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Dieser Artikel ist in der MSZ 3-1981 erschienen.

Systematik

Nordirland
440 STEHEN NOCH AN

Wieder einmal werden anläßlich des Prozesses um den "Yorkshire Ripper" die Tugenden der englischen Rechtsstaatlichkeit und der tiefverwurzelten demokratischen Traditionen breit ausgewälzt - alles ohne geschriebene Verfassung, man stelle sich vor. Während es ein abscheuliches Verbrechen ist, Mr. Sutcliff ein paar Tage zu früh einen Mörder zu nennen, werden ein paar hundert Kilometer weiter westlich täglich Leute ohne großes Brimborium in Vorbeugebaft genommen, können die Geschworenen nicht beeinflußt werden, weil es sie gar nicht gibt, sind Geständnisse wenig interessant, weil sie sowieso erpreßt sind - ohne daß dem bürgerlichen Verstand auffallen will, daß hehrste Rechtsstaatlichkeit und Außerkraftsetzen elementarer bürgerlicher Rechte in jedem Staat einträchtig nebeneinander existieren können.

Um Willkür handelt es sich ja nicht, ist doch das über Nordirland verhängte Kriegsrecht eindeutig per demokratischem Beschluß zustandegekommen; mitten im zivilisierten Europa gilt eben auch, daß Recht und Aufhebung des Rechts nichts anderes als Alternativen der Durchsetzung staatlicher Gewalt sind - und auf der "grünen Insel" verfolgt diese nur einen Zweck: die Auslöschung einer "gefährlichen Terroristenorganisation", der IRA.

Die britische Lösung des Nordirlandproblems

Spätestens seit 1976 ist für den britischen Staat klar, daß die politische Lösung des "Nordirland-Problems" darin besteht, den Umgang mit dem "nordirischen Freiheitswillen" auf die kriegerische Auseinandersetzung zu reduzieren. Seither gibt es keine Vorschläge mehr für eine irgendwie geartete Beteiligung der Ulster-Katholiken an einer selbständigen Regierung, keine Langzeitprogramme mehr für die Vereinigung mit der Republik Irland, und den IRA-Häftlingen ist der "politische Status" aberkannt. Daß diese Linie des britischen Staates Früchte trägt, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, daß mittlerweile die Besatzungsmacht von 22.000 Soldaten auf die Hälfte reduziert werden konnte, daß also der staatlich verordnete Kleinkrieg inclusive des (zugelassenen) protestantischen Terrors die IRA eine bedeutende Anzahl ihrer Aktivisten gekostet hat abgesehen davon, daß die Bevölkerung die tägliche Misere allmählich über hat. Bei aller Sympathie, die sie für das "berechtigte Anliegen" der "Freiheitskämpfer" empfindet, ist es eben wenig lustig, sich selbst und seine Kinder in ständiger Todesgefahr zu wissen oder bei jedem Einkauf gleich dreimal von britischen Soldaten durchsucht zu werden, weswegen die "Friedensbewegung" der Betty Williams (Friedensnobelpreis) einigen Zulauf hatte.

Quasi-Staatsbegräbnis zu ermöglichen, worin sich andererseits die Kalkulation der britischen Militärs ausdrückt, ihrerseits keine unnötige öffentliche Erregung zu provozieren. Bei aller organisatorischen Geschlossenheit und militärischer Perfektion der IRA kann sich die britische Besatzungsmacht ja sicher sein, am längeren Hebel zu sitzen und im täglichen Zermürbungskrieg den Widerstand aufreiben zu können.

Wie recht sie damit hat - ohne die Behauptung es gebe nur noch 200-300 IRA-Kämpfer für bare Münze zu nehmen -, beweist sich an der Reaktion der IRA (Provisional).

Kalkulierter (Selbst)Mord

Ihre jetzt ablaufende Hungertodkampagne ist die zynisch ohnmächtige Antwort auf die zynische Kalkulation der Mächtigen. Für jeden, der im Hungerstreik draufgeht, will sie einen nachschieben; an Nachschub besteht ja wahrlich kein Mangel, sitzen doch noch 440 in den extra für sie gebauten Sonderblöcken. Bobby Sands stellte sozusagen einen Test dar, den die Provos mit Fug und Recht - nämlich auf Basis ihrer Kalkulation - als erfolgreich abgeschlossen betrachten können:

Der Hungerstreik der Sieben zu Weihnächten mußte als Fehlplanung abgeschrieben werden, weil sich diese so unbedingt dem Kommando der Befehlszentrale nicht beugen wollten. Die Kompensation dieser Schlappe bestand darin, sich Bobby Sands, dessen fanatischen Opferwillen sich die englischen Zeitungen mit der ansonsten sehr geschätzten "willingness to obey" erklären, herauszusuchen, ihn für einen Parlamentssitz - aus dem Gefängnis heraus - kandidieren zu lassen, ihn dann, nach erfolgreicher Wahl bzw. gelungener Solidarisierung der Bevölkerung zum Oberkommandierenden der einsitzenden Aktivisten zu ernennen (was im übrigen "demokratischen Traditionen" der "gefangenen Kämpfer" widersprach) und ihm schließlich den endgültigen Befehl zum Selbstmord zu geben. Läßt man die Ungeheuerlichkeit beiseite, daß die wirkungsvollste Waffe im Kampf gegen die Briten der geplante Massenselbstmord sein soll, dann dürfen die Provos mit den Ergebnissen ihrer Kampagne zufrieden sein: Die Bevölkerung hat ihre moralische Zugehörigkeit abgenötigt bekommen und sie auch brav abgeliefert, die Welt hat mal wieder aufgehorcht.

Ihrem ersten Ziel, der Anerkennung der Häftlinge als "politische Gefangene" mit den Forderungen nach Tragen eigener Kleidung (4 Jahre lief Bobby Sands in Wolldecken herum), kein Zwang zur Gefängnisarbeit, Versammlungsrecht und Recht auf mehr Briefe und Besuche - auf die letzten Forderungen wollte sich Sands nicht einmal mehr versteifen -, diesem Ziel sind die Provisionals keinen Schritt näher gekommen. Während 1972 noch die Androhung eines Hungerstreiks genügte, der konservativen Regierung das Zugeständnis gewisser Hafterleichterungen für die Häfltinge in den eigens für sie eingerichteten KZs abzupressen weil die Kalkulationen des britischen Staates damals noch auf eine "friedliche Lösung" hinausliefen -, erklärt sich Mrs. Margaret Thatcher von den neuesten Ereignissen demonstrativ unbeeindruckt und genießt dabei die vollste Unterstützung der Labour-Opposition:

"Es ist nicht meine Gewohnheit, Parlamentsmitglieder eines fremden Staates zu treffen und mit ihnen über einen Bürger des Vereinigten Königreichs, der sich auch in diesem Staat aufhält, zu sprechen... Der politische Status ist ausgeschlossen für jemanden, der wegen eines Verbrechens verurteilt ist. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen ist ein Verbrechen. Es ist nicht politisch.

Konzessionen in Bezug auf den politischen Status zu machen, würde zu viele Leute in Gefahr bringen." (Times, 22.4.81)

Demokratischer Kolonialismus

Diese Gefahr wurde von einem anderen Regierungsmitglied folgendermaßen beschrieben:

"Es würde eine Explosion hervorrufen und Ian Paisley die totale Kontrolle über die protestantische Bevölkerung verschaffen, was Ulster unregierbar machen würde." (Times, 4.5.81)

Daß die Regierbarkeit für die Bevölkerung von Ulster die höchste Arbeitslosipkeit von ganz Großbritannien bedeutet (17,3%, in manchen Stadtteilen Belfasts 50%), den niedrigsten Lebensstandard, katastrophale Wohnungslage, die niedrigste Lebenserwartung, die höchste Sterberate und die höchste Auswanderungszahl, und zwar inzwischen auch bei der protestantischen Bevölkerung, kümmert die britische Regierung wenig. Sie hält daran fest, daß ihr dieser Landstrich gehört, und wenn er sich nicht anders als mit den überkommenen Formen kolonialen Zwangs verwalten läßt, soll ihr das auch recht sein. Daß auf dem Landstrich eine sehr elende Bevölkerung lebt, ist ihr ebenso gleichgültig; für das Auskommen des britischen Teils, der Protestanten, ist durch entsprechende gesetzliche Vorkehrungen gesorgt; sie selbst "schützen" sich mithilfe eines erlesenen Privatterrors unter Anführung des faschistischen Pfaffen Ian Paisley, der es mittlerweile zum Europa-Parlamentarier und zum selbstverliehenen Titel "Ulster's true leader" gebracht hat.

Was die ökonomische Nutzung angeht, war das Elend der Bevölkerung bekanntlich noch nie ein Hindernis, und für die sorgfältige Ausgrenzung des Krieges aus den Fabriken und Werften bzw. für die Lokalisierung des Kampfablaufs in den katholischen Vierteln ist gesorgt.

Der Kampf der IRA...

Vom Gegner diese Form der Auseinandersetzung aufgezwungen zu bekommen heißt noch lange nicht, daß sich die IRA auf diesen - eigenem Bekunden nach schier aussichtslosen - Kampf einlassen müßte. Sie selbst denkt ans Aufhören, und sei es auch nur vorübergehend, jedoch nicht, "bereichert" stattdessen ihren Waffenfundus um die sorgfältig geplante Aufopferung ihrer Mitglieder.

Politisch zu einem Nichts erklärt, militärisch in einer verzweifelten Defensive und ideologisch auf den nackten Spruch reduziert "Brits out!", denkt die IRA nicht im Traum daran, aus diesen ihren - drastisch vorgeführten - Fehlern zu lernen. Wie soll sie auch auf Basis einer Ideologie, die die britische Zwangsherrschaft schon längst in ein Gegeneinander von Nationalitäten und Religionen verkehrt hat. An Staat und Kapital fällt ihr als erstes und letztes nur das Attribut "britisch" auf, und daß erstere ihre Herrschaft sehr zweckmäßig mit Indienstnahme und Privilegierung der - originär britischen - Protestanten befestigten, ist diesen Freiheitskämpfern auch kein Anlaß zum Nachdenken, sondern nur dafür, das "tapfere irische Herz" und den "guten katholischen Glauben" dagegen hochzuhalten. Das kann man nicht damit entschuldigen, daß die Protestanten diesen religiösen Nationalismus auch entfalten - und davon profitieren -, auch nicht damit, daß beide Kirchen darauf ihr Süppchen kochen.

Die Aufspaltung der IRA in "Officials" und "Provisionals" widerspiegelt diese trauiige Konsequenz des Nationalismus insofern, als sich auf Basis einer solcherart errungenen Sympathie der Bevölkerung eine Beseitigung der eigentlichen Ursachen des Elends nicht einstellt, sei die Sympathie auch ebenso dauerhaft wie ihre realen staatlich-ökonomischen Grundlagen: Die "Officials" zogen daraus den Schluß, den "bewaffneten Kampf" "auszusetzen" und es "mehr politisch" versuchen zu müssen, was nichts anderes bedeutet, als dem Nationalismus noch ein paar revisonistische Sprüche anzuhängen, keineswegs ihn zu bekämpfen; was nichts anderes bedeutet, als den gerade in diesem Lager beliebten Hinweis auf die Betroffenheit zu dem Beleg für die Notwendigkeit einer eigenen Herrschaft zu machen. Diese Fraktion richtet ihre Hoffnung auf die Republik Irland, was angesichts der rigiden Anti-IRA-Politik der irischen Republikaner ziemlich aussichtslos erscheint. Auch den "Provisionals" ist der Übergang vom Elend zur Forderung nach einem eigenen Staat mehr als geläufig; sie hingegen wollen das Ziel der Vereinigung mit Eire rein "militärisch" durchsetzen, ein Ziel, an dessen Verwirklichung sie zur Zeit wohl auch nicht mehr so recht glauben. Ihre jetzt laufende Kampagne setzt nämlich auf ein Einschwenken der britischen Regierung - heißt: auch die "Provisionals" haben erkennen müssen, daß sich in Ulster nur etwas ändert, wenn der britische Staat es will durch Druck der Weltöffentlichkeit. Sie ziehen ihre zynische Show ab, zunächst um der britischen Regierung zu beweisen, daß es sie noch gibt - was jene auch gar nicht bezweifelt und eben deswegen ihr militärisches Kalkül anwenden läßt; weiterhin um die von der "grünen Insel" abgerückte Aufmerksamkeit wieder einzufangen. Dafür führen sie den "undemokratischen Charakter" der britischen Regierung an eigenen Körpern vor und bekommen diese Aufmerksamkeit.

...und seine internationale Begutachtung

Europa-Parlamentarier, amerikanische Politiker (irischer Abstammung) und der Papst persönlich versichern den Gepeinigten, daß sie ein "Problem" seien und daß es ihnen schrecklich leid täte. Für amerikanische Politiker sind solche Beteuerungen eine günstige Gelegenheit, sich des "irish vote" zu versichern, eines Blocks von etwa 10 Mio. Wählern, der mit seinen Geldsammlungen der IRA überhaupt die finanzielle Grundlage für ihren Kampf verschafft; der Papst hat mit seinen väterlich-mahnenden Worten die Linientreue des Kirchenvölkchens - eines der treuesten, die Iren! - im Sinn. Den Europa-Parlamentariern und ähnlichen Problembeschwörern hingegen ist der Vergleich "normalen" Funktionierens kapitalistischer Staaten mit ihren "Ausnahmemaßnahmen", in einem Wort: das Hochhalten der Ideale bürgerlicher Herrschaft, nichts anderes als eine wohlfeil abzuhaltende Übung - gerade auf dem Weltmarkt der Meinungen. Der auf ihre Vorstellungen von einer gerechten Herrschaft gegründete Idealismus, der die IRA auf die Unterstützung der Weltöffentlichkeit hoffen läßt, begeistert sich an solchen Aufmerksamkeiten, die sich zu gerne an der "bedauerlichen Kluft" entzünden, die noch ein jeder Staat auf der Welt zwischen Praxis und Ideal vorführt. Daß dies für sie keine praktische Unterstützung nach sich ziehen wird, könnte die IRA schon an der "Ausgewogenheit" der Kommentare merken: Zwar will sie niemand so recht "Terroristen" nennen, aber nicht einmal das von der IRA so sehr reklamierte Unrecht, geschweige denn, daß ihre Provinz von Großbritannien in einem kolonialen Zustand gehalten wird, bekommen sie attestiert. Ansonsten läßt sich "der Vorfall" benützen, um auch der "ältesten Demokratie" in der EG gewisse Unzulänglichkeiten reinzusemmeln.

Das weltöffentliche Interesse ist ein theoretisches, und die Iren müßten schon das "Glück" einer PLO haben, um die praktische Gegnerschaft irgendeines Staates gegen Großbritannien zu evozieren: Solange aber sich letzteres weder auf die Seite der Sowjetunion schlägt noch die Ölversorgung der westlichen Welt gefährdet, solange kann der "Kinderkrieg in Belfast" unter anteilnehmendem Seufzen aller guten Menschen in der Welt weitergehen.