Resultate der Planauflagen ruft der staatliche Eigentümer nun die Helden auf den Plan. Der Held ist der staatlich gewünschte Lückenbüßer, er soll sich als eine auf freiwilliger Basis organisierte Korrektur an den Wirkungen der planwirtschaftlichen Aufträge betätigen, soll mit seinem Idealismus den Beweis führen, daß 1. die Erfüllung des Plans möglich ist und 2. ohne negative Begleiterscheinungen wie Qualitätsmängel, Beschiß, Materialverschwendung etc., womit die Grenze seines Wirkens allerdings auch schon genannt ist, die staatlichen Anweisungen bleiben schließlich bestehen.
Ein Held macht sich so als erstes mal sehr unbeliebt, bei seinen Kollegen, denen er als moralische Anmache an Ort und Stelle vor die Nase gesetzt wird, und bei seinem Betrieb, dessen Arrangement mit den Normativen er auf äußerst lästige Weise stören kann. Er braucht daher Rückendeckung. Seine mächtigen Verbündeten sind Partei, Gewerkschaft, Komsomol, denn der Held soll als ihr Vorposten im Betrieb und Zugpferd im sozialistischen Wettbewerb fungieren - einer Methode der Heldenvermehrung, bei der die Kollegen ganz unheldisch durch Prämien und notgedrungene Selbstverpflichtung dazu gebracht werden, mehr zu tun. Solchen Vorbildern des sozialistischen Menschentums darf man sich nämlich nicht verschließen, wofür notfalls die übermächtigen Anwälte des neuen sozialistischen Menschen sorgen, die in sämtlichen Institutionen sitzen wie den Wohnungs-, Versicherungs-, Urlaubs- und Schulkomitees. In einigen Fällen stößt allerdings auch das Heldentum auf Schranken:
"Im Werk wurde die Arbeit auf den Ausstoß von Überplan-Produktion umgestellt. Und dennoch wurde viel weniger hergestellt, als versprochen war. Wer ist daran schuld? Schuld ist das Ministerium für Atomobilindustne, das versicherte, daß es das Werk mit zusätzlichem Metall versorgen wird. Aber aus Luft kann man keine Lager bauen."
"Es ist nicht leicht, die Arbeitsproduktivität zu heben, wenn sich in der Stadt die Praxis eingebürgert hat, hochqualifizierte Spezialisten von ihrer Hauptarbeit wegzureißen, und sie mal hier - mal dorthin als Lückenbüßer zu werfen."
Solche Ärgernisse braucht hinwiederum einer der unbeachteten Helden hierzulande nicht zu erdulden. Weder will ihn sein Chef wegen zu hoher Leistung loswerden noch mutet ihm die Kalkulation seines Betriebs zu, Ersatzteile für veraltete Maschinen selbst zurechtzubasteln, und genügend Material, um sich daran abzuarbeiten, findet er normalerweise immer vor. Von einem Ernteeinsatz der BMW-Belegschaft hat man schließlich auch noch nichts gehört. Soweit beherrscht ein kapitalistischer Betrieb die Planwirtschaft, die ja sonst nach allgemeinem Urteil ein Ding der Unmöglichkeit sein soll.
Helden drüben...
Hat der Held (Ost) seinen Betrieb oder zumindest seine Gruppe auf Vordermann gebracht, so sorgen seine Paten dafür, daß er in ein "zurückbleibendes Kollektiv" versetzt wird und mit seinem Tatendrang der Produktion erhalten bleibt. Gelegentlich bekommt er einen Erholungsurlaub in einem Sanatorium für Helden. Er ist der ideale "Vorarbeiter" und einen solchen nützt man aus. Dieselben Strebertypen werden auch hierzulande natürlich ausgenützt; daneben gelten sie aber als die Betriebsdeppen, die sich für die Firma einsetzen, ohne es auf einen unmittelbaren Vorteil abgesehen zu haben. Drüben machen sie dagegen eventuell Karriere als moralische Vorbilder. Nach genügend Erfolgen an der Arbeitsfront kommt ein Held groß heraus: er wird Vortragsreisender. Seine Auditorien sind "Schulen der kommunistischen Arbeit", die Kampagne "Arbeiten ohne zurückbleibende" u.ä., er bekommt eine Methode, die nach ihm benamst wird, Heldenepen werden über ihn verfaßt und die sozialistische Kulturintelligenz entdeckt an ihm Geist, Charakter und Willensstärke und seine Mutter erzählt, wie er schon in der Wiege sein Heldentum angekündigt hat.
Arschlöcher, die das lange genug durchhalten, Leute von exorbitanter Zähigkeit und mit genügend spektakulären Erfolgen, was nur sehr bedingt von ihnen abhängt, kommen in den Genuß höherer Ränge. Solch ein Held kommt in Partei- und Gewerkschaftskomitees, er erhält einen Orden, dann noch einen und wird schließlich Deputierter im örtlichen Sowjet. Er genießt den zwiespältigen Respekt der Kollegen - "er ist unter die Helden gegangen", korrekt übersetzt: der spinnt - und die Liebe des ganzen Sowjetvolkes.
...Helden hüben
Für den deutschen Normalleisler springt nichts dergleichen heraus, er bringt es allenfalls zum Vorarbeiter. Bundesverdienstkreuze pflegt man nicht an Arbeiter zu vergeben, kein Schreiber besingt ihren Geist, denn den Geist siedelt man hierzulande erst in der Vorstandsetage an. Leistung, Mehrleistung und noch mehr Leistung sind zu erbringen ganz ohne jede Karriere. Fürs Lob der Arbeit allerdings gibt es hierzulande auch eine gesonderte Laufbahn: als Funktionär der Gewerkschaft. Da reüssieren zwar keine Helden der Arbeit, aber das Heldenlied der deutschen Arbeit wird gesungen. Wer hat schließlich die Republik aufgebaut und wer beweist durch immer neue Anstrengungen und vorbildliche Opferbereitschaft seinen Patriotismus?! Und wenn drüben der Individualismus des heroischen Arb eiters gefeiert wird, so hierzulande der Kollektivismus der Arbeiterklasse, pardon: der Arbeiterschaft deutscher Nation. Insgesamt: im realen Sozialismus wird die besondere Leistung wenigstens noch anerkannt, und so können wir all denen, die hier Undank erfahren, nur ein herzliches "Geht doch nach drüben!" zurufen.